# taz.de -- Zum Tod von René Pollesch: „Ich kann allein nicht denken“
       
       > Stirbt jemand, hinterlässt er eine Leerstelle: Ein paar Gedanken zum
       > verstorbenen Volksbühnen-Indendanten René Pollesch von einem
       > Wegbegleiter.
       
 (IMG) Bild: René Pollesch 2002 bei Proben zu „24 Stunden sind kein Tag“ im Prater der Volksbühne
       
       Am Montag ist René Pollesch plötzlich und unerwartet gestorben. Diese
       Plötzlichkeit bringt es mit sich, dass einem Leben der Epilog fehlt. Kein
       Altern, keine Krankheit, plötzlich ist ein Mensch einfach weg. Wie eine
       Serie oder ein Podcast, die alle lieben, aber die plötzlich abgesetzt wird.
       Gerade war da noch was. Und dann war es weg. Alle, die René kannten – und
       noch vor einer Woche auf seiner letzten Premiere waren –, stehen unter
       Schock.
       
       Ich kannte René seit Anfang der nuller Jahre. Ich weiß noch, wie „Menschen
       in Scheißhotels“, damals Teil der sogenannten Prater-Trilogie, im
       Prenzlauer Berg einschlug. Schon der Titel elektrisierte uns, die wir
       damals Anfang 20 waren. Ich war ein junger Student und schrieb aus Berlin
       Theater- und Filmkritiken für die NZZ. René war ein noch junger Regisseur –
       und über Nacht ein Star. Bei unserem ersten Treffen aßen wir ein Schnitzel
       im Biergarten des Prater.
       
       Es klingt wie eine Tautologie, René als Menschen zu bezeichnen, der seine
       Gedanken – wie Kleist einst schrieb – beim Reden verfasste. Er ist ja, in
       den 20 Jahren, die nach diesem ersten Treffen kamen, zum Inbegriff des
       Instant-Denkens auf schwindelnden Höhen, quasi auf Weltgeistniveau
       geworden. René sprach durch seine Spieler*innen hindurch, gemeinsam mit
       ihnen. Mit den Engeln, mit Judith Butler, aber vor allem, so kam es mir
       vor: mit mir. Wenn jemand etwas vergaß, dann schrie eben die Souffleuse
       dazwischen. In seinen frühen, den Prater-Abenden, hatte sie den meisten
       Text.
       
       Menschlich, wie man so sagt, war René unfassbar professionell: Er erkannte
       mich, den Studenten, immer sofort, auch im verrücktesten Gewühl. Dann
       wurden wir „Kollegen“, dann Freunde und auf einmal waren wir beide
       „Intendanten“ und sprachen über Koproduktionen. Das alles kam mir vor wie
       ein Jugendscherz, wie gespielt. [1][Im Theater kann man Richard III]. sein
       oder ein russischer Anarchist, warum nicht auch „Intendant“?
       
       ## Renés einzige Furcht war die Einsamkeit
       
       Renés Tod beendet deshalb, absurd spät, meine Jugend. Als müssten wir jetzt
       wirklich sein, was wir geworden sind. Denn solange René lebte, war ich
       jung, lebte im Konjunktiv, in Scheißtheatern und in Scheißhotels. Alles war
       unernst, in die Luft gesagt. Und ich glaube, es geht vielen, vielleicht
       meiner ganzen Generation von Theatermacher*innen so.
       
       Renés einzige Furcht war die Einsamkeit. Er brauchte verzweifelt heiß ein
       Gegenüber. Schauspieler*innen erzählen sich, wie er sie anflehte, über
       Weihnachten weiterzuproben. „Ich kann allein nicht denken“, dies ist der
       Satz, der mich von Renés Beitrag zu [2][unserem Buch „Why Theatre?“], das
       während der ersten Covid-Welle erschien, am tiefsten in Erinnerung
       geblieben ist. Genauer schrieb er: „Ich bin froh, mir erarbeitet zu haben,
       was man gemeinhin von der Schauspielerin und vom Schauspieler denkt,
       nämlich, dass sie alleine nicht arbeiten können.“
       
       Der Satz umreißt Renés Philosophie des Theaters: ein Raum, der einen von
       der eigenen Gedankenlosigkeit, von den eigenen Gefühlen befreit. „Alleine“,
       schrieb René, „kann man gar nicht denken, man kann nur fühlen.“ Das Theater
       war für ihn ein Kreuzungspunkt der Einsamkeiten. Alle seine Texte sprechen
       von der Einsamkeit, die sich nur in der gegenseitigen Verunsicherung
       auflöst, der Liebe, dem Beobachtet-Sein, wie er mit Luhmann sagte – er
       kannte Luhmann, wie Tausende andere Autor*innen, auswendig.
       
       Ja, Theater machen hieß für René: sich glücklich auflösen in einer Art
       Kollektivintelligenz, in der totalen, gelebten Verfertigungsklugheit. Die
       man dann, was ja das Schöne war beim Pollesch-Gucken, mit hinaus ins Leben
       nehmen konnte. War man an einem Abend von René, dann dachte und lebte man
       für einige Stunden und Tage freier.
       
       Vielleicht auch deshalb, weil er seriell arbeitete: Die Abende waren nie
       sein erstes oder letztes Wort, sondern eher ein zufälliger, funkelnder (und
       immer öfter auch düsterer und trauriger) Ausschnitt aus dem
       Pollesch-Gedankenstrom.
       
       ## Warum Theater?
       
       René hat mich klüger gemacht, zugleich zorniger und entspannter, tiefer und
       oberflächlicher. Ich freute mich immer sehr, wenn unsere Wege sich
       kreuzten. Als er [3][an der Volksbühne zum Intendanten ernannt wurde], nach
       dem unseligen Zwischenspiel mit Chris Dercon, zog er schnell das Interesse
       junger Aktivist*innen auf sich. Plötzlich war er jemand, hatte etwas:
       ein „Haus“, wie man im Theater sagt, eine Intendanz.
       
       Und was völlig unwahrscheinlich war: ein Gegenwind von Machtkritik blies
       ihm ins Gesicht, René Pollesch, dem die Institution am extremsten
       kritisierenden Theater-Denker Deutschlands. So kam es in den letzten Jahren
       manchmal vor, dass mein Name sowohl auf den Manifesten für wie gegen René
       erschien – meistens natürlich ohne mein Wissen.
       
       Wenn wir uns trafen, machten wir Witze darüber: „Deine
       Mitarbeiter*innen haben ein Pamphlet gegen mich veröffentlicht“, sagte
       René. Und ich sagte: „They do what they do.“ Manchmal zitierte er in seinen
       Stücken aus den Manifesten gegen ihn, übrigens auch im Text, den er für
       mich schrieb. Und dann sprachen wir über anderes, zum Beispiel über ein
       Stück, das wir zusammen für die Wiener Festwochen 2025 planten.
       
       Was noch? Vielleicht dies, der Satz, mit dem Renés Text zu „Why Theatre?“
       begann: „Eine Frage wäre, um die gewöhnliche wegzukriegen: warum etwas
       nicht mehr funktioniert: Warum hat es jemals funktioniert?“ Und weiter
       unten: „Alles macht man für jemand anderen. Für jemanden, den man liebt zum
       Beispiel.“
       
       That’s it. Lebe wohl, lieber René!
       
       27 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
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