# taz.de -- Jüdische Bewegung Hashomer Hatzair: Zwischen den Stühlen
       
       > Hashomer Hatzair ist die älteste jüdische Jugendbewegung. Seit dem 7.
       > Oktober fragen sie sich: Wo bleibt die Solidarität der internationalen
       > Linken?
       
 (IMG) Bild: Drei Mitglieder des deutschen Ablegers von Hashomer Hatzair in ihren charakteristischen blauen Hemden
       
       Man könnte Hashomer Hatzair als [1][eine linke, jüdische
       Pfadfinderorganisatio]n beschreiben. Nitzan Menagem nickt, mit der
       Beschreibung wirkt die 37-jährige Vorsitzende der Jugendbewegung in
       Deutschland größtenteils zufrieden. „Und säkular“, wirft sie ein. Bei der
       historischen Bezeichnung der Bewegung – „sozialistisch-zionistisch“ –
       wirkt sie zurückhaltender.
       
       Menagem wählt ihre Worte vorsichtig, aus nachvollziehbaren Gründen. Denn
       nicht jeder will sich mit dieser Aneinanderreihung von Adjektiven
       anfreunden, manche wollen sie sogar instrumentalisieren. Und [2][seit dem
       7. Oktober], dem Massaker der Hamas in Israel, und dem darauf folgenden
       [3][Krieg in Gaza], ist die Situation für jüdische Organisationen weltweit
       noch gefährlicher geworden, als sie ohnehin schon war.
       
       Diese Vorsicht weicht aber schnell einem leidenschaftlichen Redefluss,
       sobald Menagem anfängt, über die Bewegung zu sprechen, in der sie groß
       geworden ist, die ihre politische Identität bildet. Eine Bewegung, die 1939
       von den Nazis verboten und erst 2012 in Deutschland wiederbelebt wurde. Und
       die Menagem, ursprünglich aus Israel, Stück für Stück im Land der Shoah
       wieder aufbauen will.
       
       Die Geschichte beginnt 1913, als Hashomer Hatzair, zu Deutsch: „die jungen
       Wächter“, in Galizien im heutigen Polen gegründet wird. Sie ist damit die
       älteste jüdische Jugendbewegung weltweit. Die jungen Wächter organisieren
       ab 1919 die Alija, eine Rückkehr zum historischen Heimatland der Jüdinnen
       und Juden im Gebiet von Palästina. Dort bauen ihre Mitglieder Kibbuzim auf.
       
       ## Erster deutscher Ableger in Mannheim
       
       Der erste deutsche Ableger wird erst 1931 in Mannheim gegründet, obwohl die
       Bewegung zu diesem Zeitpunkt schon in vielen Ländern aktiv ist. Es folgen
       bundesweit weitere Kenim – so heißen die Ortsgruppen. „Linke Jüdinnen und
       Juden in Deutschland waren damals zunächst nicht besonders zionistisch, sie
       wollten eher ihre eigene Gesellschaft ändern, zu der sie sich zugehörig
       fühlten“, erklärt Menagem.
       
       Das ändert sich mit dem grassierenden Antisemitismus der 1930er Jahre. Nach
       den Novemberpogromen 1938 arbeiten die deutschen Wächter im Untergrund
       weiter. Sie helfen Jüdinnen und Juden nach Palästina, zu diesem Zeitpunkt
       ein britisches Mandatsgebiet, zu fliehen – und retten damit Hunderte Leben.
       Viele schließen sich dem jüdischen Widerstand gegen die Nazis an.
       
       Zum Beginn des Zweiten Weltkriegs hat Hashomer Hatzair 70.000 Mitglieder in
       35 Ländern, vor allem in Osteuropa. Eines der bekanntesten ist Mordechai
       Anielewicz, ein Anführer des Aufstands im Warschauer Getto. Unzählige
       Mitglieder werden von den Nazis ermordet. Auch Anielewicz überlebt die
       Shoah nicht.
       
       Heute ist die Bewegung vor allem in Israel aktiv, wo sie rund 14.000
       Mitglieder zählt. Schon deshalb findet Menagem den Begriff Zionismus – die
       Bestrebung nach einem jüdischen Nationalstaat – eher überholt. „Denn Israel
       existiert ja schon. Der Zionismus war die Bewegung, Israel überhaupt erst
       mal zu schaffen.“ Bei der Staatsgründung 1948 spielt die Arbeiterbewegung,
       zu der Hashomer Hatzair zählt, eine wichtige Rolle. Ihre roten Flaggen und
       blauen Hemden sind seit eh und je fester Bestandteil der 1.-Mai-Demos in
       Israel. Im vergangenen Jahr schloss sich die Jugendorganisation den
       Protesten gegen Netanjahus Justizreform an.
       
       ## Der zweite große Schock
       
       Die israelische Arbeiterbewegung steckt in Menagems DNA: Ihre Eltern lernen
       sich als Jugendliche bei Hashomer Hatzair kennen, Menagem tritt der
       Organisation mit neun bei. „Das war ein paar Monate vor der Ermordung
       Rabins“, sagt sie in Bezug auf das Attentat auf den damaligen
       Premierminister 1995, verübt von einem rechtsextremen, nationalreligiösen
       Siedler. Ein Schock geht damals durch die israelische Friedensbewegung. Ein
       Schock, der bis heute anhält. „Die israelische Linke hat sich seit dem
       Attentat nie vollständig erholt.“
       
       Am 7. Oktober 2023 dann der zweite große Schock: Die islamistische
       Terrorgruppe Hamas bricht durch den Grenzzaun zwischen Gaza und Israel und
       wütet in den Kibbuzim im Süden des Landes. Sie ermordet mehr als 1.100
       Menschen, größtenteils Zivilist*innen, verschleppt über 250 nach Gaza,
       vergewaltigt systemisch israelische Frauen. Der Angriff trifft vor allem
       die friedensbewegte Kibbuzbewegung, auch Kibbuzim von Hashomer Hatzair
       werden überfallen: In Nir Oz wird ein Viertel der 400 Kibbuzniks entweder
       getötet, verschleppt oder verletzt. „Das sind unsere Menschen, die am 7.
       Oktober ermordet und entführt wurden“, sagt Menagem,
       „Friedensaktivist*innen, Sozialist*innen“.
       
       Doch die Solidarität der internationalen Linken, in deren Tradition Menagem
       sich eigentlich sieht, bleibt aus. Sie wirkt empört: „Die Hamas ist keine
       linke Organisation, sie ist keine Widerstandsbewegung, sie ist eine
       mörderische Terrororganisation“, sagt sie. „Wir fühlen uns im Stich
       gelassen. Aber die internationale Linke hat auch die
       Palästinenser*innen im Stich gelassen, die unter der Herrschaft der
       Hamas leiden.“
       
       ## Seit 2012 wieder in Deutschland aktiv
       
       Eigentlich war der Wiederaufbau von Hashomer Hatzair Deutschland bis zum 7.
       Oktober auf einem guten Weg. Nach der Shoah entschied sich die Organisation
       bewusst gegen eine Neugründung in Deutschland – bis 2012. Menagem übernimmt
       2020 das Ruder, mittlerweile gibt es rund 300 Mitglieder, zumindest auf dem
       Papier. Sie bieten queere, gendersensible Hebräischkurse an, organisieren
       Camps zu jüdischen Festen. Sie sind der einzige jüdische Verband im
       Berliner Landesjugendring seit dessen Gründung 1949.
       
       Für ein Geschichtsprojekt gewannen sie im Januar den Shimon-Peres-Preis des
       Auswärtigen Amts: Zum zehnjährigen Jubiläum der Wiedergründung reiste eine
       Delegation nach Israel, um in Archiven die Schicksale der früheren
       Mitglieder zu recherchieren. So fanden sie heraus, dass mindestens sieben
       von ihnen Teil der Herbert-Baum-Gruppe waren, einer jüdisch-kommunistischen
       Widerstandsgruppe gegen die Nazis. Sie erfuhren auch von einer
       Jugendkommune in Berlin.
       
       Doch der Schwarze Shabbat, wie der 7. Oktober in Israel genannt wird, hat
       Hashomer Hatzair auch in Deutschland nicht nur traumatisiert, er führt zu
       Ausschlüssen und Anfeindungen. In einem Instagram-Beitrag vom Februar
       berichten sie, dass sie aus einem nicht näher benannten „progressiven Raum“
       in einer großen deutschen Stadt ausgeladen worden seien, weil sie „nicht
       genug“ über den Krieg in Nahost gesagt hätten. Die Veranstaltung sollte
       eigentlich um die früheren Widerstandskämpfer der Bewegung im
       Nationalsozialismus gehen. Auf eine Anfrage der taz reagierte der
       Veranstaltungsort nicht.
       
       Solche Vorfälle dämpfen die Aufbruchstimmung. „Das jetzt sollte eigentlich
       die bislang beste Zeit der Bewegung in Deutschland sein“, beklagt Menagem.
       „Wir haben so hart darauf hingearbeitet.“ Es sei nicht leicht, eine
       ausgelöschte Gruppe wiederzubeleben. „Es gibt so viele jüdische
       Organisationen, die einfach nie zurückgekommen sind.“
       
       ## Zwischen den Stühlen
       
       Die Aneinanderreihung von Adjektiven macht es nicht leichter. Hashomer
       Hatzair gilt manchen Linken offenbar als zu „zionistisch“, und manchen
       jüdischen Organisationen als zu „links“ oder „säkular“. „Wir sitzen
       zwischen den Stühlen“, räumt Menagem ein.
       
       Besuch bei einer Peula – so heißen Gruppenaktivitäten – zum jüdischen Fest
       Purim. Da die Suche nach eigenen Räumen noch andauert, findet sie im
       Krav-Maga-Studio einer jüdischen Sicherheitsfirma im Berliner Westen statt.
       Die Kulisse ist wenig festlich: In einer Ecke liegen Schusswesten und ein
       Leichendummy, in der anderen hängt ein Fernseher, der Videos von
       Schießübungen und Anschlägen auf Dauerschleife zeigt. Das scheint die
       Anwesenden nicht sonderlich zu interessieren. Für die allermeisten
       jüdischen Jugendlichen gehören Antiterrortrainings sowieso längst zur
       traurigen Realität.
       
       Die Kinder und Jugendlichen spielen auf der Matte, einer ist als Harry
       Potter verkleidet, eine andere als Marienkäfer. An der Wand: eine
       Regenbogenflagge mit dem Logo von Hashomer Hatzair. Die Jugendorganisation
       will jüdische Tradition säkular vermitteln. Im Mittelpunkt steht
       Empowerment: Das Programm gestalten die Jugendlichen selbst. Heute wird
       Purim mit einem feministischen Fokus gefeiert.
       
       Im Nebenraum packt Leah Käser koschere Haman-Ohren aus, ein traditionelles
       Gebäck zu Purim. Verstärkung für die Pause. Die 27-jährige Schweizerin
       arbeitet als Koordinatorin. Mit neun Jahren trat sie dem Zürcher Ableger
       bei, wo die Jugendorganisation ununterbrochen seit 1935 existiert und
       deutlich größer ist. Im März besuchten die deutschen Wächter ihre
       Genoss*innen in Zürich.
       
       „Das Ziel ist, die Bewegung hier wachsen zu lassen“, sagt sie. Dafür
       brauche die deutsche Organisation eigene Räume für ein Jugendzentrum. „Das
       wird uns Stabilität geben.“ Auf ihrem Handy zeigt sie Fotos von den Räumen
       der Züricher Ken – genannt nach Yitzhak Rabin – im Keller der dortigen
       Jüdischen Gemeinde.
       
       Auch die Vorsitzende Nitzan Menagem hat große Pläne für Hashomer Hatzair
       Deutschland. Aber auch Angst. „Es ist eine gefährliche Situation für uns
       gerade“, sagt sie. „Ich habe Sorgen, dass unsere Verbündeten uns
       ausschließen werden.“ Seit dem 7. Oktober stehen die Stühle weiter
       auseinander denn je.
       
       11 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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