# taz.de -- Wissenschaftler über Polarisierung: „Medien tragen zur Spaltung bei“
       
       > Michael Brüggemann untersucht, wie Journalist:innen Polarisierung
       > beeinflussen. Zu oft, sagt er, würden sie Fakten und Meinungen
       > verwechseln.
       
 (IMG) Bild: Solche Aktivist:innen halten viele Medien für „Staatsfeinde“ und „Terroristen“
       
       taz: Herr Brüggemann, [1][was verstehen Sie unter Polarisierung]? 
       
       Michael Brüggemann: Wenn Großgruppen zunehmend extreme,
       auseinanderdriftende Meinungen zu Sachverhalten oder eine unterschiedliche
       Realitätswahrnehmung haben. Im Unterschied zur Meinungsverschiedenheit
       mögen sie sich nicht, sprechen sich gar die Menschenwürde ab.
       
       taz: Inwiefern schadet Polarisierung der Demokratie? 
       
       Brüggemann: Das kann man in den USA beobachten, wo sich [2][anders als für
       Deutschland belegen] lässt, dass die Gesellschaft bereits gespalten ist.
       Dort akzeptieren Anhänger der Republikaner keine Mehrheitsentscheidungen
       mehr und stürmen das Kapitol. Auch vor den beiden Weltkriegen gab es starke
       Polarisierung.
       
       taz: Sie untersuchen Polarisierung in sozialen Medien und im Journalismus.
       Warum? 
       
       Brüggemann: Weil sich der Polarisierungsprozess in Kommunikation entwickelt
       und äußert – bevor es zu Handlungen kommt, im Extremfall Gewalt. Wir
       untersuchen das am Beispiel von Klimaschutz-Diskursen. Dabei haben wir
       festgestellt, dass alle Redaktionen mehr oder weniger auf der Letzten
       Generation herumgehackt haben. Bild und Junge Freiheit haben sie als
       „Kriminelle“ und „Terroristen“ bezeichnet, der Spiegel als „Staatsfeinde“
       und „Klimasekte“.
       
       taz: Aber das haben doch nicht alle Medien getan. 
       
       Brüggemann: Nein, aber sie haben das Thema in erster Linie anhand der Frage
       abgehandelt, ob man sich auf Straßen festkleben darf und wie lange und wo.
       Anstatt über das Anliegen der Proteste zu schreiben, nämlich globale
       Klimagerechtigkeit und darüber, wie die Regierung dieses Ziel verfolgt.
       Damit sind linke Medien in eine Falle getappt, die ihnen Rechte gestellt
       haben.
       
       taz: Ist es nicht einfach schlechter Journalismus, wenn über Phänomene
       oberflächlich berichtet wird? 
       
       Brüggemann: Recherche wird oft durch Zeitdruck oder schlechte Bezahlung
       verhindert, oder es fehlen Leute, die hinreichend qualifiziert sind für den
       Berichtgegenstand. Aber klar, guter Journalismus würde differenzierter und
       mehr über strukturelle Probleme berichten. Es ist viel einfacher, über die
       Bauern zu schreiben, die mit Traktoren in die Hauptstadt fahren als über
       die Agrarpolitik der EU.
       
       taz: Wie wirken Medien noch polarisierend? 
       
       Brüggemann: Wenn sie Stimmen in Debatten privilegiert, die sich sehr
       aggressiv äußern. Über diese Achillesferse des Journalismus ist die AfD
       groß geworden und Donald Trump. Die wissen genau, welche provokanten
       Äußerungen sie raushauen müssen, damit Journalisten drauf springen. So
       werden aus anfangs irrelevanten Nebenakteuren plötzlich Hauptakteure. Bei
       der Letzten Generation verlief das genau so.
       
       taz: Wie meinen Sie das? 
       
       Brüggemann: Das war anfangs eine Handvoll Studierender in Berlin. Das haben
       Journalisten und Journalistinnen aber nicht erwähnt oder mal recherchiert,
       wie viele Leute das eigentlich sind, die behaupten, sie legen jetzt die
       Autobahnen in Deutschland lahm.
       
       taz: Medien behaupten gerne, sie würden neutral berichten. 
       
       Brüggemann: Genau. Und nur wiedergeben, was andere sagen. Aber wenn sie
       Behauptungen nicht infrage stellen, machen sie sich diese zu eigen.
       Journalismus polarisiert, [3][wenn er eine falsche Ausgewogenheit
       herstellt]. Auch in der Klimadebatte werden gerne Fakten und Meinungen
       verwechselt. Wenn jemand sagt, der Klimawandel sei ein gravierendes Risiko
       für die Menschheit, kann er das belegen. Nicht aber derjenige, der sagt, es
       sei alles halb so wild.
       
       taz: Das heißt, es sollte mehr über das Wie, nicht das Ob berichtet werden? 
       
       Brüggemann: Ja. Es ist einfach gar keine relevante Frage mehr, ob der
       Klimawandel stattfindet oder ob man CO2 einsparen muss. Medien müssten
       fragen, wie weitreichend ein Tempolimit sein muss, damit es effektiv ist
       oder wie der Emissionshandel so gestaltet werden muss, dass er
       funktioniert, welche Alternativen es dazu gibt.
       
       taz: Aber ich muss als Journalistin doch Kritiker:innen zu Wort kommen
       lassen. Zum Beispiel, wenn Flüssen mehr Raum gegeben werden soll und
       Landwirte Flächen aufgeben müssen. 
       
       Brüggemann: Natürlich gehört es dazu, auf die Probleme hinzuweisen und
       Lösungen einzufordern. Aber ich muss als Journalist erkennen können, was
       legitime Kritikpunkte sind.
       
       taz: Und den Bullshit ignorieren? 
       
       Brüggemann: Oder als solchen offenlegen.
       
       taz: Die Grünen werden oft als Verbotspartei bezeichnet, wenn sie
       weitreichende Vorschläge zum Klimaschutz machen. 
       
       Brüggemann: Medien müssen dieses Framing nicht unkritisch übernehmen.
       Interessant ist doch, dass wir in anderen Lebensbereichen Vorschriften
       akzeptieren, denken Sie an die Straßenverkehrsordnung – die nennt niemand
       ein Verbots-Regelwerk. Nachhaltigkeitsdebatten eskalieren grundsätzlich
       sehr schnell, teilweise anhand von Nichtigkeiten. Über andere Themen wird
       nicht so leidenschaftlich gestritten.
       
       taz: Welche meinen Sie? 
       
       Brüggemann: Ich [4][vermisse eine Debatte über gesellschaftliche
       Ungleichheit]. Wir streiten über ein Tempolimit auf Autobahnen. Aber nicht
       darüber, wie gerecht es ist, dass der eine in der großen Villa an der
       Alster wohnt und die andere sich keine Wohnung im Stadtzentrum leisten
       kann. Unsere Inhaltsanalysen zu Berichterstattung über Zukunftsvisionen im
       Rahmen des Klimawandels zeigen, dass Fragen eines umfassenden Wandels
       unseres Wirtschaftssystems nur selten diskutiert werden.
       
       taz: Wie messen Sie eigentlich Polarisierung? 
       
       Brüggemann: Wir können den Grad der Toxizität eines Diskurses messen
       mithilfe von Algorithmen, die Texte oder Diskussionen in sozialen Medien
       untersuchen in Hinblick auf Wut und starke Gefühle. Das gibt Hinweise
       darauf, wie fortgeschritten die Polarisierung der Kommunikation
       vorangeschritten ist.
       
       taz: [5][Demnächst wollen Sie Empfehlungen veröffentlichen], wie Medien
       Polarisierung entgegenwirken können. 
       
       Brüggemann: Das ist das Ergebnis eines Workshops am New Institute, den wir
       im Rahmen unseres Programms „Depolarizing Public Debates“ durchgeführt
       haben. Wir werden auch darauf hinweisen, dass man Polarisierung auch
       herbeischreiben kann.
       
       taz: Wie? 
       
       Brüggemann: Wenn Medien ständig behaupten, Deutschland sei bereits total
       gespalten, ohne das anhand von belastbaren Daten belegen zu können. Wenn
       sie stark negativ emotional aufgeladene Begriffe benutzen wie
       „Klimakleber“, „Impfgegner“, „Wutbauern“. Oder Gruppen als extremer
       darstellen, als sie sind. Die Forderungen der Letzten Generation sind
       letztlich total moderat, etwa das 49-Euro-Ticket für die Bahn günstiger
       anzubieten oder die nach einem Tempolimit.
       
       10 Aug 2024
       
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