# taz.de -- Start der 70. Kurzfilmtage Oberhausen: „Ein Klima des Ressentiments“
       
       > Der Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, Lars Henrik Gass,
       > erhält Anfeindungen für seine Solidarität mit jüdischen Opfern.
       
 (IMG) Bild: Die Lichtburg in Oberhausen: Zu den Internationalen Kurzfilmtagen gab es diesmal vor Beginn Absagen
       
       Seit seinem Facebook-Posting vom 20. Oktober mit dem Aufruf zur
       Solidarität mit den jüdischen Opfern des 7. Oktober 2023 auf der Website
       der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen [1][wird dessen Leiter Lars
       Henrik Gass offen angefeindet.] Nach einem offenen Brief gegen ihn hagelte
       es Absagen. [2][Das renommierte Festival feiert ab dem 1. Mai seinen 70.
       Geburtstag], Gass leitet es seit 1997. 
       
       taz: Herr Gass, steht das Programm der Kurzfilmtage Oberhausen? 
       
       Lars Henrik Gass: Die Gesamtzahl der Einreichungen ist stabil geblieben, da
       liegen wir etwa beim Vorjahr. Es ist ein schönes Programm geworden. Was die
       Absagen anbelangt, muss man unterscheiden zwischen dem Bereich der
       institutionellen Absagen, die auch Programmsektionen betreffen, und den
       Absagen von einzelnen Filmemacher*innen. Es waren zum Beispiel
       ursprünglich 14 Programmplätze für die Sektion der Verleihe vorgesehen,
       davon sind drei übrig geblieben. Weitere drei haben wir ersetzt, sodass wir
       jetzt sechs im Programm haben.
       
       Was ist mit den Wettbewerben? 
       
       In den Wettbewerben haben kaum Leute abgesagt. Es gab aber zum Teil kuriose
       Situationen, dass etwa ein Film zur Deadline eingereicht worden war, binnen
       vier Wochen ausgewählt und dann abgesagt wurde. Da frage ich mich: Was ist
       in dieser kurzen Zeit passiert, was geht in den Leuten vor?
       
       Was denn? 
       
       Die Frankfurter Soziologin Alexandra Schauer, die ich sehr schätze,
       bezeichnet diese Entwicklung als „rituelle Vergemeinschaftung“. Es geht
       darum, die Reihen zu schließen.
       
       Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe stiftet also Identität? 
       
       Einen kulturellen Code, der inzwischen Mainstream ist: etwas gegen Israel
       zu haben. Ohne dass man diesen Code reproduziert, indem man die Hand hebt
       oder unterschreibt, kann man in weiten Teilen des Kulturbetriebs heute gar
       nicht mehr bestehen. Besonders stark ist der Konformitätsdruck im Bereich
       der bildenden Kunst ausgeprägt.
       
       Was passiert da eigentlich, und was sind die Konsequenzen? 
       
       Mit den neuartigen Formen des Aktionismus und der Politisierung von Kunst
       werden Ressentiments bewirtschaftet und „Volksgerichte“ errichtet. Dabei
       wissen wir spätestens seit Fritz Langs „M“, dass es immer falsch ist, auf
       Einzelne oder Minderheiten loszugehen. Die Affektökonomie dieser Kampagnen
       ist zudem sehr regressiv, weil sie auf Widerspruchsfreiheit abzielt.
       
       Kommt es noch zum Dialog? 
       
       Kein Dialog, kein Diskurs, man kann nichts mehr adressieren, nichts mehr
       erklären, nichts mehr aushandeln. Es ist ein repressives Verständnis von
       Politik, denn mit anonym gesteuerten Kampagnen zielt man eben gerade nicht
       auf Widerstreit ab, der das Wesen der Demokratie ist, sondern auf
       Zerstörung. Die Wirkung dieser Kampagnen ist nicht regulierbar und nicht
       aufzuhalten.
       
       Können Sie mehr über das Politikverständnis sagen, das sich in den von
       Ihnen wahrgenommenen Entwicklungen manifestiert? 
       
       Es ist ein sehr esoterisches Verständnis von Politik, das mit realen
       sozialen Fragen wenig zu tun hat. Die „Stimme des palästinensischen Volkes“
       etwa ist ja auch eine Projektion! Dazu kommt eine Entgrenzung von
       Begriffen. Ein Beispiel ist der Begriff Rassismus; dieser Vorwurf wurde
       übrigens auch gegen unser harmloses Posting erhoben, das lediglich spontane
       Empathie mit den Opfern des 7. Oktober zum Ausdruck bringen sollte – das
       war ja kein Statement zu Kriegshandlungen. Völlig losgelöst von realen
       Verhältnissen kann aber derzeit fast alles skandalisiert werden.
       
       Zurück zum Abschied vom Konzept des Individuums zugunsten des Kollektivs:
       Erklärt diese Tendenz auch die Abkehr von „westlichen“ Vorstellungen von
       Kunst, meinetwegen der des alten weißen Mannes, die mit dem Begriff von
       Autorschaft operieren? 
       
       Es handelt sich meiner Meinung nach um eine Krise des Emanzipatorischen
       selbst. Das Problem ist, dass man Hierarchien als autoritär denunziert und
       durch Kollektive aufzulösen versucht, die eine fiktionale Einheit
       versprechen, um Widersprüche verschwinden zu lassen.
       
       Wie bei der documenta 15 etwa? 
       
       Ja, daher [3][halte ich die vergangene documenta nicht nur auf der
       ikonografischen Ebene für antisemitisch], weil sie gewissermaßen die
       Fiktion widerspruchsfreier Volksgemeinschaft darstellte, die Widersprüche
       einfach nur ausgrenzen kann.
       
       Was bedeutet das für die Kunst? 
       
       Ich halte es für ein Problem, dass in diesem Prozess die Objekte aus dem
       Blick geraten, die Kunst selbst. Für Ästhetik gibt es keine Begriffe mehr,
       weil die Ästhetik nun das Vehikel ist, um politisches Engagement zu
       transportieren. Volksgemeinschaft ist ein Schreckensszenario, das Gegenteil
       davon, was Kunst und Kultur einmal auszeichnete. Nämlich, dass dort
       gesellschaftliche Widersprüche durch vertiefte Wahrnehmung und genaueres
       Denken sichtbar werden können. Es gibt diesen schönen Text von Handke, in
       dem er von der noch nicht bewussten Möglichkeit der Wirklichkeit spricht.
       
       Es fehlt Ihrer Meinung nach die Distanz zur Tagespolitik? 
       
       Der Kulturbereich steht heute selbst inmitten der geopolitischen Konflikte.
       Aber es ist eine naive Anmaßung zu denken, man könne diese hier ohne
       Schaden für die Kultur austragen oder gar lösen.
       
       Was bedeutet das allgemein für die Kritikfähigkeit? 
       
       Kritik, Widerspruch – und sei es nur als Empathie mit Opfern – wird als
       Störung, als Beleidigung empfunden. Ich finde das beunruhigend. Wenn nur
       noch Kulturkonvente bestehen, die gemeinsame Gesinnungen teilen, haben wir
       ein echtes Problem. Da möchte ich nicht enden. Bei aller Anerkennung der
       Teilhabeansprüche: Mittlerweile werden derart viele Teilhabeansprüche an
       Kultur gerichtet, die einfach nicht mehr künstlerisch begründbar sind und
       widerspruchsfrei eingelöst werden können.
       
       Seit wann haben sich diese Entwicklungen verdichtet und wie? 
       
       Diesen Prozess beobachte ich in Oberhausen schon seit längerer Zeit, er
       äußert sich beispielsweise in der Frage nach der Legitimität von
       Wettbewerben. Also: Wer entscheidet, warum muss es überhaupt einen
       Vergleich geben? Im Auswahlgremium die ganze Komplexität einer Gesellschaft
       abbilden zu wollen ist aber unmöglich, ebenso, jede Ablehnung bei
       durchschnittlich jährlich 7.000 Einreichungen zu erklären. Unser Festival
       verfolgt nun mal den universalistischen Anspruch, alle angehen zu wollen.
       Und Festivals gibt es darüber hinaus wirklich reichlich, um Vielfalt
       garantieren zu können.
       
       Wie sieht es konkret aus mit Filmen aus dem arabischen Raum und aus
       Palästina? 
       
       Ein Programm im letzten Jahr war sogar palästinensischen Filmemachern
       gewidmet! Diesmal hatten wir einen Verleih aus den Niederlanden eingeladen,
       der uns mitteilte, er werde nur teilnehmen, wenn er einen palästinensischen
       Filmemacher präsentieren könne. Das fanden wir prima, zumal genau dieser
       Filmemacher in Oberhausen bereits präsentiert wurde, als es den
       niederländischen Verleih noch gar nicht gab. Am Ende wollte der Filmemacher
       nicht; das Programm wurde vom Verleih abgesagt.
       
       Nach dem ersten Shitstorm: Was lesen Sie jetzt in den sozialen Medien? 
       
       Wir spüren ein diffuses Klima des Ressentiments, der Vereindeutigung von
       Verhältnissen, eine Verweigerung von Ambiguität. Als noch viel bedrückender
       aber empfinde ich das Klima der Regungslosigkeit, bei dem man den Eindruck
       gewinnt, dass viele durch Stillhalten möglichst schnell über die Krise
       kommen wollen, ohne selbst Schaden zu nehmen. Ich fürchte, das wird nicht
       funktionieren. Nur durch neue Verabredungen zum Umgang miteinander und
       durch bessere Kunst kommen wir aus der Ideologisierung wieder raus. Es
       fehlt derzeit aber noch die agency dafür.
       
       28 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.kurzfilmtage.de/de/presse/detail/stellungnahme-zur-kritik-am-fb-post-der-kurzfilmtage-vom-20-oktober-2023/
 (DIR) [2] https://www.kurzfilmtage.de/de/festival/programm/
 (DIR) [3] /Antisemitische-Hetze-auf-der-documenta/!5877969
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Regine Müller
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Film
 (DIR) Israel
 (DIR) Oberhausen
 (DIR) Hamas
 (DIR) Oberhausen
 (DIR) Oberhausen
 (DIR) Martini Shot
 (DIR) Film
 (DIR) Filmfestival
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kurzfilmtage Oberhausen: Die verdammten Wassermelonen
       
       Manche Filme kommen wieder: Die Reihe „Übersehene Filme“ in Oberhausen
       zeigt einen Film von 1966 über die Segregation in den USA.
       
 (DIR) Zwischenbilanz Kurzfilmtage Oberhausen: Kunst statt Parolen
       
       Ernsthafte Debattenfreude, hoher Schauwert, Universalismus: Eindrücke von
       den Oberhausener Kurzfilmtagen stimmen positiv.
       
 (DIR) Proteste an der Columbia University: Die linke Sorge um Deutschland
       
       Der Nahost-Diskurs ist verrottet. Aber was viele nur für Deutschland
       beklagen, ist anderswo nicht besser. Ein kurzer Blick nach New York und
       London.
       
 (DIR) Die Kurzfilmtage und Israel: Hysterie und Solidarität
       
       Der Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen wird für einen Facebook-Post zu
       Israel angefeindet. Support bekommt er aus der deutschen Filmbranche.
       
 (DIR) Internationale Kurzfilmtage Oberhausen: Trampelpfade verlassen
       
       Das Filmfestival überzeugte mit Vielfalt. Sie zeigte die Welt in Formen der
       Abstraktion bis strenger Kurzdoku und eröffnet damit neue Perspektiven.