# taz.de -- Neuer Krimi von Jakob Nolte: Was macht ein Zugvogel in Hannover?
       
       > In Jakob Noltes Krimi „Die Frau mit den vier Armen“ wird nach Playlist
       > gemordet. Solche Post-Netflix-Literatur stünde auch TV-Tatorten gut zu
       > Gesicht.
       
 (IMG) Bild: Horror an der Hannoveraner Oper mit Musik von Bernd Begemann und Gewitterhimmel
       
       Schlagen wir einen Roman auf, egal ob von Sebastian Fitzek oder Herta
       Müller, so wissen wir meist schon ziemlich genau, was uns erwartet.
       Spätestens nach den ersten paar Seiten steht unser Vorentwurf, wie nach dem
       Leichenfund im „Tatort“, einigermaßen fest, und es kommt selten vor, dass
       wir ihn in der weiteren Lektüre grundsätzlich korrigieren müssten.
       
       Anders bei Jakob Nolte. Hier weiß man nach Lektüre der großartigen
       Vorgängerromane, dass man eben nicht weiß, wie’s weitergeht. Figuren können
       sich irgendwann in Monster oder Nagetiere verwandeln („Kurzes Buch über
       Tobias“, 2021), oder der Roman beginnt als europäische
       Geschwistergeschichte, um ab irgendeinem Punkt kommentarlos unter Hyänen in
       Zentralasien zu spielen („Schreckliche Gewalten“, 2017).
       
       Das heißt zum einen, dass man Nolte-Romane kaum rezensieren kann, ohne zu
       spoilern, zum anderen aber, dass die Lektüre seines aktuellen Werks „Die
       Frau mit den vier Armen“ durch die entsprechende Erwartungshaltung von
       Beginn an unter Strom steht, auch wenn die Handlung recht traditionell mit
       einem Leichenfund am Leineufer in Hannover einsetzt und sich dann ganz
       offen, tja, in Richtung „Tatort“ entwickelt.
       
       ## Zuverlässiger Sidekick
       
       Da sind die etwas eigenbrötlerische Kommissarin Rita, ihr zuverlässiger
       Sidekick, ihr problematischer Ex, die Gerichtsmedizinerinnen und der
       berufsjugendliche Staatsanwalt – kurz, ein Team nach bewährtem Muster, das
       sofort in Serie gehen könnte; wie der Mord es kurz darauf natürlich auch
       tut. Sogar ein etwas depperter Polizist à la Overbeck spielt eine Rolle
       (okay, das ist jetzt „Wilsberg“), Gerd Lampe. Und dann gucken diese Figuren
       auch noch „Tatort“ (den Solinger, der allerdings fiktiv ist) und „Lupin“.
       
       Solche selbstreflexiven Schleifen signalisieren, dass hier bewusst nach den
       Medien erzählt wird, als Post-Netflix-Literatur sozusagen. Das wiederum
       könnte man als Ausdruck jener „gesteigerten Jetztbereitschaft“ lesen, die
       gleich zu Beginn programmatisch verkündet wird und Noltes Prosa immer schon
       unaufdringlich im Umfeld einer jüngeren, popaffinen Gegenwartsliteratur
       platzierte (mit, sagen wir, Leif Randt, Joshua Groß, Lisa Krusche).
       
       Dieser Generation ist der Klimawandel ebenso geläufig wie das Internet. Im
       „Tobias“-Roman gab es zum Beispiel eine Liste der 48 Fenster, die der Held
       auf seinem PC in Google Chrome geöffnet hatte, hier nun wird unter anderem
       nach Playlist gemordet und ermittelt (ja, Taylor Swift kommt auch vor!).
       Nolte findet dabei eine literarische Form und Sprache für das Tautologische
       unserer Medienumgebungen; die Datingapp heißt „Datingapp“, das Videoportal
       „Videoportal“, oder, so schön wie wahr: „Im Radio Radio“.
       
       ## Präzise Ortsangaben
       
       „Eigentlich wollte ich nicht nach Hannover“, sang einst Bernd Begemann.
       Genau dort aber findet dieser Roman seine Welt, und zwar mit sehr präzisen
       Ortsangaben, etwa dem Ihme-Zentrum, dem Burgerlokal Five Guys und der
       Opernkantine: „Gottlos blubberte das Essen in Kübeln hinter einer
       Glasfront.“
       
       Solche Sätze gelingen Nolte, und sie allein lohnen schon die Lektüre.
       Dieser hier formt eine Alltagsbeobachtung mit hohem Wiedererkennungswert zu
       einer Theodizee des Profanen. Opernkantine, „Tatort“ und die
       niedersächsische Landeshauptstadt – der Roman versammelt exemplarische
       Muster des bundesrepublikanischen Mittelstands. „Denn dafür“, heißt es
       einmal, „könnte Hannover doch stehen, für einen Mittelstand des
       Miteinanders, dank dem sich die Schere zwischen Hartz 5 und Quandt einfach
       schließen ließe.
       
       Für eine Nation Jogginghosen tragender Bausparer mit breitem Interesse an
       E- und U-Musik, Lastenfahrrädern und Solarpaneelen.“ („Und die Kriege
       würden aufhörn / Wenn alle wie Bad Salzufelner wärn“, vermeint man erneut
       im Hintergrund [1][Begemann] singen zu hören.)
       
       ## Feier des mittleren Maßes
       
       Was wir hier vor uns haben, ist nun aber nicht einfach die alte Pop-Ironie.
       Vielmehr ist eine solche Feier des mittleren Maßes vom postpragmatischen
       Programm eines unaufgeregt guten Lebens, das Jakob Nolte mit Leif Randt auf
       der gemeinsamen Plattform Tegel Media propagiert, gar nicht so weit
       entfernt.
       
       Allerdings kann man sich schon Kommissarin Rita nicht recht beim Badminton
       in einer Grundschulturnhalle vorstellen, wie es Randts mittlere
       Held:Innen in „Allegro Pastell“ zelebrieren. Sie fährt lieber Rallyes im
       Fiat 131 Abarth, da wird schneller geschaltet und mehr riskiert (allerdings
       braucht man wohl auch ein verlässliches Skript und einen guten Beifahrer).
       
       Vor allem aber scheint die geheimnisvolle Serienmörderin selbst etwas gegen
       das laue Mittelmaß zu haben, und so kommt es „das erste Mal seit der Expo
       2000“ dazu, „dass Dinge, die in Hannover passierten, den Rest der Republik
       interessierten“. Die Medien brauchen schließlich die unerhörte Begebenheit
       nicht weniger als die Literatur; im Roman avanciert der Kriminalfall sogar
       zur kreativen Herausforderung für die Hildesheimer Schreibschule. Wieder so
       eine Schleife!
       
       ## Gummihandschuh von Wolf Haas
       
       Und bleibt das jetzt so, oder kommt es irgendwann zum mit Spannung
       erwarteten Nolte’schen Bruch? Das wird hier natürlich nicht verraten.
       Immerhin gibt es ja von Wolf Haas, an dessen Bücher der Schutzumschlag mit
       dem Gummihandschuh erinnert, bis Dominik Graf durchaus Beispiele dafür, wie
       man sich den Krimi für Höheres anverwandeln kann.
       
       Und in der Tat finden sich auch in „Die Frau mit den vier Armen“ bei
       näherer Hinsicht schon im Genrehaft-„Tatort“-mäßigen interessante Spuren.
       Rita hat eine Freundin, die Schriftstellerin Melanie (ihr Sohn Justus ist
       ein Anwärter auf die beste Nebenrolle in der jüngeren Literatur!), und die
       malt ihr, als die Situation ganz verfahren scheint, so eine Mindmap auf,
       wie sie als Crazy Board (oder wie diese Pinnwände mit Fotos, Namen und
       Wollfäden heißen) inzwischen in keinem Genrekrimi mehr fehlen darf, und
       zwar aus Sicht der unbekannten Täterin.
       
       Darauf findet sich neben interessanten Frauennamen („Lukretia, Phaidra,
       Sexton, Kane“) auch das ungewöhnliche Wort „Halbtrauer“ – die Spur führt
       hier zum formal kühnen Heidedichter Arno Schmidt („Kühe in Halbtrauer“).
       
       Ist so die Aufmerksamkeit einmal geweckt, findet man viele weitere
       Verweise: Von einem „Fluß ohne Ufer“ ist die Rede (Hans Henny Jahnn),
       „Kommissar Bärlach“ aus Dürrenmatts „Der Richter und sein Henker“ wird
       ebenso erwähnt wie Doderers „Die Strudlhofstiege“, und schon fragt man
       sich, ob nicht auch der Vogel Pirol, der gleich auf der ersten Leiche
       turnt, womöglich eher einem Text von Peter Altenberg entflogen ist als der
       Eilenriede, dem hannoverschen Stadtwald.
       
       ## Der falsche Serienmörder
       
       Und überhaupt: Sind Pirole nicht obligate Zugvögel? Was macht denn der im
       November in Hannover? Den vermeintlich so dominanten Lokalbezug unterläuft
       subtil auch die Erwähnung Peter Kürtens; der Vampir von Düsseldorf ist hier
       ja der falsche Serienmörder, man hätte, wenn schon, dann eher Fritz
       Haarmann erwartet.
       
       Eher nebenbei verdichten sich solche Irritationen auch mal zu kleinen, aber
       wohltuenden Inseln der Verfremdung im bequemen Erzählfluss. Eine davon
       beginnt mit dem Satz: „Die Polizeidirektion Hannover in der Waterloostraße
       9 war zum Großteil aus Steinen zusammengesetzt.“
       
       Damit wird eine zweieinhalbseitige denkwürdige Beschreibung der
       Polizeiwache eröffnet, die vom Mauerwerk bis ins Innere der Computer und zu
       den internen Zeichenspielen und Sprachregelungen führt. Nach der Lektüre
       wird man die Bilder entsprechender Gebäude und Interieurs, wie sie dauernd
       in „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ gezeigt werden, nie mehr so sehen wie
       vorher.
       
       Solche Passagen reißen uns Leser:innen aus der Lampe’schen
       Begriffsstutzigkeit heraus, die eigentlich nur schlaffe Bequemlichkeit ist,
       und setzen uns ein Licht auf. Als der die Wetterlage der Vornacht nicht
       angeben kann, raunzt Rita ihn an: „‚Haben Sie zufällig einen
       leistungsfähigen Minicomputer mit stabiler Internetverbindung dabei?‘ ‚Wie,
       also –‘, sagte der Polizist mit der zu großen Mütze. ‚Sie meint dein
       Handy‘, sagte der Kollege.“
       
       Und verfügen nicht auch wir beim Lesen immer über einen Second Screen und
       müssen deshalb nicht alles immer erklärt bekommen? Am Rande ahnt man an
       solchen Stellen, wie gut unsere „Tatorte“ sein könnten, wenn deren Macher
       sich uns, das Publikum, nicht ganz so Gerd-Lampe-haft vorstellen und sich
       nur ein kleines bisschen mehr trauen würden. Könnte man ja in Solingen mal
       probieren. Oder in Hannover.
       
       17 Jun 2024
       
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