# taz.de -- Postsowjetisches Theater: Staatliche Identität
       
       > In Marina Davydovas „Museum of Uncounted Voices“ streiten sich am
       > Berliner HAU ehemalige Sowjetstaaten über den Verlauf der Geschichte.
       
 (IMG) Bild: Zuschauer im HAU Berlin begutachten die Bühne
       
       Das Ende der Geschichte, wie Francis Fukuyama es ausgerufen hat, ist nicht
       eingetreten. In Saudi-Arabien und Iran regieren Machthaber repressiv,
       [1][auch China und Russland schieben Demokratie und Meinungsfreiheit lieber
       in die westliche Ecke.]
       
       Wie wichtig die Geschichte für die Identitätsbildung von Staaten ist, hat
       die Autorin und Regisseurin Marina Davydova zum Kern ihres Stückes „Museum
       of Uncounted Voices“ gemacht, das am Mittwoch im HAU Berlin-Premiere (davor
       in Wien und Freiburg) feierte und Auftakt für das Festival „Voices“ ist,
       das einen Fokus auf Inszenierungen von Autor:innen aus der
       Ex-Sowjetunion legt. Davydova, die sich in Russland in Opposition zum Krieg
       gegen die Ukraine stellte und das Land daraufhin verlassen musste, lädt in
       Berlin zur Geschichtsstunde.
       
       Wie Russland zum größten Land der Erde wurde, erzählt ein pathetischer
       Erzähler aus dem Off. Russland habe nie Land eingenommen, lernt man,
       sondern stets „zurückerobert“ – auch wenn diese angeblichen Ansprüche auf
       vormongolische Zeiten zurückgehen.
       
       Herrschaftsobjekte bebildern die Siegesgeschichte des Landes. Durch das so
       aufgeklappte Museum (Bühne: Zinovy Margolin) können Zuschauer:innen die
       Bühne betreten, Vitrinen studieren, sich von autoritären Erzählstimmen
       belehren lassen.
       
       ## Wenn Nationen sprechen
       
       In dem in Episoden unterteilten Stück sprechen als Zweites die Nationen.
       Eine Tür öffnet sich und „die Ukraine“ erzählt die Geschichte der Kyiwer
       Rus, körperlos über Lautsprecher. [2][Belarus, Armenien, Aserbaidschan und
       Georgien stimmen mit ihren jeweiligen Geschichtsschreibungen ein, streiten
       sich über den Ausgang von Kriegen, über die Bedeutung von Genoziden und
       Gebietsverlusten.]
       
       Sie tun das als Wandschränke, in denen Trachten die nationalen Unterschiede
       symbolisieren. Das wirkt genauso veraltet wie ihre bis in die
       vorchristliche Zeit zurückreichenden Streitereien unsinnig; die
       Lebensrealität der Armenierinnen und Belarussen bemisst sich heute eher am
       Internetzugang und am Grad der Korruption, denn an mittelalterlichen
       Landkarten.
       
       Bis hierhin hat die einzige Schauspielerin (Chulpan Khamatova, im Wechsel
       mit Marina Weis) noch immer nichts gesagt. Der einzelne Mensch ist
       unwichtig angesichts jahrhundertealter Herrschaftsansprüche. In Davydovas
       Erzählung klingt es so, als sei die ehemalige Sowjetunion das
       komplizierteste Gebilde der Welt.
       
       ## Willkürliche Grenzziehungen
       
       Dabei ist die Weltgeschichte eine der willkürlichen Grenzziehungen: Man
       schaue sich nur an, welche Auswirkungen das [3][Sykes-Picot-Abkommen] bis
       heute im Nahen Osten oder die rechtwinkligen Grenzverläufe in Afrika mit
       sich bringen.
       
       Ob die Bedeutung, die man nationalen Erzählungen und Kriegsverlusten
       beimisst, nicht weniger mit realen, verletzten Gefühlen denn mit dem
       Lebensstandard zu tun hat, der sich unter Nationalismus besser verschleiern
       lässt, ist eine Frage, die Davydova so direkt nicht stellt. Der Unterschied
       zwischen Regierenden und Regierten droht angesichts der personifizierten
       Nationalstaaten unter den Tisch zu fallen.
       
       Davydovas eigene Geschichte findet ebenfalls Eingang ins Stück. Als Tochter
       eines Armeniers in Baku geboren, floh sie 1990 während des Pogroms an den
       Armenier:innen nach Moskau. Ein Pogrom, das aufgrund der Tragweite
       eines Ereignisses 1991 fast in Vergessenheit geriet; dem Zerfall der UdSSR.
       Belarus, das als Wandschrank an seine Protestwelle 2020 erinnert, hat
       leider recht: Die Welt, sie hat ein kurzes Gedächtnis.
       
       28 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Pussy-Riot-fuer-Ukraine/!5901683
 (DIR) [2] /Theaterfestival-Radar-Ost-in-Berlin/!5918764
 (DIR) [3] /Kurdinnen-im-Nahen-Osten/!5659737
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Hubernagel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Theater
 (DIR) Sowjetunion
 (DIR) Osteuropa
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Türkei
 (DIR) Thalia-Theater
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Ukrainische Kunst in Köln: Den Blick verschieben, Labels ändern
       
       Die ukrainischen Avantgarden tauchen in der Kunstgeschichte kaum auf. Das
       Museum Ludwig versucht sie in einer Ausstellung umzuschreiben.
       
 (DIR) Roman über Nachwirken des Genozids: Bleibende Erinnerungen
       
       Die Großmutter eine Überlebende, der Großvater ein Profiteur des Genozids
       an den Armeniern. Marc Sinans Debütroman „Gleißendes Licht“.
       
 (DIR) Kirill Serebrennikov am Hamburger Thalia-Theater: Der Regisseur der Freiheit
       
       Kirill Serebrennikov darf am Thalia-Theater persönlich inszenieren. In
       Russland war er Schikanen ausgesetzt – auch wegen seines Schwulseins.