# taz.de -- Zustand der russischen Zivilgesellschaft: Erschöpfung und Hoffnung
       
       > An der Berliner Volksbühne debattieren Menschenrechtsaktivisten zur
       > desolaten Lage Russlands. Das Unheil begann nicht erst unter Putin.
       
 (IMG) Bild: Gedenken an Anna Politkowskaja in Moskau 2016
       
       „Es fängt nicht erst mit Putin an“, sagt Alexander Cherkasov von der
       renommierten [1][russischen Menschenrechts-Organisation Memorial.] Zusammen
       mit David Schraven vom Recherche-Kollektiv Correctiv sitzt er am
       Mittwochabend in der Berliner Volksbühne. In wenigen Tagen jährt sich der
       Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine bereits zum dritten
       Mal.
       
       Anlass genug, um sich mit der Verfasstheit der russischen Zivilgesellschaft
       auseinanderzusetzen, finden Correctiv, Memorial und Radio Sacharow, das
       Exilmedium des Moskauer Sacharow-Zentrums. Sie laden gemeinsam ein zu einer
       Podiumsdiskussion „Aggressor Russland: Was macht die russische
       Zivilgesellschaft?“
       
       Schraven legt zunächst den Fokus auf die jüngere Vergangenheit und fragt
       Cherkasov nach den Unterschieden zwischen dem ersten Tschetschenienkrieg
       Mitte der 1990er Jahre und [2][dem zweiten Krieg. Denn nur der zweite Krieg
       liegt in Putins erster Amtszeit als Präsident.] Und in diesem Zusammenhang
       fällt auch der Schlüsselsatz – das Unheil fängt nicht erst mit Putin an.
       
       ## Der imperiale Gedanke
       
       Gleichzeitig poppt bei dem Versuch, die russische Gesellschaft einer
       aktuellen Bestandsaufnahme zu unterziehen, immer wieder auf, dass der
       imperiale Gedanke in der Bevölkerung tief verankert ist und längst eine
       Hauptrolle in ihrem kollektiven Verhalten als politisches Subjekt einnimmt.
       
       Dieser Wunsch nach imperialer Größe wurde bereits auch unter Boris Jelzins
       Herrschaft (1991 bis 1999) bedient, wie Cherkasov darlegt. Exemplarisch im
       ersten Tschetschenienkrieg (der 1994 begann), dem Krieg der Moskauer
       Zentralmacht gegen eine kleine autonome Republik am Südrand des
       Herrschaftsgebiets im Kaukasus. Cherkasov konstatiert, dass von 1994 bis
       1996 im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen im Nordkaukasus zweimal
       so viel Menschen ihr Leben verloren haben wie beim Wiederaufflammen des
       Konflikts drei Jahre später.
       
       Aber es war damals noch möglich, sich für Wandel einzusetzen. Diesen
       Handlungsspielraum gibt es beim zweiten Krieg nicht mehr! Dafür sind die
       russischen Kriegsverbrechen zwischen 1999 und 2009 gut dokumentiert. Das
       haben einige Menschen, die sich darum verdient gemacht haben, mit ihrem
       Leben bezahlt, zum Beispiel die Journalistin Anna Politkowskaja, die 2006
       in ihrem Wohnhaus in Moskau ermordet wurde. „Wir müssen die
       Kriegsverbrecher, die damals im Auftrag des russischen Staates gehandelt
       haben, aufspüren und vor Gericht bringen.“ In Cherkasovs Stimme liegt
       Erschöpfung. Seit 30 Jahren beschäftigt er sich mit diesem Thema.
       
       ## Vom Stadtgericht liquidiert
       
       In Russland ist der Menschenrechtler längst als sogenannter „ausländischer
       Agent“ von Putins Repressionsapparat gebrandmarkt. Memorial wurde 2021 vom
       Moskauer Stadtgericht liquidiert und 2022 mit dem Friedensnobelpreis
       ausgezeichnet. Cherkasov macht im Berliner Exil weiter. Sergej Lukaschewski
       vom ehemaligen [3][Menschenrechtsmuseum und Kulturzentrum Sacharow-Zentrum]
       hat ein Hoffungsprojekt, das er mithilfe von Correctiv verwirklichen will:
       Radio Sacharow. Momentan noch ein reines Internet-Radio, wird es bald von
       Berlin aus über Satellit bis in den Ural senden.
       
       Radio Sacharow möchte so in die russische Gesellschaft hineinwirken und der
       allgegenwärtigen Propaganda eine Plattform gegenüberstellen, die viele
       verschiedene Stimmen zu Wort kommen lässt und so Debatten auslöst. Ein
       Fokus wird sein, das Narrativ von der Notwendigkeit imperialer Größe
       aufzubrechen und damit einhergehend den Regionen, in denen ethnische
       Minderheiten leben, mehr Sichtbarkeit zu verschaffen.
       
       In 79 Regionen Russlands sind bis jetzt über 20.000 Menschen inhaftiert
       worden, weil sie sich gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine
       positioniert haben. Dieser Teil der russischen Zivilgesellschaft ist
       aufgrund der staatlichen Repressionen unsichtbar. Radio Sacharow schafft
       hier mehr Öffentlichkeit. „Die Diskussion, wie wir Demokratie gestalten
       wollen, ist in den 1990ern nicht geführt worden“, sagt Nikolai Plotnikow
       von der Ruhr-Universität in Bochum, „das müssen wir jetzt nachholen.“
       
       15 Feb 2024
       
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 (DIR) Katja Kollmann
       
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