# taz.de -- Buch „Auf allen Vieren“ von Miranda July: Wache halten am heiligen Ort
       
       > Miranda July schreibt über eine weibliche Identitätskrise. Sie erzählt
       > von einer Frau, die in der Lebensmitte versucht, ihre Libido zu
       > verteidigen.
       
 (IMG) Bild: Spezialistin für verschroben-sympathische Figuren: Miranda July
       
       Die namenlose 45-jährige Icherzählerin dieses Romans schaut noch mal unter
       das Bett, auf das Bild, das sie dort verstaut hat in diesem Motelzimmer,
       das sie für viel Geld nach ihren Wünschen hat umgestalten lassen. Sie
       angelt es mit dem Fuß hervor. Und was sie dort sieht, auf diesem abstrakten
       Gemälde, ist – nach ihrer Interpretation – eine Frau im Herbst ihres
       Lebens, die, wie die Protagonistin erst jetzt erkennt, vor einem
       verschlossenen Höhleneingang steht.
       
       Für die Icherzählerin ist die Sache klar: Die Frau auf dem Bild hat ihre
       Chancen verpasst, ihre sexuellen Tore offen zu halten. Die Höhle ist
       geschlossen, für immer. Das Bild ist ihr, nein, allen Frauen eine Warnung,
       es nicht so weit kommen zu lassen. Ein mahnendes Zeichen, wie Bibeln
       verteilt über alle Motels dieser Welt. So sieht sie das. In diesem Moment.
       
       Es ist vielleicht die Schlüsselszene im neuen Roman „Auf allen Vieren“ von
       der US-amerikanischen Autorin, Filmemacherin und Künstlerin Miranda July.
       Es geht um eine Frau in der Mitte ihres Lebens, die versucht, ihre Libido
       gegen alle Widerstände zu verteidigen.
       
       Für die meisten Frauen ist diese ab der zweiten Lebenshälfte von allen
       Seiten bedroht: vom [1][sinkenden Östrogenspiegel,] vom erschlaffenden
       Körper, von den eigenen Vorurteilen und Ängsten, vom Muttersein oder von
       festgefahrenen Beziehungen. „Wir stürzen jeden Moment von einer Klippe. In
       ein paar Jahren sind wir völlig andere Menschen“, sagt die Icherzählerin an
       einer Stelle im Buch über Frauen Mitte 40.
       
       Recht hat sie. Am Ende des Romans wird sie wirklich ein anderer Mensch
       sein. Aber aus einem anderen Grund: Sie hört die Mahnung rechtzeitig. Und
       findet – das ist das Tolle an „Auf allen vieren“ – einen Weg aus der
       Misere. Dank vieler irrationaler Entscheidungen, seltsamer Umwege und eines
       Blicks auf die Welt, wie er wohl nur von einer Miranda July erfunden werden
       kann.
       
       ## Flapsige Bemerkungen des Gatten
       
       July ist eine Spezialistin für verschroben-sympathische Figuren und
       skurrile zwischenmenschliche Begegnungen. Selbst in der tristesten Umgebung
       oder dem schnödesten Alltag gelingt es ihr, eine aufregende und verstörende
       Welt zu entdecken. Wie zum Beispiel [2][in ihren Spielfilmen] wie „Ich und
       du und alle, die wir kennen“ (2005) oder „Kajillionaire“ (2020), ihren
       Short Storys oder ihrem Roman [3][„Der erste fiese Typ“] (2015).
       
       Und jetzt wieder in „Auf allen vieren“. Alles beginnt mit einer flapsigen
       Bemerkung des Ehemanns der Icherzählerin auf einer Party. Er teilt die
       Menschen in „Fahrer“ oder „Einparker“ ein. Fahrer sind diejenigen, die
       Dinge durchziehen und dann glücklich sind. Einparker die, die ständig
       Bestätigung suchen und sonst unglücklich sind. Seine Frau zählt für ihn zur
       zweiten Gruppe.
       
       Tatsächlich entspricht die Selbstbeschreibung der Protagonistin eher dem
       Typus Einparker (und erinnert sehr an July selbst): Sie sei eine Frau, eine
       Künstlerin, „die in jungen Jahren auf mehreren Gebieten erfolgreich war und
       sehr beständig weitergearbeitet hat“. Immer in Kommunikation „mit dem
       Universum“. Seit Jahren sei sie nicht dazu gekommen, ihren wackelnden
       Arbeitstisch zu reparieren, schließlich sei sie „ständig an einem
       Wendepunkt“, stehe „alles kurz vor der Offenbarung“.
       
       Kein Wunder, dass es ihr schwerfällt, ihren alltäglichen Mutter- und
       Ehepflichten nachzukommen. Genau das will sie jetzt ändern. Schließlich ist
       es nie zu spät, noch eine „Fahrerin“ zu werden.
       
       ## Ein sehr kurzer Roadtrip
       
       Für einen geplanten Besuch in New York nimmt sie nicht wie üblich das
       Flugzeug, sondern plant eine Autoreise. Quer durchs Land. Von ihrem Wohnort
       Malibu bis zur Ostküste. Sie bereitet sich minutiös vor, verabschiedet sich
       von Mann und Kind und reiht sich auf der Schnellstraße ein. Doch nach 20
       Minuten Fahrt muss der Wagen aufgetankt werden – und das war’s dann mit dem
       Roadtrip. Dafür beginnt ihre eigentliche Reise.
       
       In Monrovia, einer Kleinstadt im Los Angeles County, mietet sie sich in
       einem schäbigen Motel ein und beginnt eine romantische, aber sexfreie
       Affäre mit dem gut zehn Jahre jüngeren Hertz-Mitarbeiter Davey. Von dessen
       Frau Claire, die eine Karriere als Innenausstatterin anstrebt, lässt sie
       sich ihr Motelzimmer luxuriös umgestalten.
       
       Es ist dieses Zimmer Nummer 321, das im Laufe des Romans zum Zentrum der
       sexuellen Entwicklungsreise der Mitvierzigerin wird, ihre „Höhle“, ihr
       selbst erschaffener „gottverdammter Mutterleib“.
       
       ## Sexuelle Erweckung mit der Antiquitätenhändlerin
       
       Hier erlebt sie ihre sexuelle Erweckung mit der um einiges älteren
       Antiquitätenhändlerin Audra. Hier schläft sie mit ihrer neuen Freundin
       Kris, nachdem sie sich mit ihrem Ehemann auf eine offene Beziehung geeinigt
       hat. Hier spricht sie mit der weltberühmten Popsängerin Arkanda über das
       Trauma, das die Geburt ihres Kindes hinterlassen hat.
       
       Und hier ändert sich ihr Blick auf das abstrakte Bild unterm Bett. Die
       ältere Frau vor dem verschlossenen Höhleneingang. Die Mahnung an alle
       Frauen in den Vierzigern. „Plötzlich war es unmöglich, nicht zu sehen, wie
       kerzengerade sie aufgerichtet war“, als würde sie Wache halten vor einem
       „sehr wichtigen, exquisiten – beinahe heiligen – Ort“.
       
       Die Frau auf dem Bild hat die Warnung also doch gehört. Sie steht nicht vor
       verschlossenen Türen. Sondern sie bewacht etwas. Ihre Sexualität. Genauso,
       wie es die Protagonistin des Romans schließlich tut. Stellvertretend für
       alle Frauen, die das Glück haben, diesen Roman lesen zu können.
       
       14 Jun 2024
       
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