# taz.de -- AKW-Entscheidung des Kanzlers: Kernspaltung der Ampel verhindert
       
       > Kanzler Scholz hat mit einem Machtwort den wochenlangen Streit in der
       > Koalition beendet. Doch die Atomdebatte könnte wieder losegehen.
       
 (IMG) Bild: Politischer Hintergrund: Kühlturm des AKW Emsland dampft vor sich hin
       
       BERLIN taz | Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann redet am
       Dienstagmittag nicht lange drumherum. „Wir werden der Fraktion empfehlen,
       dem Vorschlag des Kanzlers zu folgen“, sagt sie vor der Sitzung. Und ist um
       größtmögliche Distanz bemüht. „Eine solche Richtlinienkompetenz übt man
       gegenüber der Bundesregierung aus“, Fraktion und Parlament seien dadurch
       nicht gebunden. Es geht um Olaf Scholz’ Machtwort und den Weiterbetrieb der
       drei Atomkraftwerke. Die Grünen, so scheint es, wollen mit diesem
       Kompromiss möglichst nicht kontaminiert werden.
       
       Wochenlang hatte sich die Ampel gestritten. Sollen die drei noch am Netz
       befindlichen Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland doch noch
       weiterlaufen, obwohl sie Ende des Jahres vorschriftsmäßig abgeschaltet
       werden sollten. Die Grünen hatten erst am Wochenende beim Parteitag
       entschieden: Zwei sind okay, das AKW Emsland auf keinen Fall. Die FDP
       wollte alle drei am besten bis 2024 am Netz lassen. Die SPD duckte sich
       weg.
       
       Vertrauliche Dreierrunden zwischen Bundeskanzler Scholz, dem Grünen
       Wirtschaftsminister Robert Habeck und FDP-Finanzminister Christian Lindner
       führten zu keinem Ergebnis. Am Montagabend hat der Kanzler ein Machtwort
       gesprochen: Alle drei Atomkraftwerke bleiben bis „längstens“ 15. April in
       Betrieb, teilte er Lindner, Habeck und der für Nukleare Sicherheit
       zuständigen Umweltministerin Steffi Lemke, Grüne, per Brief mit. Und hat
       damit den wochenlangen, festgefahrenen Streit zwischen FDP und Grünen erst
       einmal beendet.
       
       Doch in der Grünen-Fraktion ist die Empörung über den Basta-Brief des
       Kanzler groß. „Der Kanzler verstößt mit seiner Entscheidung gegen eine
       gemeinsame Vereinbarung der Koalition und handelt gegen die Fakten, weil
       die FDP sich querstellt“, sagte etwa der Haushaltspolitiker Sven-Christian
       Kindler der taz. „Der Kanzler hat machtpolitisch entschieden, um die FDP zu
       beruhigen – eine sachliche Entscheidung ist das nicht“, kritisierte auch
       Helge Limburg, rechtspolitischer Sprecher der Fraktion gegenüber der taz.
       Beide stammen aus Niedersachsen, sie verhandeln dort gerade die neue
       rot-grüne Koalition mit. Die Grünen waren mit dem Versprechen in den
       Landtagswahlkampf gezogen, dass es mit ihnen kein Weiterlaufen des AKWs
       Emsland geben werde.
       
       ## Zwei Lesarten bei Grünen
       
       Mit Wohlwollen wird die Entscheidung des Kanzlers dagegen vom dritten
       Koalitionspartner aufgenommen. „FDP wirkt“ posten FDP-Bundestagsabgeordnete
       am selben Abend. Auch FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner ist
       zufrieden. „Die weitere Nutzung des Kernkraftwerks Emsland ist ein
       wichtiger Beitrag für Netzstabilität, Stromkosten und Klimaschutz“,
       twittert er am Montagabend.
       
       Dabei bleibt die FDP weit hinter ihren Forderungen, sie forderte
       schließlich eine Laufzeitverlängerung bis 2024 und den Kauf neuer
       Brennelemente. Der energiepolitische Sprecher Michael Kruse findet dennoch:
       „Das ist ein Erfolg für die FDP, wir haben schon seit dem Frühjahr darauf
       gepocht, dass die drei AKWs weiter am Netz bleiben“, so Kruse zur taz. „Die
       Vorgehensweise ist doch nicht entscheidend. Es ist ein guter Kompromiss und
       eine gute Entscheidung für diesen Winter.“ Wichtig für die Menschen sei
       doch „die Versorgungssicherheit und dass die Strompreise sinken“.
       
       Die Grünen also düpiert von einer halbstarken FDP? Bei den Grünen gibt es
       zwei Lesarten. Die einen betonen, dass die Entscheidung des Kanzlers weit
       näher an der Position der Grünen sei und die Forderungen der FDP, eine
       Laufzeitverlängerung bis mindestens Ende 2023 samt dem Kauf neuer
       Brennelemente, damit vom Tisch. „Jetzt herrscht Klarheit: Es bleibt beim
       Atomausstieg“, twittert Umweltministerin Lemke. Haßelmann betonte, dass in
       Scholz’ Brief von „längstens“ bis 15. April die Rede und damit klar sei,
       dass keine neuen Brennstäbe gekauft würden. „Das heißt dann auch: keine“,
       so Haßelmann. Habeck sagte in der ARD, Scholz’ Entscheidung sei ein Weg aus
       einer verfahrenen Situation. „Das ist ein Weg, mit dem ich gut arbeiten und
       leben kann.“
       
       Andere halten es für fatal, dass sich die FDP mit ihren aus grüner Sicht
       unsachlichen Forderungen nun doch zumindest teilweise durchgesetzt hat,
       weil sie diese oft genug wiederholt habe. Sie befürchten, dass sich dies
       wiederholen könnte, weil FDP und auch die Union mit ihrem Kurs für eine
       Laufzeitlängerung weiter Druck machen werden.
       
       ## Wochenlanges Gezerre hat die Ampel beschädigt
       
       Auch die SPD ist weit davon entfernt, als lachender Dritter aus dem Streit
       zu gehen. Das wochenlange Gezerre zwischen Grünen und FDP habe auch die
       Ampel beschädigt, die Performance sei nicht gut, heißt es. Scholz’
       Machtwort wird keineswegs ungeteilt als Zeichen von Führungsstärke, sondern
       auch als Zeichen von Ohnmacht gedeutet, weil alle anderen Mittel versagt
       haben.
       
       Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers ist sowohl in der
       Geschäftsordnung der Bundesregierung als auch im Grundgesetz verankert.
       Dennoch ist es ein zweischneidiges und deshalb äußerst sparsam verwendetes
       Schwert. Indem er es zog, hat Scholz auch seine gesamte Autorität in die
       Waagschale geworfen – und muss nun darauf setzen, dass seine Anweisungen
       befolgt werden. Angela Merkel hat nur einmal in 16 Jahren
       Kanzlerinnenschaft im Streit mit Horst Seehofer mit ihrer
       Richtlinienkompetenz gedroht – aber sie nicht eingesetzt. Scholz, der sich
       viel auf seinen moderierenden Führungsstil zugute hält, setzt sie nach
       nicht einmal einem Jahr ein.
       
       SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich verteidigt das Kanzlermachtwort am
       Dienstag zwar: Es sei erforderlich gewesen, in einer Situation, in der sich
       FDP und Grüne wochenlang verhakt haben. Dennoch sei Scholz klug genug,
       diese Möglichkeit nicht inflationär zu nutzen.
       
       In der SPD hofft man, dass nun Ruhe einkehrt – schließlich gibt es
       wichtigere Dinge. Noch in dieser Woche soll der 200-Milliarden-Abwehrschirm
       auf den Weg gebracht werden – inklusive einer Preisbremse für Gas. Die
       Laufzeitverlängerung wird wohl erst in der nächsten Sitzungswoche
       debattiert. Der nötige Gesetzentwurf liegt noch nicht vor.
       
       ## Atomkraftdebatte damit beendet?
       
       Auch die Grünen hoffen, dass es nun zumindest keine Laufzeitverlängerung
       der Atomdebatte gibt. Und sind wohl bereit, sich zu fügen. Die Alternative
       wäre, wegen einer Laufzeit von dreieinhalb Monaten für Emsland in der
       größten Krise die Koalition platzen zu lassen. „Ich nehme wahr, dass es in
       der Abwägung in der Fraktion eine breite Unterstützung gibt“, sagt denn
       auch der umweltpolitische Sprecher der Fraktion, Jan-Niclas Gesenhues. Klar
       aber sei auch, dass nun Schluss sein müsse. „Die große Mehrheit der
       Fraktion und auch ich werden für die Beschaffung neuer Brennstäbe nicht die
       Hand heben.“
       
       Doch ob die Atomdebatte tatsächlich beendet oder nur vertagt wurde, lässt
       die FDP offen. Energiepolitiker Kruse betont zwar: „Wir wollen nicht wieder
       in die Kernenergie einsteigen.“ Dennoch bleibt er vage, ob damit aus
       FDP-Sicht auch ein Ende der Atomkraftdebatte erreicht ist. „Wir werden
       genau beobachten, wie sich die Situation in diesem Winter entwickelt“, so
       Kruse. Beim FDP-Abgeordneten Frank Schäffler klingt das anders. „Ein erster
       Schritt für die Nutzung der Kernkraft ist getan. Weitere müssen folgen“,
       kommentierte am Montagabend auf Twitter. Gut möglich, dass es nicht Scholz’
       letztes Machtwort war.
       
       18 Oct 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sabine am Orde
 (DIR) Jasmin Kalarickal
 (DIR) Anna Lehmann
       
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