# taz.de -- Kulturkampf um Political Correctness: Woker woke sein
       
       > Der Kampf für eine emanzipatorische Sprache ist nicht erfolgreich. Die
       > Debatte ist zu akademisch und geht an den Menschen vorbei, um die es
       > geht.
       
 (IMG) Bild: An vielen Menschen, die nicht im akademischen Milieu zuhause sind, geht die Debatte um Wokeness komplett vorbei
       
       Ein Großteil der deutschen Bevölkerung mag Wokeness nicht. Viele hassen sie
       sogar. Diese Abneigung hegen nicht nur reiche weiße Männer. Komisch,
       eigentlich. Obwohl woke Kulturkämpfer für die Rechte von Frauen und
       Migranten kämpfen, lehnt die [1][große Mehrheit der Frauen
       geschlechtergerechte Formulierungen ab. Das zeigen alle Umfragen] der
       letzten fünf Jahre.
       
       In den [2][USA lehnen migrantische Gruppen zu über 80 Prozent Political
       Correctness] ab, obwohl die meisten von ihnen Rassismus als Problem
       ansehen. Das dürfte in Deutschland kaum anders sein. Dafür gibt es zwei
       Gründe: eine aggressive Form des woken Aktivismus sowie antiwoke
       Propaganda.
       
       Insbesondere rechtspopulistische Akteure forcieren seit über drei
       Jahrzehnten das Narrativ einer wahnsinnigen Ideologie, die vermeintlich den
       Westen zerstöre. „Wokeness“ bezeichnet ursprünglich die Wachheit gegenüber
       bestimmten Diskriminierungsformen wie Rassismus und Sexismus.
       
       Es handelt sich aber inzwischen um einen Kampfbegriff, der fast
       ausschließlich negativ benutzt wird. Er ist mit Identitätspolitik und
       Cancel Culture [3][nachweislich] eine Wiederauflage des Diskurses von der
       Political Correctness.
       
       ## Rechtspopulistische Internationale
       
       Gestärkt wird diese Propaganda von Akteuren aus so gut wie allen Lagern.
       Zentraler Antreiber ist aber eine Art rechtspopulistischer Internationale.
       Dazu gehören mächtige Medienunternehmen wie der amerikanische Sender
       Fox-News, die britische Sun oder die deutsche Bild. Mit dabei sind sowohl
       die AfD, Teile der CDU und der CSU sowie Donald Trump und Wladimir Putin.
       
       Das Geschrei der antiwoken Propaganda vergiftet die Debatte. Es lässt nur
       übrig, dafür oder dagegen zu sein. Dabei würde eine differenzierende
       Diskussion dem Ganzen guttun. Quasi eine Debatte unter Erwachsenen.
       
       Dazu gehört erst einmal, etwas genauer zu bestimmen, was „Wokeness“ ist.
       Sachlicher ist der Begriff „emanzipatorische Kulturpolitik“: Eine bestimmte
       Form des politischen Aktivismus, der – inspiriert von postkolonialen und
       feministischen Theorien – einen Fokus auf kulturelle und sprachliche Fragen
       legt.
       
       Dieser Aktivismus ist prinzipiell sinnvoll und seit den 1960er Jahren in
       den westlichen Ländern extrem erfolgreich. Schon damals wurde der Einfluss
       emanzipatorischer Kulturpolitik in schrillen Tönen beklagt. Dennoch
       erreichte diese Energie einen kulturellen Wandel. Die westlichen
       Gesellschaften sind besser und freier geworden.
       
       ## Weit weg vom Kulturkampf
       
       Der Kampf ist aber noch nicht zu Ende. Es sieht allerdings nicht so aus,
       als wäre dieser Kampf weiterhin erfolgreich. Und das liegt nicht nur an der
       antiwoken Propaganda. Heute wendet sich der Aktivismus zumindest in
       Deutschland deutlich seltener gegen offen diskriminierende Gesetze oder
       Strukturen. Gekämpft wird hauptsächlich um kulturelle Tiefenstrukturen.
       Hier ist ein konsequenter und aggressiv daherkommender Aktivismus auf
       mehreren Ebenen problematisch.
       
       Wenn wir jede Diskriminierung oder Machtausübung angreifen wollen, ist das
       ein endloser Vorgang. Gerade Leute, deren Ressourcen daran gebunden sind,
       ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen und ansonsten kein Arschloch
       zu sein, haben mit Erschütterungen ihres Welt- und Selbstbildes
       verständlicherweise ein Problem.
       
       Dazu kommt, dass bestimmte Haltungen und Werte auch „gute“ Gründe in den
       konkreten Lebensbedingungen der Menschen haben. Für viele ist das Wegbeißen
       von Schwäche eine notwendige Fähigkeit, um in der kapitalistischen
       Gesellschaft klarzukommen. Leuten das als „toxische Männlichkeit“ um die
       Ohren zu hauen, ist nicht hilfreich.
       
       Es stimmt ja: Toxische Männlichkeit ist real. Sie sollte benannt und
       bekämpft werden. Aber die entscheidende Ebene dieses Kampfes sind die
       materiellen Bedingungen, die dieses Gift nötig machen. Das zu ignorieren
       ist klassistisch.
       
       ## Warum sich der Paketbote nicht PoC nennt
       
       Kennen Sie einen Verkäufer oder eine DHL-Lieferantin mit
       Migrationsgeschichte, die oder der sich „PoC“ nennt? Als „People of Color“
       bezeichnen sich in der Regel Leute, die etwas Geisteswissenschaftliches
       studiert haben oder studieren. Oder sie entstammen einem Milieu, das stark
       akademisch geprägt ist. Ernsthafte Kulturkritik ist kaum machbar, ohne den
       aktuellen, akademischen Diskussionen zu folgen.
       
       Die mindestens zum Teil richtige Erkenntnis, dass wir allesamt rassistisch
       oder sexistisch sozialisiert sind, bedarf großer emotionaler und
       intellektueller Ressourcen. Sie ist für Leute aus akademischen Milieus
       deutlich leichter als für DHL-Lieferantinnen.
       
       Dabei haben Letztere ein gutes Recht darauf, sich nicht einfach so die
       Selbstverständlichkeiten ihres Alltagsdenkens und Fühlens wegnehmen zu
       lassen. Zumal fraglich ist, wie viel Gutes eine aggressive Kulturkritik für
       die Veränderung von kulturellen Tiefenstrukturen bringt.
       
       Es stimmt: Versteckte Ungleichheitsideologien in Sprache und Kultur zu
       hinterfragen, ist sinnvoll und kann befreiend wirken. Wenn aber Mehrheiten
       abgestoßen werden und sogar ein Großteil der Betroffenen eine aggressive
       Herangehensweise nicht hilfreich findet, sollte das zu denken geben.
       
       ## Sanftere Wokeness
       
       Bei offensichtlicheren Fällen von Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus
       kann eine aggressive Vorgehensweise sehr sinnvoll sein. Ein großer Teil der
       #MeToo-Fälle zeigt sich ja gerade darin, dass bestimmte Leute die Grenzen
       anderer nicht respektieren. Diese lassen sich nicht durch freundliche
       Denkeinladungen überzeugen.
       
       Und doch: Laut der [4][Triggerpunkte-Studie von Mau, Westheuser und Lux]
       sind etwa 80 Prozent der deutschen Bevölkerung dafür, Trans-Menschen als
       normal anzuerkennen und die Homo-Ehe zuzulassen. Diese Leute sind nicht der
       Feind. Die Tiefenveränderung von eingeschliffenen Vorstellungen braucht
       Zeit und Augenhöhe.
       
       Eine sanftere „Wokeness“ arbeitet weniger mit Vorwürfen und mehr mit
       Argumenten und hält es aus, wenn diese nicht gleich angenommen werden. Sie
       gibt Leuten den Raum, sich zu entwickeln und ihre eigene Haltung zu den
       jeweiligen Fragen zu finden.
       
       12 May 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://yougov.de/topics/society/survey-results/daily/2023/03/07/5cbaa/2
 (DIR) [2] https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2018/10/large-majorities-dislike-political-correctness/572581/
 (DIR) [3] /Cancel-Culture-und-Wokeness/!5882236
 (DIR) [4] /Spaltung-der-deutschen-Gesellschaft/!5964064
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Houssam Hamade
       
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