# taz.de -- Ukrainischer Autor Andruchowytsch: „Besatzung ist keine Option“
       
       > Der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch erwartet bei einer russischen
       > Besatzung flächendeckend Verbrechen. In Hamburg liest er aus seinen
       > Essays.
       
 (IMG) Bild: Butscha nach der Besatzung durch Russland im April 2022
       
       taz: Herr Andruchowytsch, Sie haben kürzlich gesagt, Frieden sei ein
       hinterhältiges Wort. Inwiefern? 
       
       Juri Andruchowytsch: Es gibt so viele Menschen in Westeuropa, die sich
       Pazifisten nennen, und dabei verstehen sie die Situation in unserem Krieg
       entweder nicht oder tun so, als verstünden sie sie nicht. Wer im aktuellen
       Krieg in der Ukraine Frieden will, muss an den [1][russischen Aggressor]
       appellieren. Diese Pazifisten möchten bitte in Moskau gegen den Krieg
       demonstrieren, einen offenen Brief an Putin schreiben, an [2][China]
       appellieren, Russland nicht mehr für diesen Krieg zu [3][bewaffnen]. Das
       wäre ein glaubwürdiger Kampf für den Frieden. Aber wenn man sagt, dass die
       Ukraine und der Westen dem Friedensprozess im Wege stehen: Dann ist
       „Frieden“ ein unehrliches Wort.
       
       Wenn die Ukraine ab sofort keine Waffen mehr erhielte: Wie sähe ein Leben
       unter russischer Besatzung aus? 
       
       Das Wort „Butscha“ und die dort verübten Massaker stehen für die dann
       flächendeckend zu erwartenden Verbrechen. [4][Butscha] ist emblematisch
       geworden – fast möchte ich sagen: leider. Denn viele verstehen nicht, dass
       es viele Butschas gibt. Das war keine Ausnahme, das war kein Exzess einiger
       weniger Okkupanten. Sondern das hat System, ist fester Bestandteil der
       [5][russischen Kriegsführung.] Die ukrainische Armee hat 2022 auf
       de-okkupierten Territorium so viele Massengräber gefunden, so viele
       Überreste von gefolterten und getöteten Menschen. Dazu kommt in den bereits
       [6][besetzten Gebieten] die ständige Verfolgung von Menschen, die ihre
       ukrainische Identität nicht verstecken wollen. Auch wurden über 19.500
       ukrainische Kinder nach Russland [7][deportiert], von denen nur ungefähr
       380 zurückkehrten. Angesichts all dessen ist ein Leben unter russischer
       Besatzung für uns keine Option.
       
       Und wie beurteilen Sie die ständige Sorge Westeuropas, Russland zu
       erzürnen? 
       
       Diese Angst hat Tradition. Schon Karl Marx hat Mitte des 19. Jahrhunderts
       diese irrationale Angst beschrieben, diese Panik, die einige westliche
       Supermächte befiel, wenn sie an Russland dachten. Verstärkt wurde diese
       Angst im Zweiten Weltkrieg. Das war Russlands erfolgreichster Krieg aller
       Zeiten – nur, dass der Westen Russland mit der damaligen, weit größeren
       Sowjetunion gleichsetzte und übersah, dass etwa die Ukraine von der
       deutschen Armee als erste besetzt wurde und die [8][stärksten
       Kriegserfahrungen] der Sowjetunion machte. Heute steht im Zentrum der
       westlichen Angst die russische Atomwaffe. Niemand weiß, ob sie
       einsatzbereit ist, aber Russland kann mit dieser Angst sehr gut
       manipulieren. Man kann das gut beobachten: Immer, wenn es im Krieg gegen
       die Ukraine für Russland schlecht läuft, erscheint in den Medien die
       nächste Drohung mit dem Atomschlag.
       
       Reden wir über Europa. Hat die Ukraine ihre postsowjetische Identität schon
       gefunden? 
       
       Wir suchen noch, und paradoxerweise hat die russische Aggression diesen
       Prozess beschleunigt. Die Tendenz, sich als Teil Europas und der EU zu
       begreifen, existiert seit Ende der 1990er-Jahre – man denke an die orangene
       Revolution 2004 und den Euromaidan 2013/14. Jetzt sind wir
       [9][Beitrittskandidat] und wissen, dass sich noch viel ändern muss – in
       puncto Bürokratie, Korruption, Unabhängigkeit der Justiz. Und dafür wollen
       und brauchen wir natürlich die ständige Kontrolle und Hilfe von
       europäischer Seite.
       
       Welche Rolle spielen LiteratInnen derzeit in der Ukraine? 
       
       Meine [10][AutorenkollegInnen] sind vor allem in den ukrainischen sozialen
       Medien sehr präsent. Sie prägen die öffentliche Meinung – vor allem
       diejenigen, die aktiv am Krieg teilnehmen: als Soldaten, Offiziere oder als
       Freiwillige, die regelmäßig an die Front fahren. Organisiert wird das vom
       ukrainischen [11][Pen-Zentrum], und die Betreffenden fahren fast jede Woche
       an die Front, bringen Bücher, veranstalten Lesungen, liefern Medikamente.
       Zurück bringen sie ihre Eindrücke und Texte. Hinzu kommen viele KollegInnen
       – vor allem Frauen –, die jetzt im Ausland sind und Spenden, aber auch
       Lehrveranstaltungen in den sozialen Medien organisieren. Das ist ein echter
       Aktivismus. Der Schriftsteller Andrij Ljubka zum Beispiel hat schon 279
       gebrauchte Geländewagen für die Armee gekauft.
       
       Wie schafft er das? 
       
       Über Crowdfunding. Er hat seine Popularität und das Vertrauen, das er als
       Schriftsteller genießt, investiert und eine Facebook-Gruppe gründet, die
       jetzt mit ihm zusammen arbeitet.
       
       Und wie gut sind derzeit Lesungen besucht? 
       
       Erstaunlich gut. Natürlich haben die Leute viele andere Sorgen, aber eine
       Lesung ist eine Möglichkeit, das Leben vielfältiger und reicher zu machen.
       Wobei vor allem Reportagen aus den Kriegsgebieten besprochen werden, eine
       wichtige Informationsquelle für viele Menschen. Die diesjährige Kyjiwer
       Buchmesse Ende Mai war laut Statistik die seit ihrer Gründung 2011
       bestbesuchte. Ich habe die kilometerlangen Schlangen vor dem Messegelände
       mit eigenen Augen gesehen.
       
       Ist das auch im Osten so, nahe der Front? 
       
       Natürlich ist die Hemmschwelle, eine Veranstaltung zu besuchen, in Kyjiw
       geringer. Kyjiw wird inzwischen gut verteidigt, die Luftabwehrsysteme
       funktionieren. Aber eine Woche vor der Kyjiwer Buchmesse war ich in
       [12][Charkiw], etwa 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Ich
       las tagsüber in einem Garten, und es kamen 30 Leute – trotz ständigen
       Beschusses. Und die Veranstalter, in diesem Fall das Literaturmuseum
       Charkiw, machen weiter, und das Publikum kommt. Das hat für mich etwas sehr
       Anrührendes.
       
       23 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!6017317
 (DIR) [2] /Pekings-Aussenpolitik/!6015064
 (DIR) [3] /Putin-zu-Besuch-in-Peking/!6010870
 (DIR) [4] /Butscha-und-die-Erinnerung/!5893292
 (DIR) [5] /Haftbefehl-des-IStGH/!5921389
 (DIR) [6] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!6011268
 (DIR) [7] /Aktivistin-ueber-Hilfe-fuer-Verschleppte/!5969299
 (DIR) [8] /Ueberfall-auf-die-Sowjetunion-1941/!5777525
 (DIR) [9] /Entscheidung-ueber-einen-Ukraine-Beitritt/!5977557
 (DIR) [10] /Archiv-Suche/!6003095&s=literatur+ukraine&SuchRahmen=Print/
 (DIR) [11] /Die-ukrainische-Literaturszene/!5885409
 (DIR) [12] /Wiederaufbaukonferenz-fuer-die-Ukraine/!6013135
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Wladimir Putin
 (DIR) Hamburg
 (DIR) Lesung
 (DIR) Frieden
 (DIR) Social-Auswahl
 (DIR) IG
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kindesentführung nach Russland: Nicht ohne ihre Tochter
       
       Ein Mann entführt seine Tochter aus der Ukraine. Zwei Jahre sucht die
       Mutter nach ihnen. Dann entscheidet ein deutsches Gericht.
       
 (DIR) +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Baerbock fordert mehr Hilfe für Kyjiw
       
       Der Weg Richtung Frieden ist noch weit, zeigt der Gipfel in der Schweiz.
       Russland verstärkt die Angriffe auf die Energieversorgung. Verbündete
       fordern mehr Hilfen.
       
 (DIR) +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: „Wir brauchen keinen Diktatfrieden“
       
       Vor der Ukraine-Friedenskonferenz hat Kanzler Scholz Putins Bedingungen
       zurückgewiesen. In Schwedens Luftraum ist ein russischer Militärjet
       eingedrungen.
       
 (DIR) +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: 100 Milliarden für die Ukraine
       
       Die Nato feiert ihr 75-jähriges Bestehen – und berät über langfristige
       Hilfe für die Ukraine. Das Weimarer Dreieck warnt vor Zugeständnissen an
       Putin.