# taz.de -- Austrittsfantasien in Schweden: Der hilfsbereite Nationalist
       
       > Er unterstützt bei Reparaturen, Ungeziefer und Glatteis: der schwedische
       > Nachbar zeigt sich von seiner besten Seite. Bis er über Politik spricht.
       
 (IMG) Bild: Alles schön ordentlich beim Herrn Nachbar
       
       Er zeigte mir, wie ich das Haus winterfest mache und stellte vor meiner
       Ankunft Wasser und Heizung wieder an. Er dichtete ein tropfendes Rohr ab
       und manövrierte mein Auto aus der vereisten Einfahrt. Und dann fing er auch
       noch mit bloßer Hand die Maus in meiner Küche.
       
       „Ist doch so wenig“, sagte mein schwedischer Nachbar und lächelte sein
       schüchternes Lächeln, jedes Mal, wenn er mir half. Es wurde Zeit für einen
       feierlichen Ausdruck meiner Dankbarkeit.
       
       Ich lud ihn, seine Frau und deren weißbärtigen Vater – der mir schon meinen
       Schaukelstuhl geleimt hatte – auf ein Glas Wein ein. Sie brachten Geschenke
       mit: 400 Gramm Elch-Gehacktes und ein Glas getrocknete Pfifferlinge.
       
       Wir stießen an mit Crémant und deutschem Grauburgunder, den ich im
       staatlichen Alkoholgeschäft gefunden hatte. Ich hielt eine Art Rede, damit
       sie auch wirklich verstünden, wie sehr ich ihre Hilfsbereitschaft zu
       schätzen weiß. „Ist doch klar, man muss sich doch helfen hier draußen“,
       sagten sie. Dann wollten sie etwas von meiner Arbeit hören, und als
       Themenbeispiel erwähnte ich die EU-Wahl. „Oh, wir sind alle dafür, dass
       Schweden aus der EU Austritt“, sagte die Nachbarin sofort. Ihr Mann
       pflichtete ihr bei.
       
       ## Keine Chancen für Statistiken
       
       Ich tat, als würde das nicht plötzlich eine ganze Kette besorgter Gedanken
       bei mir auslösen. „Warum?“, fragte ich, „was wäre denn ohne EU besser?“ Sie
       zählten auf: Schweden bezahle zu viel Geld nach Brüssel, die Abgeordneten
       verdienten horrende Summen, ohne Kontrolle.
       
       Die EU mische sich zu stark in schwedische Angelegenheiten ein. Ohne die EU
       gäbe es weniger Arbeitslosigkeit. Letzteres erschien mir äußerst
       unwahrscheinlich, aber ich war nicht vorbereitet auf diese Art von
       Gespräch. Mir fehlten Zahlen, und ich fürchtete zugleich, dass sie hier
       wenig nützen würden.
       
       Ich versuchte es stattdessen allgemeiner. Die Landwirtschaft bekäme doch
       viel Geld aus Brüssel? Ja, aber die EU fördere den Anbau von neumodischen
       Sorten, man solle zurück zur klassischen schwedischen Landwirtschaft. Und
       es könne doch nicht sein, dass Schweden nicht in der Lage wäre, genug
       Lebensmittel zu produzieren, wenn es Krieg gäbe.
       
       Aber gerade wegen der EU kämen doch sehr viele Lebensmittel aus anderen
       Ländern, sagte ich. Und: „Ich glaube, es wird kein Zurück geben dahin, dass
       jedes Land nur für sich ist. Das halte ich nicht für realistisch, und auch
       nicht für weiter schlimm.“ „Mh“, machten sie.
       
       ## Der Norden profitiert von der EU
       
       Niemand erhob die Stimme. Und offenbar musste sich auch niemand
       beherrschen, um nicht wütend zu werden. Interessant, dieses vorsichtige
       Navigieren durch unterschiedliche Weltbilder, wenn alle partout
       entschlossen sind, sich gut zu verstehen.
       
       Inzwischen weiß ich, dass gerade unsere Region stark von Schwedens
       EU-Mitgliedschaft profitiert. Im strukturschwachen Norden wird nicht nur
       die Landwirtschaft gefördert – den Glasfaserausbau für schnelles Internet
       könnte man ohne Brüssel vergessen, ebenso neue Bahnstrecken, die den Norden
       mit dem Süden verbinden. Ich werde das bei nächster Gelegenheit unauffällig
       erwähnen. Unser erster Abend endete jedenfalls nicht im politischen Streit,
       sondern damit, dass der Nachbar auch noch meine Klospülung reparierte.
       
       29 May 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anne Diekhoff
       
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