# taz.de -- Kirill Serebrennikov am Hamburger Thalia-Theater: Der Regisseur der Freiheit
       
       > Kirill Serebrennikov darf am Thalia-Theater persönlich inszenieren. In
       > Russland war er Schikanen ausgesetzt – auch wegen seines Schwulseins.
       
 (IMG) Bild: Wirklich und leibhaftig: Kirill Serebrennikov am Thalia-Theater
       
       Überraschung. Andrej Kovrin, Protagonist von Anton Tschechows Novelle „Der
       schwarze Mönch“ murmelt erstaunt „Also ist Wahrheit in der Legende
       enthalten“, als ihm die Titelfigur des Werks erstmals gegenübersteht. In
       eine geradezu fantasmatische Existenz gedrängt sieht sich auch der
       russische Regisseur Kirill Serebrennikov, der die Erzählung fürs Hamburger
       Thalia-Theater dramatisiert hat: „Ob ich physisch existiere oder nicht?
       Eine gute Frage. Ich weiß es auch nicht mehr“, [1][hatte er schon 2019 in
       einem Interview seine Situation geschildert], nach den ersten zwei Jahren
       Hausarrest.
       
       Jetzt aber ist er raus aus der unwirklichen Situation.Vier Jahre nachdem er
       wegen der vermeintlichen Veruntreuung staatlicher Gelder festgesetzt wurde,
       hat man Serebrennikov für die Schlussproben ausreisen lassen. Seit Samstag
       kann er leibhaftig dem Schauspiel-Ensemble gegenüberstehen. Morgen feiert
       seine Inszenierung des Werks Premiere.
       
       „Der schwarze Mönch“ ist ein Text eines kanonischen Autors – aber nicht
       Teil des Kanons. Das geht auf Serebrennikovs Wunsch zurück. Keine
       Inszenierung der berühmten Tschechow-Dramen. Stattdessen eine fast intime
       Geschichte vom Gelehrten Andrej Vasiljic Kovrin, der Visionen hat, und dem
       die Begegnung mit dem mysteriösen Mönch hilft, die eigene intellektuelle
       Arbeit als heilige Aufgabe zu deuten. Auch wenn dies einen persönlichen
       Tribut bedeutet. „Du bist krank, weil du über deine Kräfte gearbeitet hast
       und erschöpft bist. Das bedeutet, dass du deine Gesundheit einer Idee
       geopfert hast“, eröffnet die Erscheinung ihm in der Erzählung. „Was könnte
       besser sein? Das ist das, was überhaupt alle hochbegabten edlen Naturen
       erstreben.“ Und Kovrin fühlt sich dadurch bestärkt. Der Gelehrte auf der
       Schwelle zwischen Genie und Wahnsinn: Ist das als selbstironischer
       Kommentar Serebrennikovs auf die Opfer zu deuten, die er seiner Kunst
       bringt?
       
       ## „Unrussische Ästhetik“
       
       Der Einschränkung seiner Mobilität waren jahrelange Schikanen durch die
       offiziellen Kulturpolitik Russlands vorangegangen, spätestens ab 2012, als
       Wladimir Medinski russischer Kulturminister wurde, ein Historiker mit
       Schummel-Promotion.
       
       Medinski, bis 2020 im Amt, verfolgte einen stark nationalistischen
       kulturpolitischen Kurs mit heftigen Attacken gegen das, was er als
       „unrussische Ästhetik“ bezeichnet. Laut Ulrich Schmid, Professor für Kultur
       und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, setzte im selben
       Jahr eine Abwertung von [2][Serebrennikovs Kunst als „dekadent und global“]
       ein, schreibt er im Russian Analytical Digest. Der schwule Regisseur passte
       idealtypisch ins Feindschema: In seinen Arbeiten setzt er sich oft damit
       auseinander, welche Rolle die Unterdrückung von Homosexualität für die
       künstlerische Produktion spielt. Ein absolutes Politikum in Russland. Dort
       gilt seit 2013 jegliche positive Äußerung über Homosexualität in den Medien
       oder in Anwesenheit von Minderjährigen als Straftat.
       
       ## Tschaikowskys Schwulsein prägte sein Leben und Sterben
       
       Spätestens mit Inkrafttreten des Gesetzes hatten die russischen
       Kulturbehörden begonnen, Serebrennikov zu canceln. Dem Projekt, ein Biopic
       über den Komponisten Piotr Tschaikowsky zu drehen, wurde 2013 der Geldhahn
       abgedreht. Eine Unterstützung des staatlichen Filmfonds hätte es nur
       gegeben, wenn das Privatleben des Musikers nicht thematisiert worden wäre:
       Tschaikowskys Leben und Sterben ist dadurch geprägt, dass er schwul war –
       was die russische Kulturpolitik gern leugnet.
       
       Im Juli 2017 wurde dann die Premiere von Serebrennikovs Ballett „Nurejew“
       amtlich gestoppt. Rudolf Nurejew war einer der großartigsten Tänzer des 20.
       Jahrhunderts und das Stück kreist um seine zärtliche Liebe zum dänischen
       Tänzer Erik Bruhn. Als das Werk im Dezember 2017 schließlich doch [3][seine
       Uraufführung am Bolschoi erlebte], stand der Regisseur bereits unter
       Arrest. Später, im Prozess, forderte die Staatsanwaltschaft eine
       mehrjährige Lagerhaft für ihn.
       
       Der Vorgang sei als Machtdemonstration zu deuten, ist sich der russische
       Autor Dimitri Bykow sicher. Mit ihr werde „dem Westen noch einmal gezeigt,
       dass hier niemand auf seine Meinung angewiesen ist“, [4][zitiert ihn das
       preisgekrönte Web-Portal dekoder.org]. „Der Westen verleiht Serebrennikov
       demonstrativ Theaterpreise, Russland erniedrigt ihn demonstrativ und
       öffentlich.“ Und das alles aufgrund von unbewiesenen Anschuldigungen. Damit
       würden die Machthaber zeigen, „dass sie auf das Recht pfeifen, auf den
       Künstler und auf das ganze Land“, so Bykow weiter. Und auf die zahllosen
       Solidaritätsbekundungen renommiertester Künstler*innen von
       Schauspielerin Cate Blanchett über Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff bis
       zum Geiger Gidon Kremer [5][natürlich erst recht].
       
       Von seiner künstlerischen Arbeit ließ sich Serebrennikov nicht abhalten.
       Seine erste Inszenierung aus der Gefangenschaft heraus war Mozarts Sex-Oper
       „Così fan tutte“, die im Herbst 2018 in Zürich Premiere feierte. Per
       Videobotschaften begleitete der Regisseur die Proben. Ähnlich entstanden
       auch sein Hamburger „Nabucco“ an der Staatsoper und die Uraufführung des
       von ihm selbst verfassten Stücks „Outside“, 2021 an der Berliner
       Schaubühne.
       
       ## „Eine Zeit der Dauerdepression“
       
       Die während des Hausarrests entstandenen Produktionen thematisieren fast
       durchgängig Gefangenschaft: „Outside“ beschäftigt sich mit dem durch Haft
       und Repression 2017 in den Suizid getriebenen chinesischen Fotografen Ren
       Hang. Und wer Giuseppe Verdis „Nabucco“ sagt, denkt: Gefangenenchor. Der
       Regisseur, dessen Vertrag als Intendant des Gogol-Centers in Moskau
       inzwischen ohne Begründung beendet wurde, hat seine Haft so produktiv
       gemacht wie möglich.
       
       Joachim Lux freut sich über die Reisegenehmigung. „Die Zeit in der wir
       leben, ist eine Zeit der Dauerdepression“, sagt der Intendant des Thalia,
       „da ist eine solche Nachricht großartig.“ Es sei einfach „ein Wunder“, dass
       der Künstler habe nach Hamburg kommen dürfen. Fragt sich, wer hier Regie
       geführt hat. Denn dass die Freilassung selbst Teil einer Inszenierung sein
       dürfte, so zeitlich dicht am ersten Russland-Besuch von Teilen der neuen
       Bundesregierung, liegt nahe. Und Gnade walten zu lassen, gar Wunder zu tun,
       ist selbst ein Ausdruck von grenzenloser Macht.
       
       22 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=NK0UPlEIwIw
 (DIR) [2] https://css.ethz.ch/en/services/digital-library/articles/article.html/742aef12-57db-4ffb-accd-a3f4e515d91d
 (DIR) [3] https://www.dw.com/de/skandal-premiere-nurejew-im-bolschoi-theater-in-moskau/a-41718730
 (DIR) [4] https://www.dekoder.org/de/article/presseschau-serebrennikow-hausarrest-prozess
 (DIR) [5] https://www.change.org/p/freiheit-f%C3%BCr-kirill-serebrennikov-freekirill
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lenard Brar Manthey Rojas
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Thalia-Theater
 (DIR) Russland
 (DIR) Homophobie
 (DIR) Oper
 (DIR) Thalia-Theater
 (DIR) Theater
 (DIR) Kirill Serebrennikov
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Thalia-Theater
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) taz.gazete
 (DIR) Musiktheater
 (DIR) Theater
 (DIR) Politisches Theater
 (DIR) Russland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Neue Mozart-Inszenierung in Berlin: Das Orchester ist eine Wucht
       
       Kirill Serebrennikow inszeniert, James Gaffigan dirigiert Mozarts „Le Nozze
       di Figaro“ an der Komischen Oper in Berlin. Musikalisch ist das großartig.
       
 (DIR) Boykottaufruf gegen Thalia-Theater: Joachim Lux spart sich die Frauen
       
       Der Intendant des Thalia-Theaters stellt für die Abschiedssaison einen fast
       frauenfreien Spielplan zusammen. Pro Quote ruft zu Boykott auf. Zu Recht.
       
 (DIR) Postsowjetisches Theater: Staatliche Identität
       
       In Marina Davydovas „Museum of Uncounted Voices“ streiten sich am Berliner
       HAU ehemalige Sowjetstaaten über den Verlauf der Geschichte.
       
 (DIR) Filmgroteske „Petrov’s Flu“ im Kino: Entführt im Leichenwagen
       
       In Kirill Serebrennikows Filmgroteske „Petrov’s Flu“ flüchtet eine Familie
       aus dem Irrsinn des postsowjetischen Alltags in radikale
       Befreiungsfantasien.
       
 (DIR) Boykott von Tschaikowsky: Im Krieg mit den Klassikern
       
       Der ukrainische Kulturminister fordert von Europa, Werke des russischen
       Komponisten Tschaikowsky zu boykottieren. Das Gegenteil zu tun, wäre
       schlauer.
       
 (DIR) Dramaturgin über „Nachbarşchaften“: „Diverse Einwanderungsgeschichten“
       
       Geschichten und Diskussionen übers Zusammenleben mit
       Einwanderungsgesellschaften: das Festival „Nachbarşchaften – Komşuluklar“
       am Thalia Gauß.
       
 (DIR) „Gogol-Center“ in Moskau: „Das ist ordinärer Mord“
       
       Auf behördliche Weisung wird das kritische Theater „Gogol-Center“ in Moskau
       umbenannt. Ein neuer Intendant soll es auf Kreml-Kurs bringen.
       
 (DIR) Proteste gegen Putin in der Theaterwelt: „Wir haben wieder versagt“
       
       Putins Krieg spaltet die Theaterschaffenden in Russland. Das kann man einem
       Kriegstagebuch einer Theaterzeitschrift entnehmen.
       
 (DIR) Theater in Moskau: Kleiner Wink von oben
       
       Propaganda ist mächtig in Moskau. Einige Theater versuchen, einen
       Gesprächsraum zu öffnen. Das kleine Teatr.doc probt eine politische Satire.
       
 (DIR) Experimentelles Musiktheater: Fortsetzung folgt
       
       Ein selten schönes Opernereignis ist das Projekt „Once to be realised“ an
       der Deutschen Oper Berlin. Es beruht auf Skizzen des Griechen Janis
       Christou.
       
 (DIR) Theaterstück über geflüchtete Kinder: Mimits Kampf mit den Monstern
       
       Nikolaus Habjan inszeniert „Fly Ganymed“ in Stuttgart. Puppen übernehmen
       ästhetisch überzeugend die Rollen von minderjährigen Geflüchteten.
       
 (DIR) Theater und Klimakrise: „Gretas Panik“ und „Bills Hoffnung“
       
       Frontalunterricht oder Kunst? Die Klimakrise ist kein einfacher Stoff für
       das Theater, wie „2027 – Die Zeit, die bleibt“ in Mannheim wieder zeigte.
       
 (DIR) Homophobie in Russland: Alles Queere sitzt dem Kreml quer
       
       Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten passt nicht ins Bild von Wladimir
       Putins konservativem Russland. Ein Blick auf die LGBTQ-Community.