# taz.de -- Mobilisierung in der Ukraine: Wer muss in den Krieg?
       
       > Zwei Jahre nach Russlands Invasion brauchen erschöpfte ukrainische
       > Soldat:innen eine Pause. Unterwegs in einem Land, das sich gegenseitig
       > mustert.
       
 (IMG) Bild: Demonstration in Kyjiw: Frauen fordern, dass Soldaten, die seit zwei Jahren an der Front kämpfen, die Armee verlassen dürfen
       
       KYJIW, LWIW UND SLOWJANSK taz | Bevor Yurii Nod weiterschießen darf, macht
       sich sein Trainer erst einmal über ihn lustig. „Du bist alt und langsam“,
       sagt der, als sich Nod hinkniet und sein Gewehr anlegt, um zu zielen, den
       Kolben an der rechten Wange. „Du brauchst mehr Stretching.“ Yurii Nod
       grinst und zielt nochmal, dieses Mal den Kolben links neben seinem Gesicht.
       Er steht auf und rennt: einmal vom wellblechüberdachten Unterstand bis zur
       Tonne in der Mitte des schneeverkrusteten Übungsplatzes und wieder zurück.
       Dann schießt er. Kurz und scharf wie der Knall einer Peitsche hallt der
       Schuss über das Feld. Die ausgeworfene Patronenhülse klimpert gegen das
       Dach des Schützenstands und hoppelt ein paarmal über Beton.
       
       46 Jahre ist Yurii Nod alt. Er müsste überhaupt nicht hier sein, in der
       feuchten Kälte der ersten Februartage, die jedes unbedeckte Fleckchen Haut
       findet, die Finger und Zehen nach Minuten durchfrostet; hier auf diesem
       privaten Trainingsgelände in der Nähe von Lwiw, einer Großstadt im Westen
       der Ukraine. Yurii Nod hat vier Kinder, davon drei jünger als 18 Jahre, er
       müsste deshalb nicht in die Armee, für die es im Osten an der Front seit
       einiger Zeit nicht gut läuft.
       
       Kyjiws Gegenoffensive im Sommer und Herbst 2023 brachte hohe Verluste, aber
       keine signifikanten Geländegewinne. Die westlichen Verbündeten liefern
       nicht genug Munition. Die Kriegsführung hat sich wieder einmal verändert,
       beide Armeen setzen Kamikazedrohnen ein, aber Russland hat mehr davon,
       Artillerie sowieso.
       
       Am 8. Februar wechselte Präsident Wolodymyr Selenskyj den in der
       Bevölkerung beliebten [1][Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj] durch einen
       unpopulären General aus. Nur wenige Tage später zog sich die ukrainische
       Armee aus der seit knapp zehn Jahren gehaltenen Frontstadt Awdijiwka zurück
       – eine herbe Niederlage. Und trotzdem sagt Yurii Nod, er wolle an die
       Front. „Ich kann mir auch vorstellen, in einer Spezialeinheit zu arbeiten“,
       sagt er nach dem Schießtraining beim Essen in seiner Lwiwer
       Lieblingspizzeria, „in einer Einheit, die auf von Russland besetztem Gebiet
       kämpft.“
       
       Nod spricht in dieser Pizzeria auch darüber, was die meisten Menschen in
       der Ukraine zwei Jahre nach Russlands Angriff beschäftigt. Er glaubt nicht,
       dass der Kampf mit dem großen Nachbar bald endet. Er sagt: „In zwei Jahren
       werden wir immer noch Krieg haben. Mal sehen, wie der aussieht, vielleicht
       wird es ein Stellungskrieg wie vor 2022.“ Von einem Sieg ist er trotzdem
       überzeugt. Er sagt: „Es sind harte Zeiten, aber keine dunklen Zeiten.“
       
       Mit dem Bewusstsein, dass der Krieg wahrscheinlich noch lange dauert, geht
       auch die Erkenntnis einher, dass dieser Krieg nicht allein mit den
       Soldat:innen zu gewinnen ist, die sich nach der Invasion im Februar 2022
       freiwillig gemeldet haben. Die Ukrainer:innen reden darüber in den
       Straßen, in Tram und Metro, in Kneipen, auf Facebook und Telegram. Im
       Dezember 2023 hat Präsident Selenskyj gesagt, das Militär brauche 500.000
       neue Soldat:innen. Das betrifft vor allem die Männer. Frauen können
       freiwillig zur Armee gehen. Die Regierung in Kyjiw hält die Zahlen der
       toten ukrainischen Kämpfer:innen geheim, die New York Times schrieb im
       vergangenen Sommer unter Berufung auf US-Regierungsbeamt:innen von etwa
       70.000 Toten und bis zu 120.000 Verwundeten.
       
       Im Dezember hat die ukrainische Regierung den [2][Entwurf für ein Gesetz]
       ins Parlament eingebracht, das neu festlegen soll, wer unter welchen
       Umständen zur Armee gehen muss und wer das Militär wann wieder verlassen
       darf. Die erste Version wurde von den Abgeordneten unter anderem wegen
       potenzieller Menschenrechtsverletzungen gleich wieder kassiert. Der Entwurf
       enthielt empfindliche Strafen gegen Männer, die sich dem Militärdienst
       entziehen, darunter den Ausschluss von staatlichen Leistungen und
       Beschränkungen, über das eigene Vermögen zu verfügen. Ein geänderter
       Entwurf passierte trotz einiger fortbestehender Bedenken Anfang Februar in
       erster Lesung das Parlament.
       
       Die Mobilisierung neuer Soldat:innen ist ein Verliererthema. Ukrainische
       Politiker:innen wissen, dass sie sich damit nicht beliebt machen
       können. Ein Teil ihrer potenziellen Wähler:innen hat Angst, sie selbst,
       ihre Männer, ihre Verwandten müssten bald an die Front gehen. Andere
       kämpfen seit zwei Jahren oder länger und wollen nach Hause. Die Zahl
       500.000 wollte Präsident Selenskyj selbst gar nicht gesagt haben und schob
       die Verantwortung dafür dem Militär zu. Der damalige Oberbefehlshaber
       Saluschnyj wies das von sich, es folgte ein öffentlicher Schlagabtausch aus
       dem Umfeld der beiden; vielleicht einer der Gründe für Saluschnyjs spätere
       Demission.
       
       ## Drohnen und Raketen
       
       An einem frühen Nachmittag im Februar umläuft Serhii Hnesdilov, 23 Jahre
       alt und Kommandeur einer Drohneneinheit, Pfützen auf einer schlammigen
       Nebenstraße am Rande von Slowjansk. Es ist dieselbe Woche, in der Yurii
       Nod trainiert, aber hier über Slowjansk weit im Osten strahlt der Himmel
       blau. Knapp 1.200 Kilometer, fast ein ganzes Land, liegen zwischen den
       beiden Männern.
       
       Yurii Nod schießt auf Zielscheiben aus Pappe, Serhii Hnesdilov sagt, er
       wäre am Tag davor beinahe getötet worden. Grad-Raketen seien in seiner Nähe
       eingeschlagen. „Ich konnte gerade noch so in einen Graben springen“, sagt
       Hnesdilov. Dabei zieht er die Mundwinkel leicht nach oben, das macht er
       ziemlich oft, in Deutschland würde man ihn in manchen Gegenden eine
       Grinsebacke nennen.
       
       Serhii Hnesdilov hat verboten, ihn an der Front zu besuchen, das sei zu
       gefährlich. „Wir kommen nicht bei Tageslicht an die Front, wir können uns
       nur in der Dämmerung bewegen. Drohnen beobachten alles, und wenn sich
       tagsüber etwas rührt, kommt eine Drohne und zerstört das.“
       
       Slowjansk liegt je nach Messung 30 bis 40 Kilometer hinter der Front.
       Hierher kommen ukrainische Soldat:innen, um einzukaufen, sich mit
       Freund:innen und Geliebten zu treffen. Hnesdilov will sich die Haare
       schneiden lassen. Ein Mann öffnet ein braunes Tor in einem ebenso braunen
       Zaun, er lotst Hnesdilov vorbei an Gartengeräten in sein Einfamilienhaus,
       im Flur hängt ein rot und braun bemaltes Papierskelett, Puzzles mit
       Weihnachtslandschaften kleben an nackten Wänden. Serhii Hnesdilov setzt
       sich auf einen Friseurstuhl in einem Raum, der mal ein Wohnzimmer war. Das
       sagt jedenfalls der Mann, der jetzt Schere und Rasierer in der Hand hat.
       Hnesdilov sagt, es gebe zu wenige Friseure in der Stadt, und der Besitzer
       dieses Hauses habe deswegen ein Geschäft aufgemacht.
       
       Während ihm die Haare geschnitten werden und bei einem Restaurantbesuch
       erzählt Hnesdilov von seinem Zorn. „Ich bin wütend, weil die Regierung noch
       immer keine transparenten Gesetzen erlassen hat, Gesetze, die für alle
       gelten.“ So, wie er es sieht, ruhen sich zu viele Menschen in der Ukraine
       darauf aus, dass Männer wie er das Land verteidigen und dabei sterben. Er
       sagt, viele Ukrainer:innen würden so tun, als kämpften nur
       professionelle Soldat:innen, Menschen, deren Beruf das Töten und Sterben
       sei.
       
       „Aber die meisten von uns sind Zivilpersonen, die sich nur deshalb
       freiwillig gemeldet haben, weil Russland uns keinen anderen Ausweg lässt,
       als zu kämpfen.“ Hnesdilov hat sich 2019 vertraglich zum Militärdienst
       verpflichtet, vorher hat er Journalismus studiert und ein Kunstfestival in
       der Gegend von Odessa organisiert. Da kommt er ursprünglich her. Er sagt:
       „Ich möchte ausgewechselt werden, ich gehöre hier so wenig hin wie alle
       anderen, ich bin müde.“
       
       ## Frage der Fairness
       
       Die [3][Frage der Fairness], die nach einer irgendwie gerechten Verteilung
       der Schrecken des Krieges in der Ukraine, stellen nicht nur Soldat:innen
       wie Serhii Hnesdilov. Eine kleine, aber gut organisierte Bewegung von
       Frauen demonstriert dafür, dass ihre Männer, Brüder, Söhne möglichst bald
       die Armee verlassen dürfen. Am 28. Januar und am 11. Februar versammeln
       sich jeweils mehr als 100 Frauen auf dem zentralen Platz in Kyjiw, dem
       Maidan, sie rufen: „Helden sind keine Sklaven!“, und: „Das ganze Land ist
       für den Sieg verantwortlich!“ Es ist ihre sechste und siebte Demonstration,
       sie protestieren seit dem Herbst.
       
       Organisiert hat diese Versammlung zusammen mit ein paar anderen Frauen
       Anastasiia Bulba, 37, im Gebiet des heutigen Russlands geboren, auf der
       ukrainischen Krim aufgewachsen. Sie wohnt in einem Dorf nahe der
       Hauptstadt, 25 Minuten braucht sie mit der Marschrutka, einem Sammeltaxi,
       dorthin. Sie hat mal Forst- und Parkwirtschaft studiert, dann mit ihrem
       Mann eine Manufaktur für Matratzen aufgemacht. Er ist Soldat in einer
       Logistikeinheit, und Anastasiia Bulba wartet jeden Morgen bis 11 Uhr auf
       die Bestätigung im Signal-Messenger, dass er ihre Nachrichten gelesen hat.
       Wenn nicht, ruft sie die Frauen seiner Kameraden an, so haben sie es
       vereinbart.
       
       Bulba sagt, und das sagen andere Frauen auf dem Maidan auch, sie
       demonstriere nicht gegen den Krieg. Sie halten die Verteidigung gegen
       Russland für alternativlos. Das Nachbarland habe angegriffen und könne den
       Krieg nur selbst beenden. „Aber die ukrainische Regierung und die
       Gesellschaft haben aus unseren Männern Helden gemacht, die angeblich
       unzerstörbar sind“, sagt Anastasiia Bulba. Diese Verheldung sei eine Form
       der Entmenschlichung. „Unsere Männer werden krank, sie werden verletzt, sie
       sterben.“
       
       Viele dieser Männer haben sich gleich nach der Invasion zum Militär
       gemeldet und hatten seitdem kaum einmal Zeit, sich zu erholen. Sie müssten
       endlich durch andere ersetzt werden, fordert Bulba. „Jeder wird in der
       Armee dienen“, rufen die Frauen, als sie vom Maidan aus den Chreschtschatyk
       hinunterlaufen, die große mehrspurige Straße im Kyjiwer Stadtzentrum.
       Manche, denen sie dabei begegnen, schauen freundlich, andere erschrocken,
       insbesondere Männer.
       
       Fragt man Frauen aus dem Demonstrationszug, wie sie die Männer sehen, die
       in Kyjiw und anderen Städten einkaufen oder ins Fitnessstudio gehen, dann
       schimpfen einige, es fallen Beleidigungen wie „Ziegenböcke“ und
       „Feiglinge“. „Negativ“, ist Anastasiia Bulbas knappe Antwort auf die Frage,
       wie sie gesunde Männer sieht, die nicht zum Militär gehen. Aus Bulbas Sicht
       nehmen sie ihre Verantwortung nicht wahr und lassen andere für ihre
       Sicherheit und ihren Komfort sterben.
       
       Auch Serhii Hnesdilov, der Drohnenkommandant, sagt in Slowjansk, er
       verstehe zwar die Furcht der Männer, an die Front zu gehen. „Aber ich kann
       diejenigen, die dieser Furcht nachgeben und sich verstecken, nicht
       respektieren.“ Hnesdilov sagt auch, dass er allen Männern nach dem Krieg
       immer mit der Frage begegnen werde, wo sie während der Kämpfe waren. Viele
       Soldat:innen sehen das wie er und schreiben das ins Internet. Man kann
       allerdings auch genügend Zivilist:innen treffen, die so reden.
       
       Wie viele Männer sich in der Ukraine vor dem Militärdienst verstecken,
       lässt sich nicht seriös nachprüfen. Die Ämter, die für die Musterung und
       Einberufung verantwortlich sind, gelten als rabiat und korrupt. Ihre
       Rekrutierer sind an Checkpoints unterwegs, vor Einkaufszentren und in
       U-Bahnhöfen. Wer Geld hat, kann versuchen, sich freizukaufen, andere
       bekommen ihren Einberufungsbescheid ausgehändigt und haben dann manchmal
       nur Stunden oder Tage Zeit, bis sie sich bei ihrer Einheit melden sollen.
       
       Im Internet kursieren Videos von Männern, die andere Männer in Vans zerren
       oder gewaltsam fortschleppen. Das sollen Rekrutierer sein, die besonders
       brachial vorgehen. Die Behörden versprechen, in diesen Fällen zu ermitteln.
       Sehr groß ist das Vertrauen in diese Zusagen nicht. In einem Dorf in der
       Westukraine hat eine aufgebrachte Menge eine Frau und ihr Kind brutal
       angegriffen. Die Angreifer:innen, darunter viele Frauen, hielten die
       Attackierte für eine Beschäftigte der Einberufungsbehörden.
       
       ## Rekrutierung auf den Straßen
       
       In Telegram-Kanälen wie „Wetter in Kyjiw“ warnen sich Menschen vor den
       Rekrutierern, der Kanal hat knapp 65.000 Abonnenten. „Es regnet am Eingang
       zu den Rusaniw-Gärten“, schreibt jemand am Nachmittag des 17. Februar.
       Männer sollen sich dort also besser nicht blicken lassen. Wenn keine
       Rekrutierer zu sehen sind, liest sich das so: „Chotiw, Tschabany, Novosilky
       klar und ohne Niederschlag.“ Auch wegen des schlechten Rufs der Behörden
       rekrutieren bekannte Militäreinheiten mit eigenen Veranstaltungen
       inzwischen landesweit selbst.
       
       Mehr als 650.000 ukrainische Männer im Alter von 18 bis 64 Jahren sind laut
       der Statistikbehörde der EU in West- und Mitteleuropa als Flüchtlinge
       registriert. Einer von denen, die die Ukraine inzwischen verlassen haben,
       ist Roman. Das ist nicht sein richtiger Name, aber den möchte er auch nicht
       in der Öffentlichkeit sehen. Er sagt, er fürchte die öffentliche Stimmung
       in der Ukraine, es gebe Hetze gegen Leute wie ihn.
       
       Wir sprechen wenige Tage vor seinem Grenzübertritt per Videoanruf
       miteinander. Ich kenne seinen richtigen Namen, seine Accounts in
       verschiedenen sozialen Medien. Roman ist 25 Jahre alt, seine Stimme klingt
       jungenhaft, aber fest; er sagt gerne, dass er dieses oder jenes genau
       analysiert habe, bevor er entscheide. Seine Familie besitzt Geld, Roman hat
       für das ukrainische Fernsehen gearbeitet, er hätte auch die Chance gehabt,
       in Istanbul zum Piloten ausgebildet zu werden.
       
       ## Geld für eine Attestierung von Dienstuntauglichkeit
       
       Eigentlich dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine seit Februar
       2022 nicht verlassen, aber es gibt ein paar legale und jede Menge illegale
       Wege. Roman sagt, er habe 7.000 Dollar für ein medizinisches Dokument
       bezahlt, das ihm eine Krankheit attestieren wird, mit der er
       dienstuntauglich ist. Welche das sei, wisse er noch nicht. Außerdem müsse
       er zu einer genau festgelegten Zeit an einem genau festgelegten
       Grenzübergang sein. Er habe ein Arrangement mit Leuten von der
       Grenzkontrolle. Die Polizist:innen einer bestimmten Schicht würden ihm
       keine Schwierigkeiten machen.
       
       Roman sagt, er habe gar nicht so viel Angst davor, an die Front zu müssen,
       „davor wäre ich wahrscheinlich durch mein gekauftes Dokument geschützt. Ich
       fürchte vielmehr den sozialen Krieg, nachdem der Krieg mit Russland zu Ende
       ist.“ Er glaubt, dass die Männer, die als Soldaten gekämpft haben, sich als
       eine neue Elite verstehen und nach politischer Macht greifen würden, wenn
       das Kämpfen vorbei sei. In so einer Zukunft sehe er für sich keinen Platz.
       
       Zurückkehren möchte er irgendwann trotzdem, weil „ich mir nur Kyjiw als
       meine Heimatstadt vorstellen kann“. Roman denkt, mit Russland lasse sich
       ein Deal aushandeln, ein Miteinander, in dem Angehörige der ukrainischen
       Elite wie er von Vergeltung und Gewalt verschont würden. Roman sagt: „Wir
       haben vor dem Maidan Geschäfte mit Russland gemacht, warum sollte das in
       Zukunft nicht wieder möglich sein?“
       
       Auf die Frage, ob er die Drohung der Moskauer Regierung, die Ukraine müsse
       entukrainisiert werden, und ob er die Massaker an Zivilist:innen in
       Butscha und anderen Städten nicht ernst nehme, antwortet Roman: Doch, das
       tue er. Seine Familie besitze ein Haus bei Butscha und habe selbst den
       Beschuss der russischen Artillerie gehört. Er sei ein Patriot. Aber man
       müsse eben auch die spezielle Situation der Soldaten aus Russland sehen,
       die geglaubt hätten, in der Ukraine freudig empfangen zu werden. „Natürlich
       wurden die wütend, als sie angegriffen wurden.“
       
       Wenige Tage nach unserem Gespräch überquert Roman die Grenze tatsächlich.
       Wir schreiben uns, nachdem er in Polen angekommen ist. Seine Freundin und
       er fahren einen langen Umweg durch Rumänien, sie posten im Internet Bilder
       und Videos davon.
       
       Es ist nicht allein das Geld, das Roman so anders auf die Ukraine blicken
       lässt. Auch Yurii Nod, der Mann, der in Lwiw trainiert, hat viel Geld. In
       seiner Werkstatt tunen, reparieren und putzen seine 17 Angestellten bei
       einem Besuch nach dem Schießtraining einige teure Autos. Allein Nods
       Ausrüstung, das Gewehr, die Schutzweste, das medizinische Equipment, hat
       11.000 bis 14.000 Euro gekostet. Für zwei Trainingsstunden bezahlt er dem
       kriegsverletzten Veteranen, der ihn unterrichtet, umgerechnet 72 Euro, für
       jede verschossene Patrone 72 Cent.
       
       Die Revolution auf dem Maidan, Russlands beständige Aggression und die
       vielen Toten fordern Ukrainer:innen andauernde existenzielle
       Auseinandersetzungen damit ab, welcher Gemeinschaft sie sich zugehörig
       fühlen, was sie verteidigen wollen und wie viel sie bereit sind, dafür zu
       opfern. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus, Geld ist nur ein
       Faktor, selbst erlebte politische Kämpfe und familiäre Erfahrungen sind
       andere.
       
       Laut einer Anfang der vorletzten Februarwoche veröffentlichten Umfrage hat
       sich die Zahl der Ukrainer:innen, die nicht an einen Sieg ihrer Armee
       glauben, im Vergleich zum Sommer 2023 zwar von 3 auf 15 Prozent erhöht.
       Aber 85 Prozent sind immer noch überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg
       gewinnt. Alle ernst zu nehmenden Umfragen von Herbst 2023 bis Februar
       dieses Jahres zeigen hohe Vertrauenswerte für die Armee und den
       Präsidenten. Nicht einmal Roman, der bald weiter nach England oder in die
       USA ziehen möchte, glaubt daran, Russland könnte die gesamte Ukraine
       besetzen. Und auch bei „Wetter in Kyjiw“, dem Telegram-Kanal, der vor
       Rekrutierern warnt, sammeln sie regelmäßig Geld für diejenigen, die
       kämpfen.
       
       ## Sie sagen, irgendwann werden sie kämpfen müssen
       
       In längeren Gesprächen mit knapp 20 anderen als den hier im Text zitierten
       Menschen – darunter ein gelernter Kfz-Mechaniker, der in den Wäldern um
       Kyjiw schießen übt, und eine Militärsanitäterin, die vor dem Interview
       warnt, sie sei so traumatisiert, dass sie anfangen könnte zu weinen –
       entsteht der Eindruck, die meisten Ukrainer:innen wollten gegen Russland
       kämpfen, solange das Land weiterhin angreift. Viele Männer melden sich
       nicht freiwillig bei der Armee. Aber sie gehen auch nicht weg, verstecken
       sich nicht. Sie sagen, irgendwann würden auch sie kämpfen müssen und sie
       würden sich dem trotz ihrer Angst stellen.
       
       Vor der Infanterie fürchten sich viele. Kämpfer:innen, die zu Fuß unterwegs
       sind, die Schützengräben einnehmen und verteidigen, stellen in so gut wie
       jedem Militär das größte Kontingent. Sie braucht die ukrainische Armee am
       meisten. Sie sterben häufiger und schneller als andere Soldat:innen.
       Deshalb versuchen einige Männer sich zu spezialisieren. Sie lernen zum
       Beispiel das Drohnenfliegen, um dort eingesetzt zu werden, wo es vielleicht
       nicht ganz so gefährlich zugeht. Eine andere Angst ist, von einem unfähigen
       Offizier befehligt zu werden, der seinen Posten durch Vetternwirtschaft
       erhalten hat.
       
       Das große Vertrauen in die aktiven Kämpfer:innen der Armee koexistiert
       in der Ukraine mit dem krassen Misstrauen in oft als „sowjetisch“
       bezeichnete Strukturen in eben dieser Armee. Yurii Nod, der Mann, der in
       Lwiw trainiert, überlegt deswegen, gleich selbst Offizier zu werden, wofür
       er noch jahrelang lernen müsste. Er sagt: „Ich habe Managementfähigkeiten,
       ich lasse mich nicht von einem Trottel verheizen, dafür bin ich mir zu viel
       wert.“
       
       Am Ende seines Trainings auf dem februarkalten Platz in Lwiw gibt Nod
       seinem Trainer noch ein zweites Mal die Gelegenheit, sich über ihn lustig
       zu machen. Yurii Nod legt sich mit seinem Gewehr auf den Boden, um im
       Liegen zu schießen. „Ich sehe nichts“, sagt er. „Mein Zielfernrohr ist
       beschlagen.“ – „Keine Angst, Yurii“, sagt der Trainer und lacht. „Der Feind
       wartet natürlich auf dich.“
       
       25 Feb 2024
       
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 (DIR) Zwei Jahre Krieg gegen die Ukraine: Russische Drohne verfolgt Baerbock
       
       Außenministerin Annalena Baerbock hat ihren Besuch in der Südukraine
       abgebrochen. Es wurde eine russische Aufklärungsdrohne gesichtet.
       
 (DIR) Zwei Jahre russischer Angriffskrieg: Was, wenn Putin gewinnt?
       
       Wenn Russland seine Kriegsziele erreicht, wäre die Ukraine Geschichte und
       Freiheit nur noch ein Wort. Das zu verhindern ist im Interesse des Westens.
       
 (DIR) Soldaten in der Ukraine: Ein Krankenwagen für die Kameraden
       
       Für jeden getöteten Soldaten zahlt die Ukraine den Hinterbliebenen eine
       Entschädigung. Viele Familien spenden das Geld – etwa für die Truppen.
       
 (DIR) Mobilisierung in der Ukraine: Wehrdienst soll flexibler werden
       
       Ein neues Gesetz soll den Einsatz in der ukrainischen Armee anders regeln.
       Dabei geht es auch um das Bekämpfen von Korruption.