# taz.de -- Manuele Fior über seine Comic-Motive: „Ein ziemlich nomadisches Leben“
       
       > Jede neue Graphic Novel biete eine Chance, etwas zu lernen, sagt Manuele
       > Fior. Ein Gespräch über die Motive des Erfindens von Geschichten.
       
 (IMG) Bild: Ausschnitt aus der Graphic Novel „Celestia“ von Manuele Fior
       
       Der 1975 in Norditalien geborene preisgekrönte Comiczeichner Manuele Fior
       (unter anderem bekam er den Hauptpreis für das „Beste Album“ beim
       Internationalen Comicfestival in Angoulême 2011) war kürzlich im
       italienischen Kulturinstitut in Berlin zu Besuch und hat seine neueste
       [1][Graphic Novel „Hypericum“] vorgestellt. 
       
       taz: Lieber Manuele Fior, Sie sind ein international bekannter
       Graphic-Novel-Künstler. Ihre Comiczeichner-Karriere hat in Berlin begonnen,
       richtig? 
       
       Manuele Fior: Zu Beginn der 2000er Jahre habe ich ein paar Jahre in Berlin
       als Architekt gearbeitet und zufällig Hannes [Johann Ulrich] vom noch
       jungen Avant Verlag kennengelernt. Da er sah, dass ich auch Illustrationen
       machte, lud er mich spontan ein, in der Anthologie Plaque zu
       veröffentlichen, für die ich eine Kurzgeschichte zeichnete. Das ermutigte
       mich, meine erste Graphic Novel, „Menschen am Sonntag“, zu beginnen, die
       2003 zeitgleich auf Deutsch und Französisch erschien.
       
       „Menschen am Sonntag“ spielt in Berlin-Friedrichshain und trägt den Titel
       eines berühmten deutschen Films von 1930. Wie blicken Sie heute darauf? 
       
       Es war mein erster Schritt in die Welt der Graphic Novel und zeigt noch all
       die Schwächen eines Debüts. Aber es war für mich wichtig, um das Eis zu
       brechen. Damals war ich Architekt und es fungierte für mich als Statement,
       vor allem an mich selbst: Nun bin ich dort, was ich am meisten liebe, beim
       Geschichtenzeichnen.
       
       Ihre Werke sind thematisch und stilistisch sehr vielfältig. In „d’
       Orsay-Variationen“ tauchen Sie zum Beispiel tief in die Welt einiger
       klassischer Gemälde ein … 
       
       Ich wollte schon immer Spaß bei der Zeichenarbeit haben und war nie daran
       interessiert, einen erkennbaren „Stil“ zu haben. Jedes Buch bietet die
       Chance, etwas von jemandem zu lernen, das ist meine Denkweise. Jede Technik
       benötigt auch viel Zeit und Energie, um richtig ausprobiert zu werden.
       Nichtsdestotrotz habe ich den Eindruck, meine Handschrift allmählich
       ausgeformt zu haben.
       
       Ihre Zeichnungen sind sehr fein ausgearbeitet und sehen „handmade“ aus.
       Zeichnen Sie komplett analog? 
       
       Gewöhnlich arbeite ich ganz traditionell mit Gouache, Tusche, Wasserfarbe
       oder Acrylfarben.
       
       In „Fünftausend Kilometer in der Sekunde“ beschreiben Sie eine
       Liebes-Dreiecksgeschichte, und auch in der neuesten Graphic Novel
       „Hypericum“ steht die Liebe junger Menschen im Zentrum – was fasziniert so
       an Liebesgeschichten? 
       
       Das kommt eher spontan aus mir raus und so zeichne ich auch gerne. Liebe
       ist ein komplexes Thema und wurde in den Comics, die ich gelesen habe,
       meist sehr oberflächlich behandelt. Es klingt vielleicht anmaßend, aber ich
       glaube, ich bin ganz gut im Erzählen von Liebesgeschichten. Ich mag
       Autoren, die die Liebe wahrhaftig darstellen, wie etwa die Filmregisseure
       François Truffaut, Krzysztof Kieślowski oder der Schriftsteller Alberto
       Moravia. Ich habe versucht, von ihnen zu lernen, auch wenn sie in anderen
       Medien arbeiten.
       
       Ein wiederkehrendes Genre in Ihren Graphic Novels ist die Science Fiction.
       In „Die Übertragung“ gelingt Ihnen eine sehr unkonventionelle SF-Geschichte
       über Telepathie. [2][„Celestia“] handelt von verschwundenen oder nicht
       realisierten Architekturen in Venedig und spielt in einer dystopischen
       nahen Zukunft. Wie sind Sie auf diese Ideen gekommen? 
       
       Ich war schon immer ein Fan von Science Fiction und lese diese Literatur,
       seit ich ein Kind war. In meinen Geschichten führe ich meist recht sanft in
       das spekulative Thema ein. Meist passiert eine leichte Verschiebung der
       Realität, sodass man auf die Wirklichkeit in veränderter Weise schaut. J.
       G. Ballard ist ein Meister darin. Architektur ist oft ein wesentliches
       Element in der SF, weil sie in sich selbst das Gewicht der Zeit trägt – wie
       Ruinen zum Beispiel, und manchmal kann Architektur die Ideen oder Formen
       der Zukunft verkörpern. Durch Architektur kann man den Fluss der Zeit wie
       durch eine Brille beobachten.
       
       Auffällig viele Comiczeichner aus Italien haben Architektur studiert, zum
       Beispiel Lorenzo Mattotti, Milo Manara, Guido Crepax. Wie kommt das? 
       
       In dieser Zeit (1960er bis 1980er Jahre) gab es einfach noch keine
       Comic-Schulen in Italien, und die Kunstakademien ignorierten so manche
       Talente, die heute weltberühmt sind. Mancher Außenseiter wie Lorenzo
       Mattotti nahm das als Ansporn, um sich künstlerisch zu entwickeln, und
       kreierte eine weitergehende Vision davon, was mit dem Medium möglich war.
       Das Architekturstudium hat das definitiv mit beeinflusst.
       
       In Ihrem neuesten Buch „Hypericum“ spielen die Bauten Berlins, unter
       anderem die Neue Nationalgalerie, eine große Rolle. Wirken manche
       Architekturen inspirierend, um eine Geschichte zu beginnen? 
       
       Die Architektur selbst enthält schon eine Geschichte, nicht nur die Gebäude
       einiger „Archi-Stars“. Wie auch die Räume, in denen wir als Kinder gespielt
       haben, ein bestimmter Keller, eine Brücke, ein abgewracktes Hotel … Ist die
       Architektur einmal in meinem Gehirn gespeichert, dann scheint sich die
       Story wie von selbst zu entwickeln, die Charaktere lernen, sich darin zu
       bewegen, und diese ganze Welt erwacht für mich zum Leben.
       
       In „Hypericum“ haben Sie eine zweite Handlungsebene aufgezogen, in der es
       um Howard Carter und seine Entdeckung des Grabes von Tutanchamun geht –
       warum haben Sie diese Story gewählt und nicht zum Beispiel die Entdeckung
       der Nofretete, die eine engere „Beziehung“ zu Berlin hat? 
       
       Die Lektüre des Tagebuchs von Howard Carter war für mich der Ausgangspunkt
       für die Idee zur Graphic Novel. Es enthielt so viel literarischen Gehalt,
       dass es auch unabhängig als Story funktionieren würde. Nofretete ist
       hingegen „nur“ ein wunderschönes Kunstwerk, aber weder das Objekt noch
       seine Entdeckung haben eine derart faszinierende Aura, eine universale
       Ausstrahlung wie die Entdeckung des Grabes von Tutanchamun.
       
       Kann man das Comiczeichnen heute in Italien studieren? Wie haben Sie es
       gelernt? 
       
       Heute gibt es eine Menge an Comic-Studiengängen in Italien. In jüngster
       Zeit machen Comics einen großen Anteil des Buchmarkts aus. Aber als ich ein
       Teenager war, sah das noch ganz anders aus, und ich hatte nie die Chance,
       das Metier zu studieren. Ich hab’s mir selbst beigebracht. Und kann heute
       glücklicherweise von den Buchveröffentlichungen leben.
       
       Italien ist Gastland der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt. Wie
       beurteilen Sie die aktuelle Comicszene in Italien? 
       
       Die Situation hat sich in den letzten 20 Jahren deutlich weiterentwickelt.
       Man kann heute viele Rezensionen von Comics in den Zeitungen lesen, und
       jedes Jahr entdeckt man interessante neue, junge Autorinnen und Autoren,
       Zeichnerinnen und Zeichner. Doch es ist weiterhin schwer, davon leben zu
       können.
       
       Werden deutsche Zeichnerinnen/Zeichner wahrgenommen? 
       
       Deutsche Comics sind nicht sehr bekannt in Italien. Ich selbst kenne sicher
       einige Künstler, der Durchschnittsleser weniger.
       
       Sie lebten zeitweise in Berlin, Paris, Oslo, augenblicklich mit Ihrer
       Familie in Venedig – wo fühlen Sie sich zu Hause? 
       
       Gerade schon sehr in Venedig. Es fühlt sich aber an, als wäre es nicht
       derselbe Typ, der in all diesen Städten gelebt hat, sondern fünf oder sechs
       verschiedene Personen. Ich bin das Produkt eines ziemlich nomadischen
       Lebens. Ich tendiere dazu, mich einer bestimmten Zugehörigkeit, sei es zu
       einer Stadt oder einer einzelnen Nationalkultur, zu verweigern.
       
       Ist bereits eine neue Graphic Novel in Arbeit? 
       
       Ja, ich kann aber nur sagen, dass es die Adaption eines neueren,
       fantastischen Science-Fiction-Romans wird.
       
       14 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Neue-Graphic-Novel-von-Manuele-Fior/!5952150
 (DIR) [2] /Neue-Graphic-Novel-von-Manuele-Fior/!5822244
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralph Trommer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Graphic Novel
 (DIR) Comic
 (DIR) Avant-Verlag
 (DIR) Interview
 (DIR) Architektur
 (DIR) Science-Fiction
 (DIR) Comic
 (DIR) Literatur
 (DIR) Graphic Novel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Graphic Novel zu Protesten in Iran: Aspekte einer Revolution
       
       „Frau, Leben, Freiheit“ handelt von der Protestbewegung in Iran.
       Herausgegeben von Marjane Satrapi, erzählt der Comic von Mut und
       Unterdrückung.
       
 (DIR) Besuch beim Comic-Verleger Johann Ulrich: Selber machen, was er lesen wollte
       
       Johann Ulrichs Avant-Verlag widmet sich deutschen und internationalen
       Graphic Novels, Klassikern und Newcomern. Nicht ohne Risiko, aber mit
       Erfolg.
       
 (DIR) Neue Graphic Novel von Manuele Fior: Aufbruch in eine andere Zukunft
       
       Seine Graphic Novel „Celestia“ gestaltet Manuele Fior als eine
       architektonische Entdeckungsreise. Pierrot und Dora suchen eine ideale
       Welt.