# taz.de -- Neue Mozart-Inszenierung in Berlin: Das Orchester ist eine Wucht
       
       > Kirill Serebrennikow inszeniert, James Gaffigan dirigiert Mozarts „Le
       > Nozze di Figaro“ an der Komischen Oper in Berlin. Musikalisch ist das
       > großartig.
       
 (IMG) Bild: Lieber kräftige Organe als schlanke Stimmen – und viele Regie-Einfälle: „Le nozze di Figaro“ in Berlin
       
       Vermutlich hat eine KI diese silbernen Plastiken entworfen, der
       Aufforderung gehorchend: „Entwirf Skulpturen im Stil von Henry Moore, die
       vage erotisch wirken und dabei entfernt an lustige Tierfiguren erinnern!“
       
       Das Bühnenbild stammt vom Regisseur selbst, der auf den oberen Teil seiner
       doppelbödigen Spielfläche für das Eingangsbild eine Plastik gesetzt hat,
       die zwar eindeutig einen weiblichen Torso darstellt, gleichzeitig aber
       aussieht wie ein auf der Seite liegender Seehund.
       
       „Kirill ist back“, hatte die Komische Oper die Premiere von „Le Nozze di
       Figaro“ in einem nicht minder ulkigen Sprachgemisch stolz angekündigt. Es
       ist [1][Kirill Serebrennikow]s zweite Mozart-Inszenierung am Haus (die
       erste im Ausweichquartier Schillertheater), nach [2][„Così fan tutte“] in
       der letzten Saison. „Don Giovanni“ wird folgen.
       
       Mozarts drei Da-Ponte-Opern werden oft als „Trilogie“ bezeichnet, was
       eigentlich Quatsch ist. Aber eine Trilogie kann daraus werden, wenn ihre
       Inszenierung wie hier in einer Hand liegt. Sereberennikow stellt die
       Verbindung zum einen über das Bühnenbild her.
       
       Auch in „Così“ hatte die Spielfläche zwei Ebenen; für den „Figaro“ ist sie
       sozusagen um eine Ebene nach unten verschoben worden: Während auf der
       Oberbühne das Leben von Graf und Gräfin Almaviva spielt, beherbergt die
       Unterbühne den Wirtschafts- und Dienstbotenkeller, in dem Waschmaschinen
       stehen und Figaro und Susanna eine Doppelmatratze ausbreiten dürfen –
       Geschenk des Grafen zu ihrer bevorstehenden Hochzeit. Es ist eine
       vergiftete Gabe, hat der Graf doch vor, an der attraktiven Susanna das ius
       primae noctis auszuüben…
       
       ## Cherubino endlich erlöst
       
       Die Handlung, bereits in Da Pontes Libretto wirr genug, wird bei
       Serebrennikow auf sinnstiftende Weise noch komplexer, indem er die
       symbolhafteste der Figuren verdoppelt – man könnte auch sagen: indem er
       Cherubino endlich erlöst. Cherubino, Sinnbild der reinsten, unschuldigsten
       Erotik, ist bei Da Ponte ein Knabe, der sich in jede nette Frau verliebt,
       und wird traditionell als Hosenrolle mit einer Mezzosopranistin besetzt.
       Bei Serebrennikow wird diese Amorfigur zu zwei Personen:
       Cherubino-Cherubina.
       
       Während Cherubino (Georgy Kudrenko) nicht sprechen kann und sich allein
       durch expressive Körperlichkeit ausdrückt, übernimmt Cherubina (Susan
       Zarrabi) es, ihn singend zu dolmetschen. Das ist sehr berührend, weil
       Cherubinas Spiel anzusehen ist, wie sehr sie selbst Cherubino liebt,
       gleichzeitig aber seine Liebeslieder an andere Frauen für ihn vortragen
       muss.
       
       Auch die Doppelung von Figuren hatte es in Serebrennikows „Così“ schon
       gegeben, dort aber als Erscheinungsformen von Fantasie und Wirklichkeit.
       Ein weiteres Element, das sich durch seine Operninszenierungen zieht, ist
       der Einsatz von auf die Bühne projizierten Chat-Protokollen der in ihre
       Smartphones tippenden Figuren. Das wirkt nun nicht mehr so originell wie
       noch im „Barbier von Sevilla“ vor ein paar Jahren.
       
       Dass das inszenatorische Modernisieren von inhaltlich überholten
       Opernstoffen seine Grenzen hat, merkt man diesem „Figaro“ deutlich an. Bei
       allem Einfallsreichtum des Regisseurs, und auch wenn schon Mozarts und Da
       Pontes Sympathien auf der Unterbühne lagen, ist nicht dagegen anzukommen,
       dass der Komponist die tollste Musik für die Oberbühne geschrieben hat. Dem
       Eifersuchts- und Verlassenheitsmelodram der Almavivas wird mehr Gewicht
       verliehen als dem Drama des Machtgefälles zwischen den Klassen, das eine
       angedrohte Vergewaltigung rechtens macht.
       
       ## Einfältiger Macho, smarte Susanna
       
       Dabei ist der Inszenierung deutlich eingeschrieben, dass die
       Sympathiegrenze hier nicht zwischen Oben und Unten, sondern zwischen Frauen
       und Männern gezogen wird. Tommaso Bareas fast parodistisch angelegter
       Figaro kommt als so einfältiger Macho daher, dass es ein Rätsel ist, was
       Penny Sofroniadous smarte Susanna an ihm findet. Aber mit seinem dröhnenden
       Bass und ihrem klar und bestimmt geführten Sopran sind sie ein
       klangphysisch schönes Paar.
       
       Klanglich ist der Abend überhaupt ein Fest. Das Ensemble ist nicht auf auf
       „mozartesk“ schlanke Stimmen gecastet worden, sondern auf kräftigere
       Organe, was nicht hundertprozentig zu jeder Rolle passt, aber insgesamt als
       Klangbild aufgeht. Vor allem müssen die Stimmen bestehen neben dem
       Orchester der Komischen Oper, das eine absolute Wucht ist, unter der
       Leitung von [3][James Gaffigan] auf einer eigenen Rolle im Drama besteht
       und einen Mozart musiziert, wie man ihn (heutzutage) sonst nicht hört.
       
       Gaffigan hat jeden eingeübten klassischen Duktus aus der Musik vertrieben
       und lässt sich ganz von ihrem dramatischen, komödiantischen Potenzial
       leiten. Oft dramatisch aufschäumend, gern schwungvoll überpointierend, dann
       wieder zärtlich begleitend, fühlt dieses Orchester das Liebessuchen der
       Menschen auf der Bühne mit und treibt die verquere Handlung nach Kräften
       mit voran. Das ist musikantisch im allerbesten Sinne.
       
       28 Apr 2024
       
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