# taz.de -- Steinmeier in der Türkei: Die ganz große Dönerverdrehung
       
       > Erdoğan solle Deutschtürken nicht instrumentalisieren, lautet eine
       > beliebte Kritik. Bundespräsident Steinmeier hat nun in der Türkei
       > dasselbe getan.
       
 (IMG) Bild: Misslungene Geste: Bundespräsident Steinmeier in Istanbul
       
       Für ihren Lieblingsdöner stehen die Deutschen gerne eine halbe Stunde an.
       So selbstverständlich, wie sie bei fünf Minuten Verspätung über die
       Deutsche Bahn meckern. Denn Döner ist Lebensqualität, [1][Lebensstil,
       Lebensphilosophie]. Döner kann aber auch blenden. Das ist die
       Dönerdialektik.
       
       Das muss wissen, wer die große Aufregung um das Gastgeschenk des deutschen
       Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier anlässlich seines Türkeibesuchs
       verstehen will. Zu seiner dreitägigen Reise nahm er den Berliner
       Gastronomen Arif Keleş mit und der wiederum seinen 60-Kilo-Dönerspieß.
       Beim Empfang in der Sommerresidenz des deutschen Botschafters im Istanbuler
       Stadtteil Tarabya servierte Keleş sein Werk dann öffentlichkeitswirksam –
       inklusive Dönerschneidepose Steinmeiers für die Kameras, der einst von
       Angela Merkel ikonisierten Geste.
       
       Es überwogen peinlich berührte und empörte Reaktionen: Medien nannten es
       „Dönerdiplomatie“, und die Rechtsanwältin [2][Seda Başay-Yıldız twitterte]
       ähnlich wie viele andere: „Sprachlos, wenn man auf einen ‚Döner‘ reduziert
       wird.“ Sie hat Angehörige der Opfer der rechtsextremen NSU-Morde, die in
       der deutschen Öffentlichkeit jahrelang als „Dönermorde“ verharmlost
       wurden, vertreten.
       
       Man kann das populäre Kulturgut Döner natürlich als Symbol der
       deutschtürkischen Erfolgsgeschichte in Szene setzen, was die Urheber der
       Geschenkidee möglicherweise wollten. Aber ist das angesichts einer
       politischen Stimmung in Deutschland – in der eine Partei massiv erstarkt,
       die sich Deutschtürken nicht wieder hinter den Dönerspieß, sondern gleich
       [3][ganz raus aus Deutschland] wünscht – angemessen?
       
       ## Warum „würdigt“ Steinmeier in der Türkei?
       
       So berechtigt diese Frage mit der Enttäuschung, die in ihr steckt, ist, so
       sehr hat sie in der Debatte der letzten Tage doch andere Fragen überdeckt,
       die ganz ernst und überhaupt nicht rhetorisch gemeint sind:
       
       Warum „würdigt“ Steinmeier die „Lebensleistung türkischer Migranten in
       Deutschland“ [4][(„Tagesschau“)] auf einem Besuch in der Türkei, wenn diese
       „türkischen Migranten“ und ihre Nachkommen in Deutschland leben? Warum
       macht er dieses Thema überhaupt zu einem Schwerpunkt seines Türkeibesuchs,
       bei dem es um diplomatische Beziehungen zu einem Land geht, wo viele
       türkeistämmige Deutsche heute höchstens noch Urlaub machen? Und warum hat
       er ihr Lebenswerk bisher nicht ausreichend gewürdigt?
       
       „Heute leben in unserem Land fast drei Millionen türkeistämmige
       Menschen, die unsere Gesellschaft mitprägen und mitgestalten. Sie haben
       unser Land mitaufgebaut, sie haben es stark gemacht, und sie gehören ins
       Herz unserer Gesellschaft“, sagte der Bundespräsident zum Besuchsauftakt am
       Istanbuler Bahnhof Sirkeci. Nur, die Menschen, von denen er sprach, sind
       vor über 60 Jahren von diesem Bahnhof abgefahren, nach Deutschland.
       
       Nach Jahren der Zwietracht nähern sich Deutschland und die Türkei wieder
       an. Die deutsche Diplomatie will das gerade mit Blick auf die Kriege in
       Nahost und in der Ukraine und auf den türkischen Einfluss auf diese. Das
       hat der sanfte Umgang der Präsidenten miteinander während dieses Besuchs
       gezeigt. Das Problem: Es gibt jenseits wirtschaftlicher Beziehungen keine
       Gemeinsamkeiten, auf die sie sich dabei beziehen könnten.
       
       ## Döner, geschnitten und gedreht
       
       Die [5][gegensätzlichen Haltungen zum Krieg in Nahost] sind nur das
       markanteste Beispiel dafür. Der dreifache Besuch [6][Steinmeiers bei
       Politikern der oppositionellen CHP] ist ein weiteres. Über die
       unvereinbaren Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten spricht
       schon lange keiner mehr. Eine Version der deutschtürkischen
       Migrationsgeschichte, in der ihre [7][schmerzhaften und entwürdigenden
       Seiten] nicht mehr vorkommen, bleibt das Einzige, das ein Bundespräsident
       zur Verfügung hat, um Nähe herzustellen.
       
       Immer wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in den letzten
       Jahren versucht hat, Deutschtürken zu vereinnahmen, etwa vor Wahlen in der
       Türkei, kritisierten das deutsche Politiker:innen. Er sehe sie als
       Stimmvieh und manipulierbare Verhandlungsmasse. Er solle seine politischen
       Interessen nicht mit ihren Anliegen vermischen. Nun aber hat der
       deutsche Bundespräsident beides miteinander vermischt.
       
       Wofür der Döner dabei steht, ob er als Symbol von Selbstermächtigung und
       Autonomie oder von Ausbeutung und Rassismus erscheint, hängt vom Kontext
       ab, in dem er gedreht, geschnitten und verzehrt wird.
       
       Als müsste er ihre Existenz rechtfertigen, betonte Steinmeier in seiner
       Rede am Bahnhof Sirkeci, dass die Gastarbeiter:innen und ihre
       Nachkommen „mittlerweile auch in vier Generationen entscheidend zu unserem
       Wohlstand beitragen“ – und ergänzte ihren politischen Nutzen noch um den
       wirtschaftlichen. Gastronom Keleş [8][antwortete einem Reporter], der nach
       dem Geheimnis seines Döners fragte: „Das Fleisch, die Saucen, die
       Gewürzmischung – und immer sauber und diszipliniert arbeiten.“
       
       26 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Imbiss-Kritiken-im-Netz/!5977565
 (DIR) [2] https://twitter.com/SedaBasay/status/1781725309454135374
 (DIR) [3] /Reaktion-auf-das-rechte-Geheimtreffen/!5983000
 (DIR) [4] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/steinmeier-tuerkei-122.html
 (DIR) [5] /-Nachrichten-im-Nahostkrieg-/!6005613
 (DIR) [6] /Steinmeier-in-der-Tuerkei/!6006629
 (DIR) [7] /Wahlen-in-der-Tuerkei/!5932062
 (DIR) [8] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/erdogan-steinmeier-besuch-tuerkei-gaza-krieg-israel-100.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Volkan Ağar
       
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