# taz.de -- Spielfilm „Morgen ist auch noch ein Tag“: Aus dem Leben einer Minijobberin
       
       > In „Morgen ist auch noch ein Tag“ erzählt Regisseurin Paola Cortellesi
       > von häuslicher Gewalt der Nachkriegszeit. Der Film bricht in Italien
       > Rekorde.
       
 (IMG) Bild: Delia (Paola Cortellesi) erwartet in „Morgen ist auch noch ein Tag“ ihren großen Moment
       
       Wenn jemand von einem „Schlag ins Gesicht“ berichtet, ist das meist
       metaphorisch gemeint, im Sinne von: eine plötzliche, unerfreuliche
       Überraschung. Für Delia (Paola Cortellesi) ist es tagtägliche Realität. Mit
       „Guten Morgen“ begrüßt sie beim Aufwachen im Bett ihren Ehemann Ivano
       (Valerio Mastandrea), und statt zu antworten, haut er ihr eine auf den
       Mund.
       
       Delia jedoch scheint alles andere als überrascht, und was vielleicht noch
       schlimmer ist, auch gar nicht besonders betrübt davon. Sie wirkt eher
       resigniert und allenfalls ein ganz klein wenig erstaunt darüber, dass das
       ihr Leben sein soll: eine Frau in Nachkriegsitalien, verheiratet mit einem
       prügelnden Ehemann, Mutter von drei Kindern, den lieben langen Tag
       beschäftigt mit Haushalt, Putzen, Pflegen und dazu noch einer ganzen Serie
       von schlecht bezahlten Minijobs.
       
       Das deutsche Kinopublikum mag an dieser Stelle von etwas ganz anderem
       überrascht sein, nämlich davon, dass ein in Schwarz-Weiß gedrehtes
       Sozialdrama über eine geschlagene Hausfrau im Rom der späten vierziger
       Jahre im Italien des Jahres 2023 zum Kassenhit werden konnte, mit
       tatsächlich [1][mehr Besuchern als „Barbie“]!
       
       Ganz nebenbei brach die bislang vor allem als komödiantische Schauspielerin
       bekannte Paola Cortellesi mit ihrem Regiedebüt „Morgen ist auch noch ein
       Tag“ noch eine Reihe weiterer Rekorde, unter anderem natürlich den, dass
       noch kein Film von einer Frau in Italien je so viele Zuschauer*innen ins
       Kino locken konnte. Und obwohl man „C’è ancora domani“, so der
       Originaltitel, als „Tragikomödie“ einordnet, sei gewarnt: Besonders witzig
       geht es hier nicht zu.
       
       Die erste Erklärung für den Erfolg sucht man üblicherweise in der
       Filmgeschichte. „Italienischer Neorealismus“ ruft es quasi von den
       schwarz-weiß aufgenommenen Dächern, die Cortellesi hier in Augenschein
       nimmt, und dass Ort und Zeit der Handlung mit denen der einschlägigen Filme
       von Vittorio De Sica oder Roberto Rosselini übereinstimmen, lässt die
       Verwandtschaft fast überdeutlich hervortreten.
       
       Aber wie so oft, wenn jemand aus der Aktualität heraus etwas vermeintlich
       Altes „wiederbelebt“, benutzt Cortellesi den Neorealismus weniger als
       echtes Vorbild denn als ästhetischen Baukasten, aus dem sie sich bedient,
       um dann doch etwas ganz Neues hervortreten zu lassen.
       
       ## Ort der Handlung: das kleinbürgerliche Rom
       
       „Morgen ist auch noch ein Tag“ spielt im Mai des Jahres 1946, im Vorfeld
       der Wahlen und des Referendums über die Staatsform, die in Italien am 2.
       und 3. Juni abgehalten wurden. Wobei dieses „Vorfeld“ die längste Zeit im
       Film nur in sehr diskreten Verweisen eine Rolle spielt – um dann allerdings
       in der Wende zum Schluss mit einem kraftvollem Effekt zu landen, über den
       besser nicht mehr verraten sei.
       
       Ort der Handlung ist das kleinbürgerliche, ärmliche Rom, in dem es
       Schlangen vor bestimmten Lebensmittelläden gibt, in dem noch kaum Autos
       fahren, Hausfrauen wie Delia ausschließlich zu Fuß unterwegs sind und
       freundliche amerikanische Soldaten bei Straßenkontrollen nur wenig zu tun
       haben.
       
       Die soziale Not ihrer Heldin zeichnet Cortellesi nicht nur als Kulisse
       nach. Sicher, da sind die beengten Verhältnisse, wenn etwa das in
       Obenansicht gefilmte „Kinderzimmer“ hervorhebt, wie verwinkelt die Betten
       der 16-jährigen Tochter Marcella (Romana Maggiora Vergano) und ihrer zwei
       kleineren Brüder stehen. Das Schlafzimmer, das Delia mit ihrem Mann teilt,
       ist nur unwesentlich größer. Verschlimmert wird die Raumnot noch dadurch,
       das Schwiegervater Ottorino (Giorgio Colangeli) einen weiteren Raum der
       Wohnung okkupiert.
       
       Aber die meisten seiner ökonomischen Wahrheiten zeigt der Film durch
       Aktionen: in der Art und Weise, wie Delia sich zwischen Haushaltspflichten
       und kleinen Jobs aufreibt, wie sie von Stelle zu Stelle hetzt, und vor
       allem darin, wie man sie bezahlt. Es sind fast immer kleine Pakete von
       zusammengefalteten Lire-Scheinen, die man sich gegenseitig mehr zusteckt
       als übergibt und die nie nachgezählt werden, weil die Lächerlichkeit der
       ausgetauschten Beträge sofort offensichtlich ist.
       
       ## Um historische Rekonstruktion bemüht
       
       Der nah-dokumentarische Stil des Neorealismus, der in Filmen wie „Die
       Fahrraddiebe“ auf aufregende Weise die echten Straßen zum Drehschauplatz
       machte, ist in „Morgen ist auch noch ein Tag“ naturgemäß eine reine
       Rekonstruktion. Und wo De Sica und seine Kollegen ihren Protagonisten
       alltagsnah mit der Kamera folgten, montiert Cortellesi die Gänge ihrer
       Heldin zu einem eindrucksvollen Lebensprotokoll.
       
       Wenn Delia sich morgens trotz Ohrfeige aus dem Bett erhebt, den Mann, den
       Schwiegervater und die Kinder mit Kaffee und Frühstück versorgt und aus dem
       Haus begleitet, beginnt ein so mühevoller wie einfallsreicher
       Minijob-Parcours. Bei der einen Adresse macht sie sich mit ihrer Fähigkeit,
       Spritzen zu setzen, nützlich, bei der anderen gibt sie Wäsche ab, die sie
       in Heimarbeit ausgebessert und geflickt hat. Bei einer dritten Adresse
       verdingt sie sich als Wäscherin, und bei einer vierten fertigt und
       repariert sie Regenschirme.
       
       Dort soll sie eines Tages einen jungen Mann ins Handwerk einweisen, und als
       dem rausrutscht, wie viel er verdient, wendet sie sich empört an ihren Chef
       mit der Frage, warum sie als erfahrene Kraft weniger bekommt. „Nun, er ist
       ein Mann!“, lautet die völlig beiläufige und deshalb umso schlagendere
       Antwort.
       
       Die Bedrückung dieser ausgestellten sozialen Verhältnisse konterkariert
       Cortellesi, indem sie ihre Heldin zwischendurch ausbrechen lässt. Da gibt
       es die wiederkehrenden Begegnungen mit einem Schwarzen US-Soldaten, der –
       im einzig unrealistischen Strang dieses in allem anderen so um historische
       Rekonstruktion bemühten Films – schließlich zu einem Komplizen wird.
       
       Immer wieder kommt Delia auch an einer Autowerkstatt vorbei, wo mit Nino
       (Vinicio Marchioni) ein früherer Verehrer arbeitet, der sie dazu verlocken
       will, mit ihm in den mit besseren Löhnen lockenden Norden zu ziehen. Am
       wichtigsten aber sind die Momente mit ihrer Freundin Marisa (Emanuela
       Fanelli), einer Marktverkäuferin, mit der sie zwischendurch beim Rauchen
       einer Zigarette die eigene Autonomie spürt.
       
       ## Ohne Schaulust an der Brutalität
       
       Es sind Szenen wie diese, in denen sich erahnen lässt, was vielleicht das
       eigentliche Geheimnis von Cortellesis Film ist: Er erzählt von einem nicht
       untypischen Frauenschicksal eben nicht aus der mitleidigen
       Beobachterperspektive, sondern mit Empathie und zugleich mit Respekt. Das
       wiederkehrende Geprügeltwerden inszeniert Cortellesi ganz ohne Schaulust an
       der Brutalität oder der Demütigung. An einer Stelle wird gar ein
       regelrechter Tanz zwischen den Eheleuten daraus, in dem die Gewalt, die
       Ivano ausübt, nicht verharmlost wird, aber Delia auf ihre Resilienz
       bestehen kann.
       
       Markanter noch als die Macht des Ehemanns erscheint in diesen Sequenzen
       übrigens die Art und Weise, wie das Umfeld seine Gewalt duldet und damit
       sanktioniert: Nicht nur die Kinder Delias ziehen sich in ängstlicher
       Erfahrung zurück, sobald der Vater droht, auch die Nachbarinnen auf dem Hof
       hören die einschlägigen Geräusche, wissen genau, was passiert – und senken
       schweigend die Köpfe.
       
       Die Wendung, mit der Cortellesi ihren Film enden lässt, entfaltet ihre
       große emotionale Wirkung vor diesem Hintergrund: Wo sich die Mächtigen
       soeben noch in stillschweigender Übereinkunft mit der Mehrheit wähnen, kann
       das individuell wahrgenommene Wahlrecht plötzlich Sprengkraft entwickeln.
       
       5 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Schweizerhof
       
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