# taz.de -- 100. Geburtstag von J. D. Salinger: Die Waffen der Außenseiter
       
       > Viele Kraftlinien des 20. Jahrhunderts laufen durch J. D. Salinger
       > hindurch. Der „Fänger im Roggen“ ist ein guter Einstieg in die Literatur.
       
 (IMG) Bild: J. D. Salinger spielt mit seinem Hund Benny (undatierte Aufnahme)
       
       Den [1][„Fänger im Roggen“] habe ich, wie so viele Menschen, im
       Schulunterricht kennengelernt. Ich meine mich noch an den Gesichtsausdruck
       unseres Deutschlehrers zu erinnern. Okay, wir hatten jetzt die „Waage der
       Baleks“ von Böll, das „Urteil“ von Kafka und die „Deutschstunde“ von Lenz,
       aber dies hier ist noch etwas anderes, mal sehen, was ihr davon haltet, das
       sagte dieser Blick.
       
       Er war wohl selbst gespannt darauf, wie wir Pubertierenden auf die
       Jugendsprache des Ich-Erzählers Holden Caulfield reagierten. Vielleicht
       fühlte er sich auch von der Figur des Lehrers getroffen, der Holden gleich
       am Anfang ins Gewissen zu reden versucht, vergeblich natürlich.
       
       „Do you feel absolutely no concern for your future, boy?“ Der Spruch hätte
       ja auch von einem zeitgenössischen Lehrer kommen können.
       
       Was ich genau bei diesem ersten Lesen gedacht habe, weiß ich dagegen nicht
       mehr. Das Klischee will, dass man diesen Roman als junger Mensch
       identifizierend liest – als Flaschenpost, die bei all seinen vielen
       Millionen LeserInnen nur an einen selbst gerichtet ist. Doch ich glaube
       nicht, dass das bei mir zutraf. Dieser Roman trat einem von Anfang an
       beschwert durch seine eigene Legende entgegen. Ich denke eher, ich werde
       mich angestrengt haben, ihn identifikatorisch zu lesen; aber das ist etwas
       anderes. Glücklich und bedeutsam fühlte ich mich aber schon, wenn es
       gelang.
       
       ## Alles Mögliche ist verlogen
       
       Was unbedingt beim Jugendlichen, der ich damals war, ankam, war das Motiv
       der Verweigerung. Alles Mögliche ist phony, verlogen also, im „Fänger im
       Roggen“, Menschen, Situationen, im Grunde ganz Manhattan, durch das Holden,
       nachdem er von der Schule geflogen ist, ein Winterwochenende lang streift.
       Wer sich mit der Gesellschaft einlässt so wie D. B., sein Bruder, den er
       gleichwohl auch bewundert, prostituiert sich in seinen Augen. Und Holden
       fliegt ja nicht von der Schule, weil er dumm wäre. Er hat nur keine Lust
       auf den ganzen Kram, der von ihm verlangt wird.
       
       Dieses Motiv wird jedes Jahrzehnt in einer anderen Facette schillern. Um
       1980 herum traf das auf eine Zeit, in der man es sich im Dagegensein längst
       gemütlich machen konnte. Jürgen Habermas hatte Verweigerungen und
       Motivationsdefizite von Jugendlichen als Kritik an den bestehenden
       Verhältnissen interpretiert. Aussteiger waren in. Punk leuchtete einem
       sofort ein.
       
       Den „Fänger im Roggen“ habe ich also als ein Teil der Gegenkultur gelesen.
       Als Buch, das einem zeigte, dass man recht hatte mit seiner Abwehrhaltung
       gegen die Welt der Erwachsenen. Und das Motiv der Rettung? Der Fänger soll
       die Kinder, die durch ein Roggenfeld auf einen Abgrund zulaufen, ja fangen,
       bevor sie hinunterstürzen. Dieses Motiv, so schlicht, tief und schön, hat
       lange gebraucht, bis es mich wirklich erreicht hat. Aber dann traf es
       richtig.
       
       Eine Zeitlang bin ich mit der fixen Idee herumgelaufen, dass Hanno
       Buddenbrook nicht hätte sterben brauchen, wenn er nur schon den „Fänger im
       Roggen“ gekannt haben könnte. Der mondäne New Yorker Hintergrund Holdens,
       Park Avenue und all das (er ist ja ein rich kid, das Unbehaustheit spielt),
       hat mit der Lübecker Kaufmannswelt, die Thomas Mann schildert, zwar wenig
       zu tun.
       
       ## Beobachtungswut als Verbindung
       
       Aber in einem Punkt treffen sich die literarischen Figuren Holden und Hanno
       eben doch: in ihrer Beobachtungswut, in der gesteigerten Aufmerksamkeit für
       ihre Umwelt, die von dem Gefühl herrührt, in der Welt, in die man geboren
       wurde, fremd zu sein. Beobachten, das ist ihre Abwehrwaffe.
       
       Hanno entscheidet sich in der Tiefe seines Unbewussten gegen so ein Leben,
       wie es sein Vater führte. Dann stirbt er, oberflächlich gesehen an Typhus,
       in Wirklichkeit aber natürlich an seiner Entscheidung. Hätte er den „Fänger
       im Roggen“ gelesen, er hätte sich vielleicht verstanden und nicht so
       ausgeliefert gefühlt. Er hätte die Krise überstanden und dann – na, dann
       mal sehen, wie es weitergeht.
       
       Der „Fänger im Roggen“ ist überhaupt ein guter Einstieg in die Literatur,
       viele literarische Kraftlinien des 20. Jahrhunderts laufen durch ihn
       hindurch.
       
       Da ist natürlich das weitere, schmale, aber schillernde Werk J. D.
       Salingers, diese hochartifiziellen, seltsam mäandernden Geschichten rund um
       die Glass-Familie (hinter denen ich aber beim Lesen immer etwas Predigendes
       gewittert habe). Da wäre Thomas Pynchon, den man auch vom „Fänger“ aus
       lesen kann: der Autor als Holden, der sich mit Haut und Haaren in die
       Literatur als Sprache und Gegenwelt gestürzt hat.
       
       ## Der „Fänger“ als Durchlauferhitzer
       
       Außenseitertum, das Durch-die-Straßen-Laufen – diese Grundmotive der
       literarischen Moderne sind natürlich auch drin, Knut Hamsuns „Hunger“ und
       der Anfang des „Malte Laurids Brigge“. Aber auch in der realistischen
       US-amerikanischen Literatur – in der es viel darum geht, den Menschen ihre
       eigene Stimme zu geben – ist der „Fänger“ ein Durchlauferhitzer. Die Linien
       gehen zurück bis zu Mark Twains „Huckleberry Finn“. Und sie reichen, meine
       ich, bis hin zur erwachsenen, durch alle Krisen hindurchgegangenen
       Erzählstimme bei Richard Ford.
       
       Später habe ich den „Fänger im Roggen“ auch als historisches Dokument
       gelesen. Das war, nachdem klar geworden war, wie kriegstraumatisiert J. D.
       Salinger tatsächlich gewesen ist. In „Salinger. Ein Leben“, der
       Biografie-Collage von David Shields und Shane Salerno, kann man
       nachverfolgen, was für furchtbare Dinge Salinger als US-Soldat im Zweiten
       Weltkrieg gesehen hat (die ersten sechs Kapitel des „Fängers“ immer mit im
       Gepäck).
       
       In der Normandie hat er die Schrecken wochenlangen Nahkampfs erlebt. Im
       Hürtgenwald war er bei einer der verlustreichsten taktischen Niederlagen
       der US-Army dabei. Schließlich war er bei den allerersten Soldaten, die im
       Außenlager des KZs Dachau Häftlinge befreiten, die nur schwankende Gerippe
       waren.
       
       ## Nachläufer des Zweiten Weltkriegs
       
       Man hat (und ich habe mit) den „Fänger im Roggen“ lange Zeit parallel zu
       den gesellschaftlichen Aufbrüchen und der Gesellschaftskritik von 68
       gelesen. Tatsächlich ist das Buch auch ein Nachläufer des Zweiten
       Weltkriegs. Man hat es lange nicht gesehen, aber es steht drin: „Jedenfalls
       bin ich irgendwie froh, dass sie die Atombombe erfunden haben. Wenn je
       wieder Krieg ist, dann setz ich mich ganz obenauf.“
       
       In Salingers berühmtester Story seines Bandes „Neun Erzählungen“, in „Ein
       idealer Tag für Bananenfische“, erschießt sich ein Mann ohne Vorwarnung
       selbst. Diesen Schuss kann man in seinem ganzen Werk nachhallen hören. Oder
       vielmehr die Stille nach diesem Schuss.
       
       Bei Shields und Salerno erfährt man auch Dinge, die den Mythos gehörig
       ankratzen. So hatte Salinger, der die Erwachsenen wirklich verlogen fand,
       Affären mit Minderjährigen und setzte dafür seinen schriftstellerischen
       Ruhm ein. Sein legendärer Rückzug aus der Öffentlichkeit auf sein Anwesen
       in Cornish, New Hampshire wirkt auch viel unfreier als lange geglaubt.
       Jahrelang hat er in einem selbst gebauten Bunker im Wald gesessen, Frau und
       Kinder im Haupthaus wochenlang allein gelassen und zwanghaft an seinen
       Geschichten geschrieben.
       
       Irgendwo im „Fänger“ merkt Holden an, dass ein gutes Buch eins sei, bei dem
       man gleich mit seinem Autor telefonieren wolle. Ging mir nach
       Shields/Salerno mit Salinger nicht mehr so.
       
       ## Der Außenseiter ist in die Jahre gekommen
       
       Dass der „Fänger im Roggen“ längst auch historisch geworden ist, liegt aber
       nicht daran – und im Kern auch nicht an den veralteten Slangausdrücken
       (dough für Geld, was Eike Schönfeld mit „Kohle“ übersetzt). Vielmehr ist
       die Figur des durch die Straßen tigernden Außenseiters selbst in die Jahre
       gekommen – vielleicht hat sie sich auch totgesiegt; so viele
       Caulfield-Kopien bevölkern mit ihrer Kulturkritik bis heute die
       literarischen Neuerscheinungen!
       
       Dabei gilt doch: Wer seine eigene Stimme sucht, kann nicht ständig Holdens
       Stimme hinterherlaufen. Sich fremd fühlen, als eine Art einziger Gerechter
       in der Welt, das ist auch eine (männliche) Selbstermächtigungsstrategie.
       
       Was bleibt, ist diese verdammte Sorgfalt, die Salinger in die Sprache
       gezaubert hat. Selbst mit auf feinste Stufe gestellten Bullshit-Detektoren
       wird man keine Szene, keine Dialogstelle finden, die ausgedacht erschiene.
       
       ## Da war was
       
       Ganz am Schluss, wenn Holden mit seiner Schwester Phoebe durch den Central
       Park streift, drückt Salinger sprachlich auf die Tube. Es sind immer noch
       dieselben jugendlichen Kraftausdrücke, nur haben sie jetzt etwas
       Glitzerndes, so als würde Holden selbst seine Geschichte ein Stück weit
       verklären oder auch, als würde er in ihr verschwinden.
       
       Jetzt, beim Wiederlesen (der „Fänger“ ist auch eine Art
       Weihnachtsgeschichte), hat mich diese sanfte Verklärung eigentlich am
       meisten interessiert. Ich hatte geglaubt, dieses Buch könne mir nichts
       Neues erzählen. Aber doch, da war was. Bis heute jedenfalls finde ich es
       merkwürdig, wenn jemand über den [2][„Fänger im Roggen“] schreibt, als sei
       das irgendein x-beliebiges Buch.
       
       1 Jan 2019
       
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