# taz.de -- Griechenland nach der Finanzkrise: Kampf ums blaue Gold
       
       > Die EU investierte Hunderte von Milliarden Euro in die griechische
       > Wirtschaft. Mittlerweile erholt sie sich. Doch davon profitieren nicht
       > alle gleich.
       
       KALAMATA, LARYMNA UND GREVENA taz | Die Aussicht von der Terrasse ist
       atemberaubend schön. Der sanfte Wind kräuselt das blassblaue Meer, der
       Blick schweift über die palmengesäumte Strandpromenade, die Dächer der
       Stadt glitzern in der Abendsonne. Dimitrios Patriarcheas, 43, pechschwarzes
       Haar, blütenweißes Hemd und perfekt sitzende Krawatte, spricht mit fester
       Stimme. „Wir sorgen dafür, die drei wichtigsten menschlichen Bedürfnisse zu
       decken: Unterkunft, Nahrung, Sicherheit.“ Er untertreibt. Patriarcheas’
       Fünf-Sterne-Hotel Messinian Icon hat 36 Zimmer mit Meerblick, einen
       weitläufigen Frühstücksbereich mit teurem Marmorboden sowie ein
       Schwimmbecken und liegt auf einer Anhöhe im östlichen Vorort Verga der
       Küstenstadt Kalamata im Süden der griechischen Halbinsel Peloponnes.
       
       Patriarcheas ist Hotelier in zweiter Generation. Das Handwerk lernte er
       schon früh. Er selbst war noch ein kleiner Junge, als Ende der 1980er Jahre
       ein Hotel in Verga zum Verkauf stand. Prompt habe sein Vater zu Dimitrios’
       Onkeln, die alle zuvor in Kalamata Obst und Gemüse verkauften, gesagt: „Wir
       kaufen das, wir wechseln die Arbeit!“ Gesagt, getan. Hernach kam ein
       Stadthotel hinzu. Schließlich erwarb das Trio unbebautes Land am Fuß des
       Hügels in Verga, just an jener Stelle, wo heute das noble Flaggschiff der
       drei Patriarcheas-Herbergen in Kalamata steht.
       
       Bis zur Fertigstellung war es jedoch ein mühsamer, steiniger Weg. Den Bau
       bremsten zuerst die Turbulenzen nach dem Kollaps der US-Bank [1][Lehman
       Brothers], die bis ins ferne Kalamata überschwappten. Die Eurokrise folgte.
       Im Epizentrum: Griechenland. Für Hellas waren die zehner Jahre ein
       Desaster. Der Staat war pleite, die Banken wurden zu Zombies. Athen
       brauchte dringend Geld, setzte einen Notruf ab.
       
       Die EU, die EZB und der IWF sprangen in die Bresche – auch aus Eigennutz.
       Kredite im Umfang von 289 Milliarden Euro flossen in Tranchen nach Athen,
       bis Griechenland im August 2018 finanzpolitisch wieder auf eigenen Beinen
       stand. Im Gegenzug bürdeten die neuen Gläubiger den Regierungen in Athen
       einen rigorosen Sparkurs auf. [2][Das tat weh.] Die Gehälter, Löhne und
       Renten brachen abrupt um im Schnitt ein Drittel ein. Die Arbeitslosigkeit
       schnellte auf fast 30 Prozent in die Höhe. Unter den jungen Menschen
       suchten sogar 60 Prozent einen Job, so viele wie sonst nirgendwo in Europa.
       
       Hunderttausende meist junge und gut qualifizierte Griechinnen und Griechen
       verließen das Land, um eine bessere Zukunft zu finden. Stichwort:
       „Braindrain“, „die Flucht der klugen Köpfe“. „Wir Griechen hätten unsere
       Staatsschuldenkrise schneller überwinden müssen. Wir haben viel produktive
       Zeit verloren. Das macht mich in der Rückschau traurig“, sagt Patriarcheas.
       
       Er blieb, überstand die Krise. Nach „Mühen und Qualen“ öffnete sein
       Luxushotel im Frühjahr 2019 seine Pforten. Unterm Strich seien die Gelder
       der EU entscheidend gewesen, um sein neues Luxushotel bauen zu können –
       wenn auch mit Verzug. „Wie sonst hätten wir das Kapital aufbringen
       können?“, räumt der Hotelier unverhohlen ein. Etwa die Hälfte der
       Gesamtinvestition sei durch EU-Gelder finanziert, so Patriarcheas. Der
       Anteil der bereitgestellten EU-Gelder sei so hoch, weil sein Luxushotel den
       qualitativ hochwertigen Tourismus fördere, ein erklärtes Ziel
       Griechenlands. Während Hellas kollabierte, flossen die üppigen EU-Gelder
       weiter. Für Patriarcheas war das Geld aus Brüssel das blaue Gold.
       
       „Ohne die EU hätte Griechenland nicht den Frieden und Wohlstand, den wir
       bis jetzt erlebt haben“, sagt der Hotelier und fügt hinzu: „Vergessen wir
       nicht: Hier herrschte von 1967 bis 1974 die Militärjunta. Die Demokratie
       war ausgesetzt, die Verfassung gebrochen. Erst danach fing das Land an,
       sich zu erneuern. Ich möchte glauben, dass wir die meisten
       Kinderkrankheiten überstanden haben und uns dem EU-Durchschnitt
       angleichen.“ Mit Blick auf die Europawahlen sagt er: „Ich glaube an Europa.
       Ich bin dafür, dass wir die EU vertiefen. Nicht nur ökonomisch, sondern auf
       allen Ebenen.“
       
       Das Gros der Griechen sieht das genauso. Laut dem jüngsten Eurobarometer
       sagen sieben von zehn Befragten, der EU-Beitritt 1981 habe Griechenland
       genutzt. Im Siebenjahreszeitraum 2021 bis 2027 fließen EU-Mittelzuweisungen
       von insgesamt 57,35 Milliarden Euro nach Athen – eine in Relation zur
       hiesigen Wirtschaftsleistung enorme Summe. Das entspricht Jahr für Jahr
       rund 4 Prozent des griechischen BIP.
       
       Die EU-Gelder sind ein wahrer Booster für Hellas’ Wirtschaft. Der
       [3][Economist] kürte Griechenland zur besten Wirtschaft 2023, zum zweiten
       Mal in Folge. Dafür untersuchte das britische Magazin fünf
       Wirtschaftsindikatoren in 35 OECD-Staaten. Darunter sind die Inflation, die
       Inflationsbreite, das BIP, Beschäftigungswachstum sowie die
       Börsenentwicklung. 2023 ging es vor allem an der Athener Börse nach oben,
       griechische Aktien legten um rund 43 Prozent zu.
       
       Patriarcheas schlürft griechischen Mokka aus einer Tasse. Seit der vorigen
       Saison geht es für den Hotelier steil nach oben, er sprüht vor Zuversicht.
       „2023 war unser bisheriges Rekordjahr, 2024 läuft noch besser.“ Die
       Frühbuchungen lägen um satte 22 Prozent über denen des Vorjahres, offenbart
       er. Damit liegt sein Hotel voll im landesweiten Trend. Hellas steht in
       diesem Jahr vor einem neuen Tourismusrekord, die Reisebranche ist der
       Wachstumsmotor Nummer eins. Etwa ein Viertel der griechischen
       Wirtschaftsleistung wird im Tourismus generiert. Kritiker warnen: Der
       Tourismus sei eine äußerst anfällige Monokultur, monieren sie.
       
       Ob eine neue Autobahn von Athen nach Kalamata oder ein eigener,
       internationaler Flughafen: Kalamata mit seinen knapp 60.000 Einwohnern
       boomt. Der Ort ist blitzsauber, neue Restaurants, Bistros und gemütliche
       Cafés sprießen wie Pilze aus dem Boden. Patriarcheas befürwortet das. „Geht
       es Kalamata gut, dann geht es auch mir gut.“ Seine einzige Sorge sei, dass
       er Personal suche, aber keines finde. „Im Empfang, in der Bedienung, zur
       Zimmerreinigung.“
       
       Griechenlands Wirtschaft erholt sich wieder. Das kommt aber nicht [4][bei
       allen an]. Die einen verdanken der EU ihr Vorankommen, die anderen sehen in
       ihr einen Grund für ihren wirtschaftlichen Ruin. Die Staatspleite mag
       überwunden sein, das Verhältnis der Griechen zur EU bleibt indes nicht ohne
       Schatten. „Viele Bürger können die positiven Aspekte unseres gemeinsamen
       europäischen Projekts nicht erkennen. Diese Unwissenheit wird von
       populistischen Parteien ausgenutzt, die versuchen, die Spaltung in der EU
       zu erwirken“, sagt der Hotelier.
       
       Auch Nikos Rinnas fällt es schwer, das Positive zu sehen. Er fährt seinen
       alten VW Passat auf das Werksgelände, im Auto spielt die Musik von Magna
       Carta, einer englischen Folk-Rock-Gruppe. Prüfend schaut er seinen
       Beifahrer an. „Das ist meine Lieblingsband“, sagt er lapidar und hält an.
       
       Der 58-Jährige mit den sehr langen, grauen Haaren, die er zu einem Zopf
       gebunden hat, ist ein Hüne von Mann. Große Tränensäcke, tiefe Falten im
       Gesicht, ein geschundener Körper: Es ist ihm leicht anzusehen, dass er sein
       Leben lang Schwerstarbeit geleistet hat. Vor genau 36 Jahren, am 3. Juni
       1988, fing Nikos Rinnas an, in der Schwerindustrie zu arbeiten, besser: zu
       schuften, stets im Dreischichtbetrieb. Rinnas hat den härtesten Job in der
       Metallfabrik der Firma Larco im Ort Larymna. Er arbeitet an den vier
       Drehrohr- und fünf Elektrolichtbogenöfen. Larco stellt Ferronickel her,
       eine Kombination aus Eisen und Nickel.
       
       Das geht so: das Erz wird getrocknet, gebrannt, vorgewärmt, geschmolzen,
       getrennt. Das Endprodukt Ferronickel ist gewonnen. Das Verfahren, die
       Pyrometallurgie, ist irrsinig stromfressend. In den Öfen herrschen
       Temperaturen von bis zu 1.700 Grad Celsius. Die Wärmestrahlung in der
       geschlossenen Fabrikhalle ist enorm. „Die Hitze ist unerträglich“, sagt
       Nikos Rinnas. Heute, an diesem frühsommerlichen Freitag Ende Mai, geht
       seine Schicht von 14 Uhr bis 22 Uhr. Rinnas wird, genauso wie er es die
       letzten 36 Jahre getan hat, pünktlich an seinem Arbeitsplatz erscheinen.
       Nur: Er hat nichts zu tun. Denn das Larco-Werk ist seit dem 31. Juli 2022
       stillgelegt.
       
       Das entschied die Regierung in Athen unter dem konservativen [5][Premier
       Kyriakos Mitsotakis.] Sie peitschte die Stilllegung des Larco-Werks in
       Larymna gegen den erbitterten Widerstand der Belegschaft durch. Ökonomisch
       ist das kaum einzusehen. Denn am 8. März 2022, unmittelbar nach Russlands
       Invasion in die Ukraine, war der Nickelpreis an der Londoner Metallbörse
       auf einen unglaublichen Rekordpreis von 101.365 US-Dollar pro Tonne
       explodiert. Der Handel wurde ausgesetzt.
       
       ## 700 Millionen Euro verschenkt
       
       Doch die Regierung Mitsotakis beharrte darauf, das Werk in Larymna Ende
       Juli des gleichen Jahres stillzulegen – und die gesamte Belegschaft von
       1.060 Beschäftigten auf einen Schlag zu entlassen. Auf Grundlage des
       Nickelpreises von im Schnitt 20.000 US-Dollar pro Tonne hätte Larco seit
       der Stilllegung des Werkes Einnahmen von über 700 Millionen Euro erzielen
       können. Mitsotakis zieht es hingegen vor, dass das Werk in Larymna ohne
       ernsthafte Wartung vor sich hin rostet. Die Larco-Mitarbeiter geben nicht
       auf. „Wir warten an unserem Arbeitsplatz in der Fabrik darauf, dass es
       wieder losgeht. Wir werden niemals aufgeben“, gibt sich Nikos Rinnas
       kämpferisch.
       
       Rinnas zeigt auf die Häuser in der Arbeitersiedlung. „Die Familien kamen
       aus ganz Griechenland hierher, um zu arbeiten. Alles war voller Leben. Mit
       Schulen, Kindergärten, Sportanlagen, Kirchen. Wir hatten sogar ein tolles
       Kino“, sagt er. Jetzt denkt Nikos Rinnas, er sei in einem schlechten Film.
       Der Fall Larco ist bei näherer Betrachtung ein großer Skandal. Politisch.
       Ökonomisch. Ökologisch.
       
       Gegründet wird das anfangs private Unternehmen 1963. Die Metallfabrik im
       Dorf Larymna, 130 Kilometer nördlich von Athen, ist 1966 fertig. Die
       Industrieanlage ist ein Monstrum mitten in einer hübschen Landschaft,
       schafft jedoch Jobs im damals noch sehr rückständigen Griechenland. In der
       Fabrik, im Tagebau und den Minen beschäftigt Larco 1.370 Arbeiter.
       
       Larco wird zum unangefochten größten Hersteller von Ferronickel in Europa
       und zu einem der fünf größten Produzenten in der Welt. Das Erz, ein
       nickelhaltiges Goethit, hauptsächlich im Tagebau an den firmeneigenen
       Standorten in Griechenland gefördert, wird zur Metallfabrik in Larymna
       gebracht. Larco ist ein Pionier: 1977 ist das erste, gut sieben Kilometer
       lange Langförderband Europas fertig, das die Kosten des Erztransports
       senkt.
       
       Larco stellt jährlich rund 20.000 Tonnen hochreinen, kohlenstoffarmen
       Ferronickel her. Verwendung findet Nickel zur Herstellung von rostfreiem
       Stahl. Großkunden aus ganz Europa kaufen den begehrten Rohstoff aus
       Griechenland. 1979 stirbt der Firmeneigentümer, der Niedergang beginnt.
       1982 bringt die sozialistische Regierung unter Premier Andreas Papandreou
       Larco unter öffentliche Kontrolle, 1989 wird Larco verstaatlicht.
       
       Als Staatsfirma wird das Unternehmen wieder rentabel. In den nuller Jahren
       werden 60 Millionen Euro in die Modernisierung der Produktion investiert.
       Alles scheint gut zu laufen. Doch ausgerechnet ein von der damaligen
       konservativen Regierungpartei Nea Dimokratia (ND) eingesetzter
       Larco-Geschäftsführer sorgt dafür, dass Larco sowohl gewaltige Einnahmen
       entgehen als auch erhebliche Verluste entstehen.
       
       ## Larco-Drama geht weiter
       
       Das passiert so: Der Larco-Manager, ein Ex-Banker, verkauft im Februar 2007
       vorab Teile der Firmenproduktion von 2006 bis Anfang 2009 zu einem
       Festpreis von 18.500 US-Dollar pro Tonne Nickel an die US-Investmentbank J.
       P. Morgan. Pikanterweise tat dies der besagte Larco-Manager, obgleich der
       Nickelpreis just im Februar 2007 bereits auf 39.000 US-Dollar gestiegen
       war. Tendenz: stark steigend. Der Nickelpreis geht durch die Decke. Schon
       drei Monate später, im Mai 2007, kostet eine Tonne 49.500 US-Dollar. Für
       Larco ist der dubiose Vorverkauf ein gigantisches Minusgeschäft. In den
       Chefetagen von J. P. Morgan reibt man sich hingegen die Hände.
       
       Doch damit nicht genug. Die damalige Larco-Leitung unter einem ND-Mann, dem
       Vater eines Ministers der heutigen ND-Regierung, kündigt 2008 vorzeitig den
       Vertrag mit J. P. Morgan – unter Zahlung einer hohen Strafgebühr. Doch
       diesmal bricht der Nickelpreis ein. Im März 2009 kostet eine Tonne Nickel
       unter 8.000 US-Dollar. Erneut lacht sich J. P. Morgan ins Fäustchen.
       
       Das Larco-Drama nimmt kein Ende. Nach Hellas’ faktischem Staatsbankrott im
       Frühjahr 2010 scheitern Privatisierungsversuche. Die seit dem 8. Juli 2019
       in Athen allein regierende ND unter Premier Mitsotakis ist wild
       entschlossen, Larco zu privatisieren.
       
       Ende Januar 2023 erhält ein Konsortium unter Führung des griechischen
       Mischkonzerns GEK Terna den Zuschlag für die Larco-Übernahme. Der
       Larco-Deal ist ein Paradebeispiel für familiäre Verflechtungen zwischen der
       ND und Großfirmen: Der Schwiegervater von Georgios Gerapetritis, die rechte
       Hand von Premier Mitsotakis und Außenminister, ist GEK Ternas Nummer zwei.
       Ob Autobahnen, Windparks, die Müllverwertung oder nun Larco: GEK Terna
       erhält einen Auftrag nach dem nächsten. Noch ist der Larco-Deal nicht in
       trockenen Tüchern.
       
       Ein irischer Mitanbieter klagt gegen seinen Ausschluss. Läppische 6
       Millionen Euro will GEK Terna für Larco, die Tagebaustätten und Minen
       eingeschlossen, hinblättern – und wäre zugleich von Larcos Schulden
       befreit. Die Regierung Mitsotakis beziffert sie auf 600 Millionen Euro,
       davon entfällt mehr als die Hälfte auf offene Stromzahlungen. Den Strom
       hatte Larco weit über dem üblichen Marktpreis von der DEI, einem der
       Larco-Anteilseigner, eingekauft. Auch dies ist ein Korruptionsskandal.
       
       Der Einstieg bei Larco bärge für den Privatinvestor ein ungeheures
       Potenzial. Das von Larco geförderte griechische Erz birgt neben Nickel
       einen noch viel kostbareren – bisher verborgenen – Bodenschatz: Kobalt, das
       – mit Blick auf dessen Farbe – blaue Gold. Der Rohstoff wird für Batterien
       verwendet, der globale Bedarf wird mit der Elektromobilität deutlich
       steigen. Ein E-Auto benötigt etwa 5 bis 10 Kilo Kobalt.
       
       Weil Larco bisher nicht in ein anderes Fertigungsverfahren, der
       Hydrometallurgie, investiert hat, konnte sie das im Ferronickel enthaltene
       Kobalt nicht vom Nickel trennen. Larco könnte per Hydrometallurgie extra
       bis zu 3.000 Tonnen Kobalt pro Jahr produzieren und so einen erheblichen
       Teil des Bedarfs an Kobalt in Europa decken, so Experten. Die EU muss das
       Kobalt bisher fast ausschließlich aus Drittstaaten wie dem Kongo, dessen
       Minen von [6][China kontrolliert werden], einkaufen.
       
       Zuallererst würden sich die Aktionäre des Privatinvestors freuen. Denn hohe
       Gewinne dürften hohe Dividenden mit sich bringen. Das ist hierzulande sehr
       einträglich. Denn die Regierung Mitsotakis hat die Dividendensteuer auf 5
       Prozent gesenkt, in Deutschland beträgt der Steuersatz dafür 25 Prozent. So
       würde sich der Kreis schließen, auch im Fall Larco.
       
       Diese Steuerpolitik passt ganz zu Mitsotakis’ tiefer ökonomischen
       Überzeugung der Trickle-down-Ökonomie („trickle down“ auf Deutsch: „nach
       unten rieseln“). Sie beschreibt die Überzeugung, wonach der Wohlstand der
       Reichsten einer Gesellschaft nach und nach durch Konsum und Investitionen
       in die unteren Schichten der Gesellschaft durchrieseln und so zu
       Wirtschaftswachstum führe, von dem letztlich alle profitieren. Die Anhänger
       dieser Theorie fordern radikale Steuersenkungen für die Reichen. Genau das
       praktiziert die Regierung Mitsotakis. Alle an der Athener Aktienbörse
       gelisteten Unternehmen erzielten 2023 einen Reingewinn von insgesamt 10,5
       Milliarden Euro, sie schütteten 3,8 Milliarden Euro an Dividenden aus. Der
       deutsche Fiskus hätte davon 950 Millionen Euro eingestrichen, der chronisch
       klamme hellenische Fiskus will nur 190 Millionen Euro haben.
       
       Andere gucken in die Röhre. Nikos Rinnas, der ungewollt untätige
       Schichtarbeiter in der stillgelegten Larco-Metallfabrik, lässt seinem Frust
       freien Lauf. Er empfinde Zorn und Wut, poltert er. Er bekomme zwar, so wie
       die etwa 850 verbliebenen Larco-Mitarbeiter, noch sein Gehalt ausbezahlt.
       Er erhalte 1.800 Euro im Monat, mit 36 Arbeitsjahren auf dem Buckel. Die
       meisten seiner Kollegen müssten sich mit etwa 1.000 Euro im Monat begnügen.
       
       Der Haken dabei ist, dass ihre zuvor unbefristeten Arbeitsverträge nach
       ihrer Entlassung Ende Juli 2022 in befristete Verträge umgewandelt worden
       sind. Immer wenn sie ablaufen, müssen sie vor Gericht für deren
       Verlängerung kämpfen, eine Fortsetzung ihrer Lohnzahlungen inklusive. Das
       geht seit fast zwei Jahren so. Der nächste Gerichtstermin ist für den 18.
       Juni anberaumt, neun Tage nach den Europawahlen.
       
       Apropos EU: Rinnas rechnet knallhart mit ihr ab. Für ihn haben alle
       proeuropäischen Parteien in Athen Hand in Hand mit Brüssel Larco an den
       Abgrund manövriert. Dass die EU in der Causa Larco Kapitalspritzen in Höhe
       von 135 Millionen Euro als unerlaubte Staatssubvention einstufte, die
       zurückzuerstatten sei, und das ohnehin angeschlagene Unternehmen somit noch
       mehr in die Bredouille brachte, befeuert Rinnas’ tiefe Abneigung gegen die
       EU. Seine Sorge sei, dass im Zuge des Einstiegs eines Privatinvestors bei
       Larco die Vertretung der Arbeitnehmer zerschlagen werde. Doch die
       Larco-Mitarbeiter haben noch Hoffnung: aber diese liegt für sie nicht
       rechts, sondern links. Ganz links. Standen lange die meisten in der
       Larco-Arbeitnehmervertretung den bürgerlichen Parteien ND (konservativ)
       oder Pasok (sozialdemokratisch) nahe, sind es derweil die Gewerkschaft
       Pame der Kommunistischen Partei (KKE) sowie andere Linke.
       
       Die EU sei bloß „eine Allianz der Monopole, eine transnationale
       imperialistische Union, ein Gegner der Völker“, ätzt die KKE vor den
       Europawahlen. „Die EU kann nicht zum Besseren verändert werden! Sie wird
       nur noch schlimmer!“ Erklärtes Ziel der KKE ist daher Griechenlands
       Austritt aus der EU. Dennoch ruft sie zur Teilnahme an den Europawahlen
       auf. Die Wähler sollen mehr als wie bisher zwei Kommunisten nach Brüssel
       und Straßburg entsenden.
       
       In Grevena gibt es weder Tourismus noch Industrie. Die nordgriechische
       Stadt, 20.000 Einwohner, von über 2.000 Meter hohen Bergen umrahmt, 530
       Meter über dem Meeresspiegel im Tal des Oberlaufs des Flusses Aliakmonas
       und einiger Nebenflüsse gelegen, liegt in Westmakedonien, in einer der
       ärmsten Regionen Griechenlands. Im Herzen von Grevena, auf dem
       „Emilianou“-Platz, wartet Nancy Liantsi auf das Gespräch. Die 18-jährige
       hat gerade die Schule abgeschlossen. Sie sieht Griechenland weiter in der
       Krise. „Die Preise steigen, die Kaufkraft sinkt. Die Krise ist nicht
       vorbei“, sagt sie.
       
       Die Zahlen geben ihr recht. Griechenland ist in puncto Kaufkraft pro Kopf
       auf den vorletzten Platz in der EU 27 gerutscht. Nur das Schlusslicht
       Bulgarien liegt noch knapp hinter Hellas, holt aber auf. Kein Wunder: das
       griechische Jahresgehalt belief sich 2023 im Schnitt auf 17.707 Euro netto.
       Das ist so viel wie 2006 und satte 10.510 Euro weniger als im Schnitt in
       der EU 27. Dabei arbeiten die Griechen von allen Europäern am längsten.
       Laut Eurostat waren es 2023 genau 39,8 Stunden pro Woche. In der EU 27
       waren es im Schnitt 36 Stunden, in Deutschland 34 Stunden.
       
       Zugleich verharrte die Inflation im April bei 3,1 Prozent. Seit April 2020
       legten die Preise um kumuliert 18 Prozent zu, Lebensmittel und Getränke
       sogar um 30 Prozent. Besonders hart trifft das die einkommensschwächeren
       Haushalte. „Ich merke das total, wenn ich in den Supermarkt gehe. Alles
       wird teurer und teurer“, sagt Nancy Liantsi.
       
       Laut Eurobarometer gaben 74 Prozent der Griechen an, ihr Lebensstandard
       habe sich in den letzten fünf Jahren verschlechtert. Das ist der höchste
       Wert in der EU. Obendrein sind die Griechen pessimistisch, was die nächsten
       fünf Jahre bringen. 48 Prozent der Griechen (32 Prozent in der EU!)
       glauben, ihr Lebensniveau werde weiter sinken. Demgegenüber glauben 13
       Prozent der Griechen, es werde fortan aufwärts gehen. Nancy Liantsi: „Meine
       Mutter sagt mir: ‚Deine Mitgift wird dein Hochschulabschluss sein.‘“
       
       Nancy Liantsi hat ihre Entscheidung getroffen. Im Oktober geht sie nach
       Zypern, um dort Medizin zu studieren. Sie wolle Genetikerin werden, die
       Gerichtsmedizin gefalle ihr sehr. „Eigentlich würde ich gerne meinem Land
       helfen“, beteuert sie. „Ich frage mich aber schon jetzt: Was kommt nach dem
       Studium?“ Die Sache sei simpel, sagt sie. „Draußen sind die Berufschancen
       besser. Um einen Job zu finden, in der Forschung.“ So dächten viele ihrer
       Altersgenossen, nicht nur in ihrer Heimatstadt Grevena. Ihre Schwester,
       drei Jahre älter als sie, ist schon weg. Sie studiert Jura in Den Haag.
       „Geduld zu üben und beharrlich zu sein“ sei das Motto, das ihre Mutter
       ihnen auf den Weg gebe, sagt Nancy Liantsi. Sie werde am 9. Juni wählen
       gehen. Sie lächelt, als sie das sagt. Sie sucht noch ihr blaues Gold.
       
       4 Jun 2024
       
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