# taz.de -- Experte über reproduktive Rechte: „Eine progressive Richtung“
       
       > Schwangerschaftsabbrüche drohen schwieriger zu werden, wenn rechte
       > Parteien bei der EU-Wahl zulegen, sagt Neil Datta. Warum er trotzdem viel
       > Gutes sieht.
       
 (IMG) Bild: Sorgte im Mai für Protest in Madrid: Spaniens rechtspopulistische Vox lud andere rechte Kräfte aus Europa ein
       
       taz: Herr Datta, Umfragen zufolge werden Konservative und extreme Rechte
       bei der Europawahl zulegen. Wäre das eine Bedrohung für das Recht auf
       Schwangerschaftsabbruch in Europa? 
       
       Neil Datta: Definitiv, das wird eine Herausforderung. Schon in den
       vergangenen fünf Jahren waren die Konservativen und extremen Rechten Quell
       neuer Ideen zur Aushöhlung von Abtreibungsrechten. Nach der Wahl wird das
       weitergehen.
       
       Können Sie Beispiele nennen? 
       
       Unmittelbar nachdem 2022 in den USA das Recht auf Schwangerschaftsabbruch
       aufgehoben wurde, hat die rechtskonservative Fraktion EKR einen Workshop im
       EU-Parlament veranstaltet. Es ging darum, wie das leuchtende Beispiel der
       USA nach Europa gebracht werden könnte. Organisiert wurde die Veranstaltung
       von [1][einer Abgeordneten der spanischen rechtspopulistischen Vox]. Diese
       Partei hat zudem die meisten Änderungsanträge gegen den sogenannten
       Matić-Report eingebracht. Dieser Report des Parlaments von 2021 hatte die
       europäischen Mitgliedsstaaten aufgefordert, Abbrüche zu legalisieren. Die
       Vox-Anträge zielten nun darauf, diesen progressiven Ansatz zu
       konterkarieren.
       
       Welche Macht haben Anträge wie diese? 
       
       Das Europäische Parlament hat keinen direkten Einfluss auf Regelungen zum
       Schwangerschaftsabbruch. Aber es kann zum Beispiel versuchen, Angriffe auf
       die Finanzierung von Organisationen zu starten, die sich für das Recht auf
       Abtreibung einsetzen. Das hat etwa das niederländische rechtspopulistische
       Forum für Demokratie mit der dortigen Organisation für Familienplanung
       versucht.
       
       Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die rechte
       Ministerpräsidentin Italiens, Giorgia Meloni, [2][verstehen sich prächtig].
       Kann das die Situation weiter verschlechtern? 
       
       Sicher. Meloni selbst würde kaum gegen Abtreibung aktiv werden. Aber all
       ihre Leute in der EKR würden Initiativen einleiten. Sollte das Bündnis mit
       von der Leyens EVP tatsächlich zustande kommen, würden sich dessen
       Mitglieder dem anschließen müssen. Das könnten manche EVP-Mitglieder sehr
       praktisch finden. Dort sind einige gegen Abbrüche, die gesamte deutsche CSU
       zum Beispiel. Die wissen, dass sie nichts gewinnen, wenn sie sich offen
       gegen Abbrüche stellen. Aber wenn sie auf diese Weise mitgenommen werden,
       können sie glaubhaft leugnen, dass das von ihnen kommt.
       
       Glauben Sie, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch wird offen attackiert
       werden? 
       
       Ich glaube nicht, dass der Angriff groß und dramatisch daherkommen wird.
       Ein EU-weites Abtreibungsverbot wird nicht auf der Agenda stehen. Ich kann
       mir eher vorstellen, dass es um viele kleine Maßnahmen geht, in den
       nächsten fünf Jahren das Recht auf Abtreibung auszuhöhlen. Alles zusammen
       könnte den progressiven und gesundheitspolitisch orientierten Sektor
       schwächen. So könnte der Zugang zu Abtreibung in vielen Ländern de facto
       schwieriger werden, ohne dass sich der rechtliche Rahmen geändert hätte.
       
       Sie haben den Matić -Report erwähnt. Zudem haben vor zwei Monaten mehr als
       330 Mitglieder des Parlaments dafür gestimmt, das Recht auf
       Schwangerschaftsabbruch in der Grundrechtecharta zu verankern. Weder der
       Report noch die Abstimmung sind bindend. 
       
       So ist einfach das Verfahren. Das Parlament hat damit seine Position
       deutlich gemacht. Jetzt kommen die Wahlen, das neue Parlament, die neue
       Kommission – und dann wird darüber debattiert werden, die Verträge für neue
       zwischenstaatliche Verhandlungen zu öffnen.
       
       Das passiert automatisch? 
       
       Ja, das ist schlicht der nächste Schritt des Verfahrens. Das Thema wird
       aufgegriffen und diskutiert werden müssen. Wie genau, hängt von den
       Mitgliedstaaten ab. Aber zumindest ist der erste Schritt von etwas gemacht,
       das am Ende in eine gute Richtung führen kann. Wenn wir in der Geschichte
       der Europäischen Union zurückschauen, ist das vielleicht vergleichbar mit
       dem ersten Schritt auf dem Weg zum Euro. Es gab viele Diskussionen, es hat
       lange gedauert, aber jetzt benutzen wir ihn alle ganz selbstverständlich.
       Das ist gut.
       
       Auf der einen Seite gibt es einen fortschreitenden Prozess – auf der
       anderen Seite werden die Rechten im Parlament wohl zulegen. Wie geht das
       zusammen? 
       
       Das kann ich noch nicht sagen. Möglich, dass es einige parallele Prozesse
       zwischen Mitgliedstaaten und Parlament geben wird. Immerhin waren die
       vergangenen fünf Jahre die erfolgreichsten für sexuelle und reproduktive
       Gesundheit in der Geschichte des Parlaments. Da geht es nicht nur um den
       Matić-Report, sondern auch um all die Stimmen, die Polen und Ungarn wegen
       der Verletzung des Rechts auf Abtreibung und der Rechte von LGBTI
       verurteilt haben.
       
       Die [3][Istanbulkonvention, das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung
       von Gewalt gegen Frauen,] wurde ratifiziert. Es gibt mehr Signale denn je,
       dass wir in eine progressive Richtung gehen. Manche Lobbyorganisationen,
       die gegen sexuelle und reproduktive Gesundheit mobil machen, haben Brüssel
       sogar verlassen, weil sie finden, dass die EU in der Hand der
       feministischen LGBTI-Lobby ist. Als NGOs haben sie gewissermaßen
       aufgegeben. Aber der Weg, zurückzukommen, liegt für ihre Leute nun direkt
       in den Parteien.
       
       Sie meinen, es braucht die Lobbyorganisationen nicht mehr, weil die rechten
       Parteien direkten Einfluss haben? 
       
       Genau. Die sind nun das Einfallstor. Die Themen und Ideen sind gesetzt. Um
       gegen Schwangerschaftsabbruch mobil zu machen, sind jetzt die Parteien am
       Zug, vor allem die konservativen und die extreme Rechte.
       
       Aus dem Englischen von Patricia Hecht
       
       5 Jun 2024
       
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