# taz.de -- AfD in Thüringen: Radikale Realitäten
       
       > Im kommunalpolitischen Alltag ist die Brandmauer gegen rechts bröckelig.
       > In thüringischen Sonneberg hat der AfD-Kandidat Chancen bei der
       > Landratswahl.
       
 (IMG) Bild: Die AfD ist schon längst da: Ein Wahlkampfbus der Partei vor dem Gesellschaftshaus in Sonneberg
       
       Fast 500 Menschen sind an diesem Sommerabend Anfang Juni ins
       Gesellschaftshaus in Sonneberg gekommen, damit ist der Saal der Kreisstadt
       im Thüringischen an der Grenze zu Bayern fast voll belegt, es ist warm und
       stickig. Noch wenige Tage sind es bis zur Wahl eines neuen Landrats am
       kommenden Sonntag, Wahlkampf liegt in der Luft, und die
       Sonneberger:innen haben sich schick gemacht: Die Männer tragen Sakkos,
       die Frauen Sommerkleider, Pumps und Lippenstift. Es riecht nach Parfum und
       Schweiß. Und nach viel Konfliktpotenzial – was auch daran liegt, dass der
       AfD-Kandidat durchaus Chancen hat, in eine mögliche Stichwahl ums Amt zu
       kommen.
       
       Noch bevor der Moderator die erste Frage stellt, zeigt sich, wie gespalten
       das Publikum ist. Auf einer Leinwand läuft ein Video, in dem sich die vier
       Landratskandidat:innen kurz vorstellen. Als der AfD-Kandidat für das
       Landratsamt, Robert Sesselmann, dran ist, jubelt die Hälfte der
       Zuschauer:innen. Besonders laut applaudieren sie, als er sagt, dass
       Geflüchtete den Sonneberger:innen die Wohnungen wegnähmen und
       Deutschland „kein Weltsozialamt“ sei. Die andere Hälfte im Saal buht ihn
       lautstark aus.
       
       Mehrmals muss der Moderator die AfD-Anhänger:innen ermahnen, sich
       „anständig“ zu verhalten. Als die Kandidatin Anja Schönheit (parteilos)
       erklärt, was eine gute Integration ausmache, dringt sie mit ihrem
       Wortbeitrag kaum noch durch und muss beinahe abbrechen. „Das ist wirklich
       nicht sonderlich respektvoll“, sagt der Moderator zu den AfDlern. „Wir
       hören Ihrem Kandidaten genauso zu, wie Sie bitte auch den anderen zuhören.“
       
       Die [1][AfD erlebt derzeit ein Allzeithoch]. Wäre in Thüringen am Sonntag
       Landtagswahl, käme sie laut Insa-Umfrage auf 28 Prozent und wäre damit
       stärkste Kraft. Bundesweit liegt die rechtspopulistische Partei aktuell bei
       19 Prozent, was der höchste Wert ist, den ein Meinungsforschungsinstitut
       bisher für die AfD gemessen hat. Der Thüringer Verfassungsschutz hat den
       dortigen Landesverband – Fraktionschef ist der einflussreiche, radikal
       Rechte Björn Höcke – im Mai 2021 als gesichert rechtsextremistisch
       eingestuft.
       
       ## Wer ist der AfD-Mann in Sonneberg?
       
       Die AfD verfolgt schon lange das Ziel, erstmals einen Landrat in
       Deutschland zu stellen. Während sie bei den Landratswahlen in der
       AfD-Hochburg Sachsen vor einem Jahr noch klar gescheitert ist, hat sie den
       [2][Landratsposten im brandenburgischen Oder-Spree] Mitte Mai nur um
       Haaresbreite verpasst. 47,6 Prozent der Stimmen bekam der AfD-Kandidat. Als
       Nächstes nun also die Landratswahl im südthüringischen Sonneberg am 11.
       Juni: „Stellt euch vor, die AfD gewinnt ihren ersten Landkreis, was wäre
       das für eine Schlagzeile. Die Bundesrepublik Deutschland würde beben“,
       sagte der Rechtsextremist Höcke Anfang Mai.
       
       Wer ist der Mann, den die AfD in Sonneberg ins Rennen schickt, und hat er
       eine Chance, die Landratswahl zu gewinnen? Und wie viel Einfluss hat die
       AfD in Sonneberg ohnehin schon?
       
       Der Landkreis Sonneberg liegt ganz im Süden von Thüringen an der Grenze zu
       Bayern, nur 20 Bahnminuten vom bayrischen Coburg entfernt. Es ist der
       kleinste und einwohnerschwächste Landkreis in ganz Ostdeutschland. Knapp
       57.000 Menschen leben dort, die Hälfte davon in der gleichnamigen
       Kreisstadt, die auch Spielzeugstadt genannt wird. Anfang des 20.
       Jahrhunderts wurden dort 20 Prozent der weltweiten Spielwaren hergestellt.
       Die Region hat etwas Märchenhaftes: bergige Landschaften, grüne Täler,
       dichte Tannenwälder, kleine Dörfer.
       
       Der ganze Landkreis ist, man kann es nicht anders sagen, mit Wahlplakaten
       der AfD zuplakatiert. Seit Wochen fährt der AfD-Kandidat Sesselmann von
       Dorf zu Dorf, baut Wahlkampfstände auf und ab, verteilt Flyer und
       Bratwurstgutscheine. Auf Facebook teilt er zahlreiche Videos von
       AfD-Bundestagsabgeordneten, die dazu aufrufen, Sesselmann zu wählen.
       Berührungsängste mit den Radikalen seiner Partei hat er keine. Er postet
       Fotos mit Höcke und Videos, in denen er mit Mitgliedern der Jungen
       Alternative, die vom Bundesverfassungsschutz ebenfalls als rechtsextrem
       eingestuft wird, auf einem Marktplatz steht.
       
       Mit Sesselmann schickt die AfD einen Kandidaten ins Rennen, der schon
       einmal gescheitert ist – ebenfalls bei der Landratswahl, im Jahr 2018. Der
       50 Jahre alte Rechtsanwalt schied damals mit knapp 30 Prozent im ersten
       Wahlgang aus. Gewonnen hatte der von der Linken und SPD unterstützte
       Hans-Peter Schmitz (parteilos). Schmitz allerdings erkrankte schwer und war
       zwei Jahre krankgeschrieben, ehe er im März 2023 in den Ruhestand versetzt
       wurde – regulär wäre seine Amtszeit erst am 30. Juni 2024 zu Ende gegangen.
       Daher findet vorzeitig eine Neuwahl statt.
       
       ## Ein Gespräch mit der taz lehnt Sesselmann ab
       
       Genauso wie 2018 setzt Sesselmann, der im Thüringer Landtag sowie im
       Sonneberger Kreistag und Stadtrat sitzt, auch bei dieser Landratswahl fast
       nur auf bundespolitische Themen. Er will den Rundfunkbeitrag abschaffen,
       aus dem Euro austreten, die Russlandsanktionen aufheben, die Abschiebung
       „krimineller“ Geflüchteter beschleunigen, überhaupt „sichere Grenzen“ und
       ein Ende der „linksgrünversifften Verbotspolitik“. Kaum ein Thema, mit dem
       er Wahlkampf macht, wird im Kreistag entschieden.
       
       In seinem Wahlprogramm macht Sesselmann lieber systematisch Stimmung gegen
       Geflüchtete: Deutsche, insbesondere Rentner, würden als „Bürger zweiter
       Klasse“ behandelt. Während Geflüchtete Geld vom Staat erhielten, blieben
       „Krankenhäuser auf der Strecke“. Ginge es nach ihm, würden Geflüchtete
       Sachleistungen statt Geld bekommen. Ein Gespräch mit der taz lehnt
       Sesselmann ab, auch auf Fragen per Mail antwortet er nicht.
       
       „Sesselmann ist ein rechtsradikaler Populist“, sagt Nancy Schwalbach, 52,
       gemeinsame Kandidatin der Linken und Grünen. In der Fußgängerzone von
       Sonneberg – einer gepflegten Stadt mit prächtigen Gründerzeithäusern – hat
       die Grünen-Politikerin an einem Vormittag Anfang Juni einen Wahlkampfstand
       aufgebaut, mit rotem Sonnenschirm und kleinen Geschenken: Buntstifte,
       Einkaufswagenchips, Brillenputztücher, Flaschenöffner. Abends wird sie beim
       Wahlkampfduell im Gesellschaftshaus auf Sesselmann treffen.
       
       Die aufgeheizte Stimmung, die man am Abend noch spüren wird, spiegelt sich
       vormittags in der Fußgängerzone nicht wider. Der Zulauf von Passant:innen,
       die etwas von Schwalbach wissen wollen, ist mau. Genug Zeit also, um sich
       auf eine Bank zu setzen und zu quatschen. Schwalbach – kurzes, grau-braunes
       Haar, schwarzes T-Shirt, Sneaker – ist im Brandenburger Dorf Schwerin
       aufgewachsen und saß dort elf Jahre in der Gemeindevertretung. Sie war 27
       Jahre bei der Bundespolizei tätig, unter anderem in der öffentlichen
       Verwaltung. „Die Hauptaufgabe eines Landrats ist es, den Kreis zu
       verwalten. Ich bringe viel Verwaltungserfahrung mit“, sagt Schwalbach. Seit
       März ist sie Sprecherin des Grünen-Regionalverbands
       Sonneberg-Hildburghausen.
       
       Im Vergleich zu den anderen Kandidat:innen ist Schwalbach im Landkreis
       eine Unbekannte. Sie ist erst 2020 mit ihrer Patchworkfamilie aus dem
       Südosten Brandenburgs in die Spielzeugstadt gezogen. „Sonneberg war viele
       Jahre unser Urlaubsort“, sagt Schwalbach. Mit Mann und Kindern war sie oft
       beim Tag der offenen Tür des Modelleisenbahnherstellers Piko, der seinen
       Sitz in Sonneberg hat. Die Kinder, erzählt Schwalbach, wollten immer wieder
       Urlaub in Sonneberg machen. Irgendwann habe die Familie entschieden,
       dorthin zu ziehen.
       
       Schwalbach sagt, sie wolle gerne Rufbusse einführen und außerdem dafür
       sorgen, dass Geflüchtete, die nicht mehr im schulpflichtigen Alter sind, an
       der Volkshochschule einen Haupt- oder Realschulabschluss machen können.
       
       ## Nicht unwahrscheinlich, dass AfD-Kandidat gewinnt
       
       Seit 2015 engagiert sich die Landratskandidatin für Geflüchtete. Sie und
       ihr Mann kaufen alte Häuser, sanieren und vermieten sie günstig an
       Schutzsuchende und Migrant:innen. Damit allein sei es aber nicht getan,
       sagt Schwalbach. „Ich helfe ihnen, wenn sie Post vom Jobcenter oder dem
       Migrationsamt bekommen, gehe mit ihnen zum Elternabend der Kita und
       unterstütze sie bei der Jobsuche.“
       
       Als ein Ukrainer und sein elfjähriger Sohn, die in einem von Schwalbachs
       Häusern wohnen, an ihrem Wahlkampfstand vorbeispazieren, geht Schwalbach
       sofort zu den beiden hin. Mithilfe einer Übersetzungs-App fragt sie den
       Vater, ob er schon einen Unterhaltsvorschuss beantragt habe. Als er
       verneint, begleitet sie die beiden zum wenige Meter entfernten Sozialamt.
       Später erklärt sie, dass die Frau des Ukrainers wieder in die Ukraine
       gegangen sei, samt Kindergeld. Der Vater habe keinen Cent mehr.
       
       Gegen Nancy Schwalbach tritt Jürgen Köpper von der CDU an. Er vertritt seit
       knapp zwei Jahren den erkrankten Landrat und hat also den Amtsinhaberbonus.
       Seine Vorhaben: Schwimmbäder erhalten, die Digitalisierung in der
       Kreisverwaltung voranbringen, den ÖPNV ausbauen.
       
       Laut Köpper ist es nicht unwahrscheinlich, dass der AfD-Kandidat die Wahl
       gewinne. „Die Menschen hier fühlen sich in Berlin nicht mehr gehört“, sagt
       der 57-Jährige am Telefon. Er fränkelt so sehr, dass man ihn kaum versteht.
       Vor allem das geplante Heizungsgesetz sorge bei den Sonneberger:innen
       für Frustration – was der AfD in die Karten spiele. „Die AfD muss nichts
       weiter tun, als auf den nächsten Blödsinn aus Berlin zu warten“, sagt
       Köpper. Er selbst spricht beim Heizungsgesetz vom „Durchsetzen grüner
       Ideologie mit brutalster Gewalt“ – womit er sich rhetorisch und inhaltlich
       kaum von der AfD unterscheidet.
       
       Die vierte Kandidatin ist die 43 Jahre alte Anja Schönheit, eine zierliche
       Frau mit blonden, schulterlangen Haaren. Sie ist Pflegedirektorin der
       Helios-Klinik im fränkischen Kronach und möchte vor allem Schulden im
       kommunalen Haushalt abbauen. Erfahrungen in der Kommunalpolitik hat sie
       keine.
       
       Schönheit wird auch von der Wählergruppe Pro Landkreis Sonneberg (Pro LK
       Son) unterstützt, die zusammen mit der FDP seit knapp einem Jahr eine
       Fraktion im Sonneberger Kreistag bildet. Zuvor waren CDU und FDP eine
       gemeinsame Fraktion. Diese brach auseinander, weil die CDU bei der
       Sonneberger Bürgermeisterwahl nicht erneut den damals wie heute amtierenden
       Bürgermeister Heiko Voigt (parteilos) nominiert hatte, sondern die
       CDU-Politikerin Uta Bätz. Sieben Mitglieder der CDU/FDP-Fraktion waren
       daraufhin aus der Fraktion ausgetreten und haben Pro LK Son/FDP gegründet.
       
       ## Keine Windkrafträder mit der AfD
       
       Eigentlich wollten Linke, SPD und Grüne eine gemeinsame Kandidatin
       aufstellen. „Wir Grünen und die Linke waren aber nicht bereit, Schönheit zu
       unterstützen, weil sie sich nicht klar von der AfD abgrenzt“, erklärt
       Schwalbach. Spricht man Schönheit auf die AfD an, sagt sie, als Parteilose
       wolle sie mit allen Fraktionen zusammenarbeiten. Ihr gehe es um eine
       konstruktive Sachpolitik, nicht um Parteizugehörigkeit. Auf ihrer Webseite
       schreibt Schönheit, dass sie „großen Wert auf eine unabhängige Arbeit“
       lege.
       
       Während die im Thüringer Landtag vertretenen Parteien eine Zusammenarbeit
       mit der AfD strikt ablehnen, ist es im Kreistag von Sonneberg in dieser
       Legislaturperiode schon mehrmals zu Kooperationen mit der AfD gekommen –
       das zeigt ein Blick in die Kreistagsbeschlüsse.
       
       Die CDU zum Beispiel hat einen Antrag zum Verbot von Gendersprache in
       Behörden mit Ergänzungen der AfD durchgebracht. Der AfD-Antrag
       „Verabschiedung einer Resolution: ‚Keine Windkraftanlagen im Sonneberger
       Land‘“ wurde mit Änderungen der damaligen CDU/FDP-Fraktion beschlossen. Im
       November 2022 hat der Kreistag einen AfD-Antrag zum Thema Energiepreise
       verabschiedet, in dem der Landrat dazu angehalten wurde, die Landes- und
       Bundesregierung aufzufordern, „Energiepreise für Bürgerinnen und Bürger
       sowie Unternehmen auf ein verträgliches Maß zu reduzieren“. Welche
       Abgeordneten mit Ja oder Nein gestimmt haben, wurde nicht dokumentiert.
       
       Die AfD ist mit 9 Sitzen die drittgrößte Fraktion im Kreistag. Die CDU
       sowie die Fraktion Linke/Grüne haben jeweils 10 Sitze, die Fraktion Pro LK
       Son/FPD hat 7, die SPD 3. „Die meisten AfD-Abgeordneten zeigen offen ihre
       Sympathie für Höcke“, sagt Philipp Müller, Linken-Abgeordneter und
       stellvertretender Vorsitzende der Fraktion Linke/Grüne. Zu den Mitgliedern
       der AfD-Fraktion zählt neben Sesselmann auch Holger Winterstein, der im
       Oktober 2022 mit ausgebreiteten Armen auf einem Holocaust-Denkmal posierte
       und sich dabei fotografieren ließ. „Danach hat sich die AfD-Fraktion nicht
       von ihm distanziert.“
       
       Der CDU-Kandidat und stellvertretende Landrat Jürgen Köpper sagt, die
       Zusammenarbeit mit der AfD sei „bei Sachthemen ganz normal, sonst würden
       wir keine Kreistagsbeschlüsse fassen können“. Zum größten Teil säßen ja
       „vernünftige Menschen“ in der AfD-Fraktion, „darunter drei Rechtsanwälte“.
       Köpper nehme die AfD-Abgeordneten genauso ernst wie jeden anderen
       Abgeordneten im Kreistag. „Anders kriege ich auf kommunaler Ebene keine
       Sachpolitik zustande.“
       
       ## Dem Antrag zu Energiepreisen wurde zugestimmt
       
       Auf die Frage, ob man die AfD durch eine Zusammenarbeit nicht normalisieren
       würde, sagt er: „Was soll ich Ihnen jetzt drauf antworten? Die AfD ist eine
       Partei, die nicht verboten ist, sie ist legitim durch die Bevölkerung ins
       Parlament gewählt worden. Wie soll ich eine Zusammenarbeit verhindern, wenn
       es um Sachthemen geht?“ Anderswo, sagt Köpper, würde auf kommunaler Ebene
       auch mit der AfD kooperiert.
       
       Beate Meißner, Fraktionsvorsitzende der CDU im Kreistag, versichert
       hingegen, dass es keine Zusammenarbeit ihrer Fraktion mit der der AfD gebe.
       „Meiner Erinnerung nach hat die CDU-Fraktion im Kreistag keine Anträge
       gemeinsam mit der AfD beschlossen“, sagt sie. Auf die Frage, ob
       CDU-Fraktionsmitglieder denn schon mal für einen Antrag der AfD gestimmt
       hätten, antwortete Meißner nicht.
       
       „Wir arbeiten nicht mit der AfD zusammen“, sagt Philipp Müller von der
       Linken. „Der einzige AfD-Antrag, dem wir als Fraktion je zugestimmt haben,
       ist der zum Thema Energiepreise. An diesem Antrag war nichts auszusetzen,
       er war sachlich und wurde fraktionsübergreifend angenommen.“
       
       Holger Scheler, SPD-Kreistagsabgeordneter, teilt mit, er könne „nicht mit
       Bestimmtheit verneinen“, dass schon mal eines der drei Fraktionsmitglieder
       für einen AfD-Antrag gestimmt habe. „Ich denke, wir haben je nach Sachfrage
       entschieden und überdies auch keinen Fraktionszwang.“ Scheler hält es für
       falsch, die Zusammenarbeit mit der AfD im Kreistag kategorisch
       auszuschließen.
       
       Natürlich müsse man sich von menschenfeindlichen Positionen abgrenzen, das
       verstehe sich von selbst, sagt er. Aber auf Kreisebene gehe es nicht um
       Parteipolitik oder Ideologie, sondern hauptsächlich um Sacharbeit, etwa um
       die Schließung einer Schule oder die Finanzierung des regionalen
       Krankenhauses. „Bei den Kreistagswahlen 2019 haben 24 Prozent der
       Wähler:innen für die AfD gestimmt. Man ist kein Demokrat, wenn man das
       ignoriert.“
       
       Die Fraktion Pro LK Son/FDP hat sich auf Anfrage der taz nicht
       zurückgemeldet. Laut Kreistagsabgeordneten komme es aber häufiger vor, dass
       die AfD für Anträge der Fraktionsgemeinschaft stimme.
       
       ## Landkreis ist ländlich und abgeschieden
       
       Hat Robert Sesselmann eine Chance, die Landratswahl zu gewinnen?
       
       Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die AfD in Sonneberg mit 28 Prozent die
       stärkste Kraft. Nur in 4 von 17 Landkreisen in Thüringen haben noch mehr
       Wähler:innen für die Partei gestimmt. Auch bei der EU-Wahl 2019 hat die
       AfD in Sonneberg gewonnen.
       
       „Die AfD hat in Sonneberg ein großes Wähler:innenpotential“, sagt Axel
       Salheiser vom Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ).
       „Dort gibt es ein dezidiert rechtsextremes Publikum. In den letzten Jahren
       sind deutschlandweit bekannte Neonazis wie Frank Rennicke oder Sebastian
       Schmidtke in die Region gezogen. Der Landkreis ist sehr ländlich und
       abgeschieden, die Neonazis können dort ungestört ihr Ding machen.“ Auch
       Felix Steiner von Mobit, der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in
       Thüringen, sagt: „In und um Sonneberg gibt es eine ganz klar rechtsextreme
       Szene, die sich von Reichsbürgern hin zu Neonazis streckt und sehr aktiv im
       Bereich Rechtsrock ist.“
       
       Salheiser zufolge stehen die Chancen für Sesselmann nicht schlecht. „Die
       AfD ist in Südthüringen relativ mobilisierungsstark.“ Doch am Ende,
       vermutet der Soziologe, werde es zum „Alle-gegen-die-AfD-Effekt“ kommen –
       also dazu, dass im zweiten Wahlgang alle demokratischen Parteien den
       AfD-Konkurrenten unterstützen und so ein AfD-Sieg verhindert werde. „Wir
       haben ja gesehen, was passierte, als die Südthüringer CDU Hans-Georg Maaßen
       bei der Bundestagswahl 2021 als Direktkandidaten für den Wahlkreis 196
       aufgestellt hat, zu dem auch Sonneberg gehört“, sagt Salheiser. „Die
       demokratischen Parteien haben gegen ihn mobilisiert, und er hat das Mandat
       nicht geholt.“
       
       Auch der Linken-Abgeordnete Müller vermutet, dass spätestens in der
       Stichwahl ein:e Kandidat:in der demokratischen Parteien gewinnen werde.
       Es kommt dann zu einer Stichwahl zwischen den zwei stärksten
       Kandidat:innen, wenn im ersten Wahlgang kein:e Kandidat:in mehr als 50
       Prozent der Stimmen holt. Thomas Heine dagegen, stellvertretender
       Kreisvorsitzender der Linken, hält „die Gefahr für real“, dass Sesselmann
       im ersten Wahlgang gewinnen könnte.
       
       Bei der Stichwahl im brandenburgischen Landkreis Oder-Spree im Mai hat die
       AfD nur ganz knapp verloren. Anders als Linke und Grüne hatten CDU und
       Freie Wähler dort nicht explizit zur Wahl des SPD-Kandidaten aufgerufen –
       wofür sie scharf kritisiert wurden. Wie wollen sich die demokratischen
       Parteien in Sonneberg verhalten, falls es zu einer Stichwahl zwischen
       Sesselmann und einer Kandidat:in kommen sollte, die nicht ihre eigene
       ist?
       
       Linke, Grüne und SPD versicherten der taz, dann „selbstverständlich“ die
       AfD-Konkurrent:in zu unterstützen. Die Kreisvorsitzende der CDU Beate
       Meißner hingegen wollte sich nicht klar äußern und antwortete nur: „Diese
       Annahme ist rein spekulativ und stellt sich nicht.“
       
       ## Firmen und Tourismus würden Fern bleiben
       
       Würde Sesselmann gewinnen, wäre das ein „sehr beunruhigendes und
       erschreckendes Signal“, sagt Salheiser vom IDZ Jena. Der Kreisvorsitzende
       der Linken, Michael Stammberger, fürchtet, dass dann weniger
       Tourist:innen nach Sonneberg kommen könnten und sich keine Firmen mehr
       ansiedeln würden: „Das wäre ein großer Nachteil für die weitere Entwicklung
       des Landkreises.“
       
       Als Vorsitzender des Kreistags könnte ein AfD-Landrat zwar eine gewisse
       Richtung vorgeben, am Ende entscheidet er aber nicht alleine, was im
       Landkreis passieren soll, sondern muss umsetzen, was der Kreistag
       beschließt. Das heißt: Je mehr Abgeordnete er auf seiner Seite hat, desto
       größer sein Einfluss. Aktuell sieht es so aus, als würde sich die Zahl der
       AfD-Abgeordneten im Sonneberger Kreistag künftig eher vergrößern als
       verkleinern. Neben der Landtagswahl finden nächstes Jahr auch
       Kommunalwahlen in Thüringen statt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die
       AfD dann Sitze dazugewinnt.
       
       Die Sonneberger:innen, die man auf der Straße treffen kann für eine
       spontane Blitzumfrage, sind, und das immerhin macht Hoffnung, entschlossene
       Demokrat:innen: „Ich wähle Herrn Köpper, er hat seinen Job gut gemacht die
       letzten beiden Jahre“, sagt eine 83-jährige Sonnebergerin, die an einer
       Bushaltestelle in der Sonneberger Innenstadt wartet.
       
       „Die AfD schimpft nur.“ Eine 33 Jahre alte Mutter: „Ich weiß noch nicht,
       wen ich wähle, aber definitiv nicht die AfD.“ „Die AfD wäre das Letzte, was
       ich wählen würde“, versichert eine Rentnerin. Ihre zwei Freundinnen stimmen
       ihr bei. „Die reden einem nur nach dem Mund, bieten aber keine Lösungen
       an.“ Ein Rentner mit kurzer beiger Hose und Sandalen sagt: „Falls Robert
       Sesselmann Landrat werden sollte, gehen wir so lange auf die Straße, bis er
       freiwillig wieder zurücktritt.“
       
       10 Jun 2023
       
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       „Projekt Thüringen“ soll zeigen: Die deutsche Verfassung ist schwächer, als
       viele denken.
       
 (DIR) AfD-Experte Hillje über Umfragehoch: „Wir haben ein Demokratieproblem“
       
       In Umfragen wollen 18 Prozent die rechtsextreme AfD wählen. Politikberater
       Johannes Hillje erklärt, woran das liegt und was dagegen hilft.
       
 (DIR) OB-Stichwahl in Schwerin: Genervt von der AfD
       
       Rico Badenschier (SPD) gewinnt die Stichwahl in Schwerin und bleibt
       Oberbürgermeister. Durch seinen AfD-Kontrahenten sieht er den Ruf der Stadt
       ruiniert.
       
 (DIR) Wer sind die 46,7 Prozent?: Wo man Antidemokraten wählt
       
       Bei der Landratswahl in Sonneberg scheitert der AfD-Mann knapp an der
       absoluten Mehrheit. Was ist da los?
       
 (DIR) Sonneberg in Thüringen: AfD-Kandidat wird fast Landrat
       
       Robert Sesselmann verfehlt die Mehrheit nur knapp. Der zweitplatzierte
       CDU-Mann liegt 11 Prozentpunkte zurück. Das Entsetzen ist groß.
       
 (DIR) Rechtsextremer AfD-Politiker: Anklage gegen Björn Höcke
       
       Die Staatsanwaltschaft Halle hat Anklage gegen den AfD-Politiker erhoben.
       Er soll 2021 im Wahlkampf eine verbotene SA-Losung benutzt haben.
       
 (DIR) Die FDP in der Bundesregierung: Das Symptom Kemmerich
       
       Kubicki, Kemmerich, Schäffler: Manche Liberale bedienen hier und da rechte
       Narrative. Ist das die Zukunft der FDP – oder wo will die Partei hin?
       
 (DIR) Erstarken der AfD: Wo die Brandmauer bröckelt
       
       Fast hätte die AfD im Landkreis Oder-Spree den neuen Landrat gestellt. Das
       knappe Ergebnis ist Ausdruck einer besorgniserregenden Tendenz.