# taz.de -- Wahlen in der Türkei: „Ich bin doch jetzt Deutscher“
       
       > Warum hat der türkische Präsident Erdoğan bei der Wahl fast die Hälfte
       > aller Stimmen bekommen? Lebenswege geben Aufschluss, in der Türkei und
       > hier.
       
 (IMG) Bild: Mietwucher im Revier: türkischer „Gastarbeiter“ 1974 in Duisburg
       
       Ein deutschtürkischer Freund, einer, der noch als sogenannter Gastarbeiter
       in dieses Land kam, ist vergangenes Wochenende in die Türkei gezogen –
       einen Tag vor den Wahlen dort.
       
       Vor seiner Abreise fragte ich ihn, wen er wählen würde. „Ich bin doch jetzt
       Deutscher. Ich kann da nicht mehr wählen“, antwortete er. Denn kurz vor
       seinem Wegzug hatte er endlich die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen.
       Und weil die doppelte Staatsbürgschaft für türkeistämmige Menschen noch
       immer ein bloßes Versprechen ist, musste er die türkische abgeben. Über
       Jahrzehnte hatte er ohne Wahlrecht in Deutschland gelebt. Und nun, an
       seinem ersten Tag zurück in der Türkei, konnte er wieder nicht wählen.
       
       Zwei Fragen werden in Deutschland nach der ersten Runde dieser Türkei-Wahl
       leidenschaftlich diskutiert: Warum hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan trotz
       seines Versagens angesichts der riesigen Probleme im Land –
       Wirtschaftskrise, Erdbebenkatastrophe, Korruption, fehlende
       Rechtsstaatlichkeit – [1][fast die Hälfte aller Stimmen bekommen?] Und
       warum fällt sein Stimmanteil unter Deutschtürken sogar noch größer aus?
       
       Von 2,8 Millionen Türkeistämmigen waren in Deutschland etwa anderthalb
       Millionen wahlberechtigt. Von diesem Recht hat die Hälfte (48,7 Prozent)
       Gebrauch gemacht. Davon haben 65,5 Prozent, [2][zwei Drittel, also knapp
       480.000 Menschen Erdoğan gewählt]. Nicht die Deutschtürken haben Erdoğan
       gewählt; aber eben sehr viele. Warum?
       
       ## Psychologische und klassenpolitische Aspekte
       
       Wenn man nach Antworten sucht, trifft man in der deutschen Debatte auf drei
       Erklärungen, deren Verfechter sie meistens so vortragen, als seien sie
       alleingültig:
       
       1. Viele türkeistämmige Menschen brächten mit der Wahl Erdoğans Unmut über
       mangelnde Akzeptanz in Deutschland zum Ausdruck. Sie nähmen dessen Angebot
       eines vermeintlich echten Zuhauses an. Die Wahlentscheidung sei Protest.
       
       2. Gastarbeiter:innen und ihre Nachkommen wählten Erdoğan, weil sie
       aus konservativen, proletarischen, wenig gebildeten Milieus in ländlichen
       Regionen stammten.
       
       3. Entscheidend seien nationalistische, islamistische und rassistische
       Ideologien, die unter Deutschtürken dominierten. Eine Erklärung, die auf
       soziologische Faktoren oder Diskriminierungserfahrungen abhebe, relativiere
       das Problem.
       
       ## Türkei als Projektionsfläche
       
       Wenn ich mich nun entscheiden müsste – und was die Debatte mir als
       Deutschtürken vermittelt, erzeugt den Eindruck, dass ich das muss –, würde
       ich sagen: Alle drei sind Teil der Antwort. Psychologische und
       klassenpolitische Aspekte gehen jedoch in diesem Erklärungswettbewerb
       unter.
       
       Dass in der Türkei viele Menschen einen Präsidenten wählen, der ihnen
       geschadet hat, ihre alltägliche Lebensqualität beeinträchtigt und das auch
       in Zukunft tun wird, was sie auf rationaler Ebene wissen; dass es
       Erdoğan-Wähler:innen in Deutschland, für die die Türkei ja mehr
       Projektionsfläche als Alltag ist, schwerfällt, ihre Wahlentscheidung in
       Worte zu fassen – diese Tatsachen deuten doch darauf hin, dass es
       psychologische Beweggründe gibt, die im Verborgenen bleiben. Wenn es darum
       geht, irrationales Handeln zu erklären, dann hilft ein psychoanalytischer
       Blick, der untersucht, was ins Unbewusste verbannt wurde, weil Menschen es
       bewusst nicht bewältigen konnten – und was sich oft in Form
       menschenfeindlicher Ideologie gegen als anders markierte Menschen, aber,
       wie die Wahl zeigt, auch gegen sich selbst und die eigenen Interessen
       richten kann.
       
       Was unterscheidet das Leben eines Erdoğan-wählenden ehemaligen Arbeiters,
       der in den 1960ern aus Anatolien nach Duisburg migriert ist, um dort in den
       Stahlwerken von Thyssenkrupp bis zur Arbeitsunfähigkeit zu schuften, vom
       Leben eines kemalistischen Finanzbeamten, der seine Rente im bourgeoisen
       Teil Istanbuls mit Blick auf den Bosporus verbringt? [3][Welche Erfolge,
       Enttäuschungen, Bestätigungen und Kränkungen] haben sie erlebt? Mit welchen
       politischen Entwicklungen und Kräften in den Herkunfts- und Zielländern
       verbinden sie Erlebnisse?
       
       Wer verstehen – und verändern – will, muss sich mit Lebenswegen
       auseinandersetzen. Und nein, verstehen bedeutet nicht, Verständnis zu
       haben, Menschen ihrer politischen Verantwortung zu entbinden oder
       Konsequenzen ihres Handelns schönzureden.
       
       Die bittere Ironie, dass mein Freund in seine alte Heimat zurückkehrt, um
       dort nun wieder ein Ausländer zu sein, brachte uns zum Lachen. Vielleicht
       trifft mich seine Geschichte mehr als ihn selbst. Vielleicht ist einem das
       Recht zu wählen nach so vielen Jahren ohne nicht mehr wichtig. Vielleicht
       hätte mein Freund aber auch, wenn er gekonnt hätte, wie viele andere in der
       Türkei und Deutschland Erdoğan gewählt.
       
       18 May 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Falsches-Wahlverhalten-in-Oder-Spree/!5932014
 (DIR) [2] https://mediendienst-integration.de/artikel/akp-verliert-in-deutschland-waehlerinnenstimmen.html
 (DIR) [3] /Studium-und-Klasse/!5912967
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Volkan Ağar
       
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