# taz.de -- Behandlung von Depressionen: Mit dem Dunklen leben
       
       > Oliver Vorthmann ist an einer chronischen Depression erkrankt. Therapien
       > haben ihm nicht geholfen. Die Pharmaindustrie sucht weiter nach
       > Heilmitteln.
       
       Es ist, als hätte jemand der Welt die Farben genommen. Als wäre alles um
       mich herum von einem Schleier überzogen. Als sei ich in einer Glocke aus
       Milchglas gefangen, mit einem Stein auf der Brust, mit Säure in den Adern –
       und immer wieder diesen schrecklichen Gedanken, wie ich diese monströse
       Ausweglosigkeit beenden soll. 
       
       Oliver Vorthmann kennt dieses Gefühl. Er ist ein Hüne, locker zwei Meter
       groß, stabil. Den kann keiner umhauen, könnte man meinen. Vorthmann lehnt
       an einem Brückengeländer und schaut hinunter aufs Wasser der Spree im Osten
       Berlins. Schiebt sich die schwarze Mütze aus der Stirn, pustet
       Zigarettenrauch in den Morgennebel. Er ist 55 Jahre und chronisch
       depressiv. „Seitdem ich denken kann, fühle ich mich so.“
       
       Oliver Vorthmann hat Klinikaufenthalte und Therapeutenbesuche hinter sich,
       [1][mehrere Psychopharmaka bekommen]. Venlafaxin, Mirtazapin, Fluoxetin.
       Sie alle sollen das Hirn mehr Glückshormone ausschütten lassen, die
       Stimmung aufhellen, Ängste lösen.
       
       „Sechs Medikamente habe ich insgesamt durchprobiert. Keins hat geholfen.
       Hoch dosiert, runter dosiert, alle wieder abgesetzt.“ Nur ein Schlafmittel
       bewirke etwas bei ihm, Quetiapin, ein Neuroleptikum. Normale Dosis: 25
       Milligramm. „Ich nehme 500, damit ich überhaupt schlafen kann.“
       
       Unter depressiven Episoden leiden weltweit 320 Millionen Menschen, in
       Deutschland mindestens vier Millionen. Die Symptome sind vielfältig:
       Schlafstörungen, eine anhaltende gedrückte Stimmung, Antriebslosigkeit,
       Interessenverlust, Apathie.
       
       Insgesamt haben hierzulande knapp 18 Millionen Menschen psychische
       Erkrankungen. Gegen die Ängste, Zwänge, Süchte, Ess- und Schlafstörungen,
       schizophrenen Züge und eben Depressionen schluckt der Großteil von ihnen
       Psychopharmaka.
       
       Rund zwei Milliarden Tagesdosen Antidepressiva werden derzeit in
       Deutschland pro Jahr verschrieben. In anderen Ländern sind es noch mehr:
       Portugal schluckt in Relation mehr als doppelt so viele Antidepressiva wie
       Deutschland, Island fast das Dreifache. In den USA nimmt jede und jeder
       Fünfte tagtäglich Psychopharmaka ein.
       
       Die Medikamente sollen die Dämonen vertreiben, uns wieder zuverlässig
       funktionieren lassen. Bei manchen wirken sie. Bei anderen nicht.
       
       Die genaue Ursache vieler psychischer Störungen im Gehirn ist dabei immer
       noch unklar, Wissenschaftler*innen sind sich uneinig. Und doch werden
       die Pillen verschrieben, weil sie Schieflagen des Hirnstoffwechsels ins
       Gleichgewicht bringen sollen. Pillen, von denen zwar nicht wirklich bekannt
       ist, warum sie wirken, wohl aber, welche Nebenwirkungen sie haben.
       
       Oliver Vorthmanns Biografie zeigt, wie Betroffene manchmal jahrzehntelang
       nach [2][der richtigen Behandlungsmethode suchen] – und sie doch nicht
       finden. Seine Geschichte führt uns zu neueren medikamentösen Versuchen mit
       Stoffen wie Ketamin und Psilocybin – und dazu, wie sich eine
       Gesprächstherapie in die medikamentöse Behandlung einbinden lässt.
       
       Der Blick geht aber zunächst einmal zurück. Psychopharmaka sind ein recht
       junges Kapitel in der Medizingeschichte. Und wie so oft bei großen
       Durchbrüchen der Forschung war es der Zufall, der die Psychiatrie
       revolutionierte. Die deutsche Farbindustrie war kurz nach dem Zweiten
       Weltkrieg auf Farbstoffe mit sedierender Wirkung gestoßen. 1952 wurde als
       erstes Antipsychotikum Chloropromazin entdeckt, fünf Jahre später folgte
       „Sommerblau“ oder auch Imipramin, das erste Antidepressivum.
       
       Binnen weniger Jahre drängten immer mehr Medikamente auf den Absatzmarkt
       der Antidepressiva. Dort formieren sie sich zu Substanzengruppen mit
       jeweils ähnlichen Wirkstoffen. Doch ob trizyklische Antidepressiva,
       MAO-Hemmer oder selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) – im
       Wesentlichen tun diese alle dasselbe: Sie beeinflussen die Konzentration
       wichtiger Botenstoffe im Gehirn, zum Beispiel das vereinfacht als
       „Glückshormon“ bezeichnete Serotonin, oder auch Noradrenalin und Dopamin.
       Werden diese vom Gehirn ausgeschüttet, dann wirkt sich das positiv auf
       unsere Stimmung aus. Wir sind begeisterungsfähig, energetisch, redselig,
       fühlen uns mit unseren Mitmenschen verbunden. Nicht bei allen Menschen
       funktioniert das gleichermaßen gut.
       
       Die Gedanken zirkulieren zäh, als hätte jemand Kleister in den Kopf
       gekippt. Ich kann den Kreisel nicht stoppen, es raubt mir die Kraft. Die
       Erschöpfung lässt nicht nach. Ich will mich abschirmen. Nur noch die
       eigenen vier Wände fühlen sich halbwegs sicher an. 
       
       Vorthmann ist in Paderborn aufgewachsen. Seine Eltern sind alkoholkrank. Er
       ist vier Jahre alt, da unternimmt seine Mutter ihren ersten Suizidversuch.
       „Mein Vater hatte uns verlassen und meine Mutter kam nicht mehr klar“,
       erzählt er in der Ecke eines Cafés am Schifffahrtskanal in Berlin-Neukölln.
       In dem Berliner Stadtteil lebt Vorthmann. Hochparterre Hinterhaus, ruhig
       und anonym. Mit einem Zimmer als Rückzugsort, seinem Versteck. „Da
       verschwinde ich, wenn ich in meiner Depression bin, wenn ich aus der Welt
       sein will. Ich weiß nicht, wann ich dort das letzte Mal die Jalousien
       hochgezogen habe.“
       
       Immer, wenn er beginnt, von seiner Kindheit zu reden, atmet er tief durch.
       Er schiebt seine Tasse auf dem Holztisch herum. „Ich erinnere mich, dass
       ich anders war: still, ohne Freunde, beim Sport immer zuletzt gewählt.“ Und
       immer dieselbe Frage von den anderen: Oli, was hast du denn?
       
       „Ja – nix, so war ich halt. So bin ich noch.“ Aber deshalb zum Psychologen
       gehen? „Es war doch normal für mich, nicht normal zu sein. Ich war ruhig,
       ich war Einzelgänger, aber nicht krank.“
       
       Er löst seine Probleme so, wie junge Männer ihre Probleme lösen, wie seine
       Eltern sie lösen: Er trinkt. Viel. Später lernt er eine Frau kennen. „Sie
       kannte meine Art und Weise von Anfang an, natürlich war das nicht leicht
       für sie. Schlimm wurde es, wenn ich gar nicht mehr geredet und meine
       Probleme weggeschwiegen habe.“ Die beiden ziehen zusammen und heiraten.
       Dann macht sich Vorthmann selbstständig, mit einem Küchengeschäft für
       Menschen mit Einschränkungen. „Das war eigentlich eine absolute
       Marktnische. Aber der Laden ist gefloppt.“
       
       Die Geldsorgen, die Depression, der Alkohol. „Zu dem Zeitpunkt habe ich
       schon eine Flasche Hochprozentiges am Tag gesoffen.“ Weinbrand-Cola,
       Ramazzotti. Vorthmann verlässt seine Frau, vielleicht, um sie vor seiner
       Krankheit zu beschützen. 2012 schickt er seiner Cousine eine Mail. Er
       bedankt sich für alles, schreibt, er wolle nicht mehr, und verabschiedet
       sich von ihr. Die Cousine reagiert. „Sie hat mich sofort eingesammelt und
       ins Krankenhaus gefahren.“
       
       Wenn Psychiater*innen mit neuen Patienten sprechen, beginnen sie
       zunächst mit der Diagnostik. Die [3][läuft seit jeher] nach einem immer
       wieder überarbeiteten Klassifikationssystem ab, dem diagnostischen
       Leitfaden psychischer Störungen, kurz DSM. In dessen frühen Versionen
       wurden Depressionen noch in mehrere Formen mit mehreren Ursachen
       eingeteilt: die reaktive Depression, die auf einen Schicksalsschlag folgt,
       die neurotische Depression, die aus seelischen Konflikten aus der Kindheit
       herrührt, die endogene, also biologisch begründbare Depression, und so
       weiter.
       
       Der US-amerikanische Psychiater Robert Spitzer glaubte Anfang der achtziger
       Jahre, dass sich die Psychiatrie bei ihren Diagnosen unnötig in teils
       willkürlichen Theorien verrenne. Als Chefautor des DSM-III sorgte er dafür,
       dass sich die Diagnostik fortan darauf beschränkte, die wesentlichen
       Symptome gründlich zu beschreiben, Ursache hin oder her. Seitdem erfragen
       die Therapeut*innen, ob wir ruhelos sind und schlecht schlafen, ob wir uns
       energielos fühlen und zu nichts aufraffen können, ob wir desinteressiert
       sind. Die Checkliste der Symptome und deren Dauer zeigt schließlich, ob wir
       bloß ein Stimmungstief durchlaufen oder an einer Depression leiden. Man
       unterscheidet dabei zwischen leichter, mittelschwerer und schwerer
       Depression.
       
       Vor Spitzers Neuordnung hätte man Oliver Vorthmann eine neurotische
       Depression diagnostiziert. Spitzer wollte den Ausdruck „depressive
       Persönlichkeit“ ersetzen und führte den Begriff Dysthymie ein, das
       griechische Wort für Missmut. Damit ist eine über Jahre andauernde
       Depression gemeint, die häufig auch von Ängsten und auch Suchtverhalten
       begleitet wird. Betroffene ertragen die Symptome über Jahre, Jahrzehnte,
       weil sie die Schwermut für einen Teil ihrer Persönlichkeit halten. Andere
       Menschen erleben eine Depression eher episodenhaft.
       
       Nach der Traurigkeit kam die Nüchternheit. Ich fühlte einfach gar nichts
       mehr, nicht nur keine Freude, sondern auch keine Trauer. Die ganze Zeit
       wollte ich unbedingt diese Trauer loswerden. Nun wollte ich sie zurück,
       damit ich wenigstens überhaupt etwas fühle. 
       
       „Die Dysthymie sieht bei mir so aus“, erklärt Vorthmann und malt mit dem
       rechten Zeigefinger einen unsichtbaren Horizont auf den Tisch. „Sagen wir,
       das ist die normale Nulllinie. Die meisten Leute fühlen auf dieser Linie
       und erleben in Peaks emotionale Höhen und Tiefen.“ Dann zeichnet er mit dem
       linken Zeigefinger eine weitere Linie, die ein Stück weit parallel unter
       der Nulllinie verläuft. „Hier bewege ich mich normalerweise. Meine Stimmung
       ist grundsätzlich ein bisschen beschissener als die der anderen. Von dieser
       Linie aus geht es gern mal noch tiefer in den Keller, aber üblicherweise
       nicht wirklich höher.“
       
       Natürlich gab es auch die schönen Momente in Vorthmanns Leben. Seine
       Hochzeit. Oder das Konzert der Indie-Band Editors, als ihm Sänger Tom Smith
       nach dem ersten Song zuwinkte. „In solchen Momenten muss ich aufpassen,
       dass ich keine Bäume ausreiße. Sonst stürze ich umso schneller und umso
       tiefer wieder ab.“ Die Abstürze können dreimal im Jahr kommen oder gleich
       zweimal die Woche, das ist unberechenbar für ihn.
       
       „Erst vor kurzem habe ich wieder drei Tage gebraucht, um den Müll
       rauszubringen. Ich habe die ganze Zeit ins Treppenhaus gehorcht, ob da
       jemand ist. Ich weiß, wie sich das anhört.“ Eine kühle Distanz zu Menschen
       bis hin zu agoraphobischen Züge gesellen sich zu Olivers Dysthymie.
       
       Was genau geschieht in unserem Kopf bei einer Depression? Aus der
       Erkenntnis, dass die Antidepressiva die Konzentration des Serotonins im
       Gehirn erhöhen, bildete die Neurowissenschaft die Hypothese, dass bei
       Menschen mit Depressionen ein Mangel an bestimmten Neurotransmittern
       vorliegen müsse.
       
       Serotonin und Noradrenalin würden nicht so recht von einer Nervenzelle zur
       nächsten diffundieren, die Übertragung in den Synapsen laufe nicht optimal.
       Auch hier war es also so: Durch einen Zufallsfund gelangte man zu
       Erkenntnissen über biochemische Prozesse im Kopf.
       
       Die Pharmaindustrie konzentrierte sich fortan auf noch mehr Medikamente,
       die dafür sorgen, dass die Botenstoffe länger an ihrem Wirkungsort bleiben.
       Wie auch die SSRI: Sie hemmen gezielt die Wiederaufnahme des
       Neurotransmitters Serotonin in die Präsynapse und erhöhen so dessen
       Konzentration im synaptischen Spalt.
       
       In den neunziger Jahren gab es einen regelrechten Hype um SSRI, die
       Psychiater*innen bis heute bevorzugt verschreiben, einfach deshalb,
       weil sie als vergleichsweise gut verträglich gelten. Wie etwa Citalopram,
       Sertralin oder Fluoxetin, international besser bekannt als Prozac.
       
       Geh doch mal raus, spazieren, ein bisschen Sonne tanken. Koch was Gesundes.
       Mach Sport, geh schwimmen oder joggen, probier mal Yoga aus. Wie sinnlos
       mir solche Ratschläge gerade vorkommen. Als wüsste ich das nicht alles
       selbst. 
       
       Von seinem ersten Tag im Krankenhaus an versuchten es die Ärzte auch bei
       Oliver Vorthmann mit Psychopharmaka. „Ein halbes Jahr war ich dort. Drei
       Medikamente haben die Ärzte an mir ausprobiert, geholfen hat keines. Damit
       war die Therapie vorbei. Sie sagten, sie können nichts mehr für mich tun.
       Vielleicht würde eine Auszeit guttun.“ Vorthmann presst beide Hände an die
       Stirn und atmet tief durch. „Du kannst einen Depressiven nicht einfach nach
       Mallorca verfrachten und dann geht’s dem wieder gut.“
       
       Kurz vor Vorthmanns Einweisung im Jahr 2012 war die Serotonin-Hypothese
       erstmals ins Wanken geraten. Der US-amerikanische Wissenschaftler Irving
       Kirsch hatte in einer Metaanalyse Studien ausgewertet und war zu dem
       Schluss gekommen, dass Antidepressiva aus der Klasse der SSRI genauso
       wirksam seien wie Placebos. Die Geschichte wurde öffentlich, Medizin und
       Pharmalobby gerieten in Erklärungsnot. Vor zwei Jahren erschien eine
       weitere Metastudie, mit ähnlichem Ergebnis.
       
       Heißt das also, die ganzen Pillen bringen es überhaupt nicht?
       
       Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung schreiben in ihrer
       aktuellen nationalen Versorgungsleitlinie zur Unipolaren Depression: „Über
       die Mechanismen, durch welche die Wirkung der Antidepressiva zustande
       kommt, besteht weiterhin Unklarheit. Daher ist es bis heute nicht möglich,
       verlässlich vorauszusagen, ob und wann ein bestimmter Patient auf ein
       bestimmtes Antidepressivum ansprechen wird.“ So bleibt die
       Serotonin-Hypothese bis auf weiteres das, was sie immer gewesen ist: eine
       Annahme.
       
       Manche Forschende versuchen es deshalb mit anderen Erklärungen. Für sie ist
       es wahrscheinlich, dass Depressionen einen oxidativen Stress auslösen.
       Oxidativer Stress bezeichnet einen Zustand im Stoffwechsel, bei dem Zellen
       beschädigt und rote Blutkörperchen angegriffen werden, so entstehen
       Entzündungen im Gehirn. Die ersten Warnsignale: Müdigkeit und
       Konzentrationsschwäche. Das effektivste Mittel dagegen: die
       Selbstheilungskräfte aktivieren, und zwar durch gesundes Essen, frische
       Luft, Meditation und Sport. Gerade hat die University of South Australia
       knapp einhundert Arbeiten ausgewertet, die belegen sollen, wie effektiv
       Sport und Bewegung gegen Depressionen und Angststörungen wirken.
       
       Auch Gerhard Gründer zweifelt daran, dass einzig die fehlenden Botenstoffe
       eine Depression ausreichend erklären. Gründer ist Professor für Psychiatrie
       und Leiter der Abteilung für Molekulares Neuroimaging am Zentralinstitut
       für Seelische Gesundheit in Mannheim. „Es ist zu simpel zu sagen, die
       Krankheit liege an einem Mangel der Neurotransmitter“, sagt er, „Es ist
       aber ebenfalls nicht richtig, daraus zu schließen, die Medikamente wirken
       nicht, weil es zu wenig Evidenz für die Hypothese gibt. Das ist eine
       falsche Kausalität. Medikamente können wirksam sein, auch wenn wir nicht
       wissen, warum.“ Die Medikamente hälfen Millionen Menschen. Und sicher gehe
       es Depressiven heute besser als vor 60 Jahren, als psychische Erkrankungen
       noch viel stärker stigmatisiert waren und das Gespräch mit dem Psychiater
       verheimlicht werden musste.
       
       Doch ist es eben auch so, dass die Pharmaindustrie bis heute keine
       bahnbrechenden, besser wirkenden Psychopharmaka entwickelt hat. Noch immer
       gibt es Medikamente, die es in ihrer grundlegenden Zusammensetzung schon
       vor 60 Jahren gab. Offenbar wissen wir immer noch zu wenig Konkretes über
       die Funktionsweise des Gehirns.
       
       Und irgendwie passt das zu Robert Spitzers Diagnoseverfahren: Wir
       konzentrieren uns auf die Symptome und haben Medikamente, die sie mehr oder
       weniger gut lindern. Die Patient*innen haben mit möglichen
       Nebenwirkungen zu kämpfen, etwa Gewichtszunahme und eingeschränkte
       Sexualfunktionen, sowie der Tatsache, dass die meisten Psychopharmaka erst
       nach rund zwei Wochen wirken. Wenn sie denn wirken.
       
       Laut dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller stehen auf dem Feld der
       Antidepressiva derzeit über 60 neue Substanzen für eine Zulassung auf dem
       Prüfstand. Es gibt weitere SSRIs, neuroaktive Steroide oder auch Extrakte
       aus chinesischen Kräutern. Auffällig in der Liste: Ein Drittel der
       Präparate sind Psychedelika und Dissoziativa, also psychoaktive Substanzen,
       die unsere Wahrnehmung beeinflussen. [4][Schon etwas länger im Visier der
       Forschung ist dabei Ketamin].
       
       Ketamin, eigentlich ein Anästhesie-Medikament, ist in den vergangenen
       Jahrzehnten als Partydroge bekannt geworden. Nun gilt es als neue Hoffnung
       in der Depressionstherapie. Esketamin, sozusagen der Zwilling von Ketamin,
       wird inzwischen in den USA als Antidepressivum eingesetzt, in Form eines
       Nasensprays.
       
       Esketamin macht Dopamin in der Region verfügbar, die für das Belohnungs-
       und Motivationssystem zuständig ist. Die Dosierung liegt bei einem Zehntel
       der Menge, die man sich auf einer Clubtoilette durch die Nase ziehen würde.
       
       Die klinischen Studien sprechen für Ketamin, bei vielen als
       therapieresistent geltenden Depressionspatienten nahmen die Symptome ab.
       Doch es gibt auch mahnende Stimmen. Die US-Gesundheitsbehörde FDA warnt
       davor, dass der Markt mit Präparaten geflutet werden könnte und Menschen
       mit Depressionen und zu großen Erwartungen durch eine Ketamintherapie in
       Eigenregie abhängig werden könnten.
       
       Die Schwere sinkt in dich hinein und breitet sich aus wie ein Parasit. Jede
       Bewegung wird zum Kraftakt. Dein Gehirn schaltet auf Autopilot, um
       überhaupt noch irgendwie zu funktionieren. Dann kommen die Schuldgefühle.
       Gerade noch hatte ich ein voll durchgetaktetes Leben, ich habe
       funktioniert. Du willst, dass es wieder so wird, wie es vorher war, aber
       weißt nicht, wie. 
       
       Für Oliver Vorthmann war ein normales Berufsleben irgendwann nicht mehr
       möglich. Bis 2015 arbeitete er noch bei Fujitsu im Vertrieb, dann kündigte
       er. „Mein Antrag auf Erwerbsminderungsrente wurde natürlich trotzdem
       abgelehnt“, sagt er. „Ich kann ja meine Arme und Beine bewegen, mein Herz
       schlägt, also hat der Gutachter das Problem nicht gesehen. Der dachte
       einfach nur, ich bin ein Weichei.“
       
       Die Alkoholsucht hat Vorthmann überwunden, die Depressionen bleiben.
       „Irgendwann habe ich gelernt, mit dem schlimmen Gedanken zu leben, nicht
       leben zu wollen“, sagt er.
       
       Natürlich hat Vorthmann auch Gesprächstherapien durchlaufen. Medikamentöse
       Therapie ist das eine, empfohlen wird aber immer auch das therapeutische
       Gespräch. Wie gut Psychotherapie bei Depressionen wirkt, hat gerade das
       Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München mit einer umfangreichen
       Psychotherapiestudie herausgefunden.
       
       Drei Jahre lang hat es Daten von knapp 300 Patient*innen
       zusammengetragen, etliche Symptome wurden analysiert. Zwei Monate lang
       erhielten die Teilnehmenden ein psychiatrisches Programm mit
       Therapiesitzungen.
       
       Das Ergebnis: „Zwar geht die Forschung sowohl in der medikamentösen
       Therapie als auch in den verschiedenen Praxen der Gesprächstherapie nur zäh
       voran“, räumt Forscher Johannes Kopf-Beck ein. „Trotzdem haben wir bei der
       Kombination beider Therapieformen sehr gute Effektstärken gemessen.“
       
       Die Studien zeigten den Forschenden, dass die Probanden, mit ihrer
       Leidensgeschichte konfrontiert, in Konzentrationstests besser abschnitten
       als vor den Therapiesitzungen. Durch die aufarbeitenden Gespräche mit den
       Therapeuten werden im Hirn neue Nervenzellverbindungen gebildet – und die
       halten nachhaltig.
       
       „Die langfristigen Effekte der Psychotherapie sind wichtig, da bei
       Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen der relapse, also der
       Rückfall, eine der größten Herausforderungen darstellt. Die
       Pharmakotherapie wirkt im Vergleich dazu eben meist nur so lange, wie die
       Medikamente genommen werden.“
       
       In Deutschland gibt es aber lediglich 32.500 Kassensitze für
       PsychotherapeutInnen, also Lizenzen, mit denen die Therapien über die
       gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden können. Und das bei einer
       ständig zunehmenden Zahl an Leuten, die gerne eine Therapie machen würden.
       
       Entsprechend sind die Wartezeiten in Deutschland derzeit immens. Allein für
       einen ersten Termin in der Richtlinienpsychotherapie wartet man in Berlin
       durchschnittlich 13 Wochen, in Baden-Württemberg sind es 17 Wochen und in
       Nordrhein-Westfalen gar 23.
       
       Bei Oliver Vorthmann hat es ein Jahr gedauert, ehe er 2016 seine erste
       tiefenpsychologische Therapie beginnen konnte. Die Behandlung beim
       Psychiater ist insgesamt weniger zeitaufwendig. „Ein Termin beim Psychiater
       kann ruck, zuck gehen. Nach zwei Minuten bist du mit einem neuen Medikament
       wieder draußen“, sagt er.
       
       Dass so sehr auf Medikamente gesetzt wird, hat auch mit dem Zeitgeist zu
       tun, meint Psychiater Gerhard Gründer. „In unserer Leistungsgesellschaft
       ist auch die Hoffnung auf einen Quickfix mit einer Pille verankert.“ In
       Vorträgen und Büchern fragt Gründer, wie wir uns mit der sich ständig und
       schnell wandelnden Gesellschaft arrangieren. „Versuchen wir, unsere
       Lebensumwelt so zu verändern, dass wir darin gesünder leben können, oder
       versuchen wir unser Gehirn an eine lebensfeindliche Umwelt anzupassen?“ Es
       sei einfacher, Tabletten zu schlucken, als dass wir uns mit unseren
       Problemen auseinandersetzen. „Das kostet Zeit, Geld und viel Mühe.“
       
       Gerhard Gründer forscht [5][nach Alternativen zu den herkömmlichen
       Psychopharmaka] – und konzentriert sich dabei auf Psilocybin, also Pilze,
       die einen psychedelischen Rausch auslösen. In seiner aktuellen Studie
       sammelt Gründer mit seinem Team belastbare Erkenntnisse zur Wirksamkeit und
       Sicherheit von Psilocybin in der Depressionstherapie.
       
       Gründer bereitet seine Proband*innen in aufwändigen Vorgesprächen auf
       die psychedelische Erfahrung vor. Dann schickt er sie in einem
       kontrollierten Setting auf einen mehrstündigen Trip. Im Labor gibt es einen
       Therapieraum, der wie ein Wohnzimmer eingerichtet ist. Es gibt ein Bett und
       Sessel, Schränke, dicke Vorhänge, gedämpftes Licht, Pflanzen, eine
       Stereoanlage mit 30 Stunden Musik. Während der Erfahrung werden die
       Personen von einer Therapeutin und einem Therapeuten betreut.
       
       „Die Studien legen nahe, dass die psychedelische Erfahrung für die
       Wirksamkeit der Therapie eine Bedeutung hat“, erklärt Gründer. „Das
       Erlebnis muss intensiv sein. Dabei spielt es anscheinend keine Rolle, ob es
       sich um eine angenehme spirituelle oder eine herausfordernde Erfahrung
       handelt, was man im Volksmund auch Horrortrip nennt.“ Ein Proband erzählte
       Gründer, er sei trotz der Vorbereitungen und des Settings in dem
       gemütlichen Raum mit der angenehmen Musik über sechs Stunden durch die
       Hölle gegangen. Er habe sich mit den schwierigsten Teilen seiner Psyche
       auseinandersetzen müssen. Aber dabei wesentliche Muster überwunden.
       
       Bei der Nachbesprechung ergeben die Antworten der Probanden eine Einordnung
       in ein Punktesystem, die Hamilton-Skala. Das ist ein Diagnosewerkzeug, mit
       der der Schweregrad einer Depression beurteilt wird. Ab einer Punktzahl von
       9 beginnt die leichte Depression, ab 25 Punkten die schwere. Der Proband
       mit dem Horrortrip hatte auf der Hamilton-Skala nur noch einen Punkt.
       
       Wie genau Psychedelika Depressionen lösen können, ist wieder mal ungeklärt,
       doch es gibt Hinweise, dass sie die Hirnstruktur entscheidend verändern. In
       früheren Studien zeigten Hirnscan-Bilder aus dem MRT eine Zunahme der
       Verbindungen zwischen den Neuronen, und das über Wochen und Monate.
       
       Das ist ein Zeichen für Neuroplastizität und somit des sich verändernden
       und anpassenden Gehirns. Die Proband*innen sprechen nach der
       psychedelischen Erfahrung von einer emotionalen Gelassenheit und erhöhten
       Flexibilität.
       
       „Ich glaube, dass Psilocybin vielen Menschen mit Depressionen helfen kann“,
       sagt Gerhard Gründer. „Allerdings wird es noch dauern, bis das in der
       psychiatrischen Regelbehandlung ankommt.“ Das Bundesinstitut für
       Arzneimittel und Medizinprodukte lehnte Gründers Vorschlag ab, schon
       Ersterkrankte mit dem Wirkstoff zu behandeln. Diese Art der Behandlung
       solle bis auf Weiteres Menschen mit therapieresistenten Depressionen
       vorbehalten sein.
       
       Die Hoffnung auf Psilocybin ist groß – was die Ergebnisse der Studie
       verzerren kann. Denn wenn die Teilnehmer*innen auf eine schnelle
       Wunderheilung hoffen, nehmen sie kleinere Verbesserungen in ihrem
       Wohlbefinden weniger wahr. Und ein weiteres Problem: Die Versuchsperson
       weiß ziemlich genau, ob sie auf einem Pilztrip ist oder ein Placebo
       geschluckt hat.
       
       Auch Oliver Vorthmann hat an Gerhard Gründers Studie teilgenommen. Sechs
       Monate Vorbereitung brauchte er dafür: „Um mitmachen zu können, musste ich
       mein Quetiapin ausschleichen. Bis zur ersten Sitzung habe ich
       durchgehalten. Ich saß in dem Zimmer und habe die Pille bekommen. Und nach
       einer Stunde war klar: Scheiße, Placebo.“ Das Psilocybin wäre Vorthmann
       erst in Runde zwei verabreicht worden. Dann hätte er noch einmal über
       Wochen ohne Schlaf auskommen müssen.
       
       Er hat aber einen anderen wichtigen Schritt getan: Er geht mit seiner
       Krankheit aktiver, offensiver um. „Ich bin in die Depressionsliga
       eingestiegen, bin inzwischen im Vorstand und arbeite beim Gemeinsamen
       Bundesausschuss mit. Jetzt mache ich die Ausbildung zum Peer-Berater.“
       Dabei würde er als Betroffener Betroffenen helfen. Schließlich weiß er am
       besten, wie lebenswichtig Hilfe in akuten Krisen sein kann.
       
       „Ich will Menschen auf Augenhöhe begegnen, beim Antistigmatisieren helfen,
       Forschungsarbeit machen“, sagt Oliver. Er weiß, dass das Gespräch hilft,
       dass das soziale Umfeld hilft. „Die Arbeit gibt mir Hoffnung. Für mich ist
       das die beste Therapie. Es ist in etwa so, als würde ich meine Berufung zum
       Beruf machen. Nur halt nicht ganz so spaßig.“
       
       Die kursiven Beschreibungen stammen von Menschen mit Depressionen, mit
       denen der Autor gesprochen hat.
       
       19 Mar 2024
       
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