# taz.de -- Die FDP in der Bundesregierung: Das Symptom Kemmerich
       
       > Kubicki, Kemmerich, Schäffler: Manche Liberale bedienen hier und da
       > rechte Narrative. Ist das die Zukunft der FDP – oder wo will die Partei
       > hin?
       
 (IMG) Bild: Thüringer Landtag, Februar 2020: AfD-Fraktionschef Björn Höcke gratuliert Thomas Kemmerich, FDP
       
       Wenn die Temperaturen sich langsam regulieren im politischen
       Heizungskeller, dann kann es sein, dass Wolfgang Kubicki kommt und den
       Regler hochdreht. Seit Wochen streitet die Ampel erbittert über das Gesetz
       mit dem sperrigen Namen Gebäudeenergiegesetz, das nach und nach Gas- und
       Ölheizungen durch klimafreundliche Alternativen ersetzen soll. Prominente
       Gegner: FDP-Vize Wolfgang Kubicki, bekannt für seine lockere Zunge, und
       FDP-Politiker Frank Schäffler, bekannt als Eurokritiker und einst
       [1][bekennender Klimaskeptiker].
       
       Es gibt berechtigte Kritik an dem Gesetzentwurf. Aber es gibt auch Leute,
       die unter dem Vorwand der Kritik das Gesetz grundsätzlich torpedieren
       wollen.
       
       Schäffler nannte das Heizungsgesetz eine „Atombombe“. Er war es auch, der
       auf dem letzten Parteitag einen Dringlichkeitsantrag gegen „die falsche
       Klima- und Energiepolitik der Grünen“ einbrachte, der auf breite Zustimmung
       stieß. Von ihm und Kubicki stammen auch die berüchtigten 101 Fragen zum
       Gesetz, von deren Existenz man über Bild erfuhr. Lange war nicht klar, ob
       es sie wirklich gibt und ob das Ganze von der Fraktion abgesegnet war.
       
       Offiziell kamen 77 Fragen im Wirtschafts- und im Bauministerium an, die
       inzwischen brav abgearbeitet wurden. Aber Kubicki will immer noch alle 101,
       teils absurde Fragen beantwortet haben. Zum Beispiel, in wie vielen
       Mehrfamilienhäusern der Dachstuhl als Wäschetrocknungsraum genutzt wird.
       Nun sprechen Kubicki und Schäffler nicht für die gesamte FDP-Fraktion, aber
       sie haben Rückhalt und bestimmen zunehmend den Ton.
       
       ## Kein Hinterbänkler
       
       Kubicki ist kein populistischer Hinterbänkler, der den Wirtschaftsminister
       aus Versehen mal mit Putin vergleicht und später um Entschuldigung bittet.
       Er ist Parteivize und Bundestagsvizepräsident – und äußerst beliebt bei der
       Basis. Er und Schäffler richten sich an ein gewisses Spektrum:
       Klimaskeptiker, Coronaleugner, Putin-Freunde, den Stammtisch, der gegen den
       linken Zeitgeist wettert. Grünen-Bashing inklusive.
       
       Die Frage ist: Wie sehr wird das den künftigen Kurs, die Rhetorik der FDP
       bestimmen? Und das Regierungshandeln? In Umfragen steht die FDP derzeit bei
       7 Prozent. Die Blockaden und die PR-Nummer mit den Fragen haben ihr nicht
       geschadet. FDP-Chef Christian Lindner arbeite für ein „nichtlinkes
       Deutschland“, sagte er jüngst auf dem FDP-Bundesparteitag. Aber was heißt
       „nichtlinks“? Liberal? Konservativ? Rechts?
       
       ## Keiner schleppt den Koffer?
       
       Am ersten Tag des Parteitags im April 2023 geht FDP-Mann Thomas Kemmerich
       zum Rednerpult. Er spricht über die Stärkung des deutschen Mittelstands und
       fehlende Fachkräfte. „Die alleinige Lösung ist auch nicht, sie nur per
       Zuwanderung aus dem Ausland zu gewinnen“, sagt er. Dann erzählt er eine
       Anekdote eines Bekannten, der am Flughafen Frankfurt 90 Minuten auf seinen
       Koffer warten musste. Dieser habe gesagt: „Wir haben in Deutschland keinen
       mehr, der einen Koffer schleppt, aber alle Beauftragtenstellen für
       Gleichberechtigung und solche Dinge“ seien besetzt.
       
       Man muss sich die Botschaft schon mühsam zusammenreimen. Dürfen im Weltbild
       von Thomas Kemmerich ausländische Arbeitskräfte nur Koffer schleppen? Der
       Applaus ist bescheiden. Gegen Ende der Rede blickt er zum Parteichef
       Christian Lindner, der mit einem Teil des Präsidiums auf der Bühne sitzt.
       Er bedankt sich per Du, dass die Schuldenbremse steht. Als Kemmerich die
       Bühne verlässt, klatscht niemand vom Präsidium.
       
       ## „Unverzeihlich“, dieser „großartige Erfolg“
       
       Es sind diese Feinheiten im Umgang, die zeigen, dass es sich bei Thomas
       Kemmerich nicht um irgendwen handelt, sondern um den Mann, der eine
       Regierungskrise in Thüringen ausgelöst hat. Der Handschlag am 5. Februar
       2020 zwischen ihm und dem rechtsextremen AfD-Politiker Björn Höcke ist ein
       Bild, das in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen ist: Die
       damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte Kemmerichs Wahl mit
       AfD-Stimmen „unverzeihlich“. FDP-Vize Wolfgang Kubicki gratulierte
       zunächst, das sei „ein großartiger Erfolg“, ruderte aber wieder zurück.
       FDP-Chef Christian Lindner wirkte wie ein Getriebener. Schließlich musste
       Kemmerich zurücktreten. Die Parteispitze entzog ihm jede weitere
       Unterstützung.
       
       Heute, drei Krisen später, wirkt die Causa Kemmerich wie eine Anekdote aus
       der Mottenkiste. Aber das ist sie nicht. Kemmerich bezeichnet die AfD zwar
       als „Feind“ und schließt jegliche Zusammenarbeit aus. Aber politische
       Mehrheiten mit Stimmen der AfD zu erreichen, findet er legitim. „Natürlich
       werben wir in den Parlamenten für unsere Anträge und unsere Überzeugungen.
       Wenn die AfD am Ende zustimmt, dann werde ich mich nicht von meiner
       politischen Überzeugung abbringen lassen“, sagt er am Rande des
       Bundesparteitags.
       
       ## Hauptsache, gegen links
       
       Thomas Kemmerich, der immer noch gern Visitenkarten als „Ministerpräsident
       a. D“ verteilt, ist in Thüringen politisch erstaunlich unbeschadet aus
       dieser Geschichte hervorgegangen. Auf den AfD-Trick eines Scheinkandidaten
       sei er nicht vorbereitet gewesen, sagt er bei einem Treffen in Erfurt. „In
       wenigen Sekundenbruchteilen“ habe er eine Entscheidung treffen müssen: die
       Wahl annehmen oder ablehnen. Also alles ein Versehen?
       
       Nur wenige Monate nach dem Eklat, während der Pandemie im Mai 2020 trat
       Kemmerich auf einer Demo gegen Coronaschutzmaßnahmen in Gera auf. Mit
       dabei: Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und AfD-Spitzenpersonal. Für
       Kemmerich eine Veranstaltung von „mehreren Hundert Bürgerlichen“, er
       verweist darauf, dass auch der Thüringer Innenstaatssekretär den Großteil
       der Demonstranten dem bürgerlichen Spektrum zuordnete. „Auf dem Markt war
       nicht zu erkennen, wer da noch mit auftaucht.“ Noch so ein Versehen.
       
       ## Stramm konservativ geführter Laden
       
       Kemmerich genießt Rückhalt in seinem Thüringer Landesverband. Im Oktober
       2022 wurde er erneut mit 87 Prozent zum Landesvorsitzenden gewählt. Bei der
       anstehenden Wahl 2024 will er wieder Spitzenkandidat werden. Er begründete
       das mit seiner Bekanntheit.
       
       Der Thüringer SPD-Fraktionschef Matthias Hey spricht vom „stramm
       konservativ geführten Laden von Kemmerich“. Mit ihren vier Stimmen hätte
       die FDP im Landtag etwa bei Haushaltsberatungen der rot-rot-grünen
       Minderheitsregierung zur Mehrheit verhelfen können, wie das die CDU
       punktuell tut. Das aber verweigere die Thüringer FDP wegen ihrer
       Linken-Aversion hartnäckig. Wer die Thüringer FDP verstehen will, muss nur
       in den Leitantrag des jüngsten Landesparteitags schauen. Da wird eine
       Koalition mit der AfD ausgeschlossen, ebenso mit der Linkspartei. Der
       Hauptfeind steht für den gebürtigen Westdeutschen Kemmerich unübersehbar
       links. Ohne jede Differenzierung gilt ihm die Linke als
       SED-Nachfolgepartei. Man kann den Handschlag mit Höcke auch so
       interpretieren: lieber rechts als links.
       
       ## In tumbem Trotz
       
       Martin Debes, der ein Buch über die Thüringer Regierungskrise geschrieben
       hat, kritisiert eine mangelnde Aufarbeitung der Thüringer FDP. Stattdessen
       stehe „sie in tumbem Trotz zu Kemmerich“. Gerade in Parlamenten, in denen
       die AfD stark sei, müsse bei allem dringend nötigen politischen Wettbewerb
       ein Grundkonsens der Demokraten herrschen, meint Debes. Leider werde diese
       staatspolitische Verantwortung zwar oft zitiert, aber seltener danach
       gehandelt.
       
       Bei der Wahl im Herbst 2024 könnte die AfD in Thüringen stärkste Kraft
       werden. Bei der FDP ist unklar, ob sie den Einzug in den Landtag schafft.
       Doch ein Spitzenkandidat namens Kemmerich würde die Bundes-FDP in
       Erklärungsnot bringen.
       
       Kemmerich ist jedoch kein reines Thüringenproblem. Es geht um die Frage,
       wie man strategisch weitermachen will mit einer AfD im Umfragehoch. Harte
       Abgrenzung oder verbale Annäherung? Das Erstarken der AfD bringt vor allem
       konservative Parteien in die Bredouille. Punkten will man offenbar nicht
       links der Mitte. Aber rechts der Mitte sieht man Platz. Kemmerich ist mehr
       als nur ein Ausrutscher in der Geschichte. Kemmerich ist ein Symptom eines
       Richtungskampfes, der sich auch beim Heizungsgesetz beobachten lässt. Wo
       und wie lassen sich Unterstützer*innen gewinnen? Die FDP mit ihrer kleinen
       Stammwählerschaft will unterschiedliche Wählermilieus binden.
       
       ## Brandmauer gegen die AfD
       
       In der FDP-Bundestagsfraktion gründete sich 2020 nach dem Dammbruch in
       Thüringen eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Umgang mit der AfD
       beschäftigte. Es ging darum, wie man den Rechtspopulisten im
       parlamentarischen Raum begegnen will, und um langfristige Strategien.
       Leiter dieser Arbeitsgruppe war Benjamin Strasser, der heute
       parlamentarischer Staatssekretär im Bundesjustizministerium ist. Strasser
       will auf Nachfrage nicht mit der taz reden. Die Arbeit sei mit einem
       internen Abschlussbericht beendet, die Gruppe gebe es nicht mehr, teilt
       sein Pressesprecher mit.
       
       Unter anderem gehörte Marie-Agnes Strack-Zimmermann dieser Gruppe an. Im
       Gegensatz zu Lindner und Kubicki hatte sie sich von Anfang an deutlich von
       Kemmerich distanziert. „Meine Haltung hat sich nicht verändert“, erklärt
       sie. Sie verweist auf den Beschluss des FDP-Präsidiums, der besagt, dass
       eine Spitzenkandidatur von Kemmerich finanziell und organisatorisch nicht
       unterstützt wird. Doch die Landesverbände seien „frei in ihrer
       Entscheidung, wen sie zu Wahlen aufstellen“, sagt Strack-Zimmermann.
       Kemmerich aber hofft auf Unterstützung der Bundespartei. Er sieht den
       Beschluss des Präsidiums als verjährt an. Mehr noch: Er behauptet, er sei
       „in Gesprächen mit Christian Lindner und dem Bundespräsidium“. Das
       Verhältnis zu Lindner sei „professionell entspannt“.
       
       Die Bundespartei weist diese Erzählung zurück. „Es finden keine Gespräche
       zwischen Thomas Kemmerich und dem Präsidium der FDP statt“, heißt es auf
       Nachfrage. Zudem wird betont, der Beschluss des [2][FDP-Präsidiums vom 9.
       Oktober 2020] gelte. Ebenso der Beschluss des [3][Bundesvorstandes der FDP
       vom 7. Februar 2020] mit dem Titel „Brandmauer gegen die AfD“. Darin heißt
       es, die Partei lehne es auf allen Ebenen ab, „mit der AfD
       zusammenzuarbeiten oder eine Abhängigkeit von der AfD in Kauf zu nehmen“.
       
       ## Immer wieder direkte Zusammenarbeit
       
       Doch trotz der offiziellen Beschlusslage gibt es vor allem auf kommunaler
       Ebene ähnlich wie bei der CDU immer wieder Übernahmen von AfD-Themen und
       auch direkte Zusammenarbeit: Erst am 16. März 2023 stimmten CDU und FDP im
       Stadtrat Stralsund für den AfD-Antrag „Gendern konsequent unterbinden –
       Kommunikation in regelkonformer Sprache“. In der Hamburger Bürgerschaft hat
       die FDP vor 2020 [4][zehnmal für AfD-Anträge gestimmt]. In Thüringen
       wählten CDU und FDP im Saale-Holz-Kreis einen AfD-Kandidaten, der [5][zuvor
       beim rechtsextremen Thügida aufgetreten] war, in einen überregionalen
       Zweckverband. Rechtsextremismusexperten beklagen, dass man durch die
       Übernahmen rassistischer Narrative zur Flüchtlingspolitik oder durch
       AfD-Themen letztlich den Resonanzraum der extremen Rechten vergrößere und
       dem [6][Original mehr Stimmen verschaff]e.
       
       Die FDP grenzt sich offiziell von der AfD ab. Dennoch verdient das
       Verhältnis zum rechtspopulistischen Spektrum zumindest den
       Beziehungsstatus „kompliziert“. Aufschlussreich war eine Umfrage vom
       ARD-Deutschlandtrend unmittelbar nach dem Kemmerich-Eklat. Unter befragten
       FDP-Anhänger*innen sprachen sich 25 Prozent prinzipiell gegen eine
       Zusammenarbeit mit der AfD aus, 62 Prozent wünschten sich, dass man von
       Fall zu Fall entscheide.
       
       ## Nationalliberale Traditionen
       
       Nationalliberale und rechtsliberale Strömungen sind seit jeher Teil der
       FDP-Geschichte. Die [7][Zeiten in den 1950er Jahren, als Altnazis die
       Partei unterwanderten], sind zwar vorbei, aber rechtsliberale Linien ziehen
       sich bis heute durch. Das muss sich im konservativ-bürgerlichen Milieu
       nicht in plumpem Rassismus äußern. Es kann eine gewisse
       Staatsverdrossenheit sein. Modernisierungsängste im Mittelstand, Sorgen um
       Wohlstand. Wunsch nach mehr Abschottung.
       
       Das Jahr 2013, als die FDP erstmals aus dem Bundestag flog, war nicht
       zufällig die Geburtsstunde der damals noch überwiegend eurokritischen AfD.
       Die FDP verlor die meisten Stimmen an die CDU. Aber von keiner anderen
       Partei bekam die AfD so viele Stimmen wie von ehemaligen FDP-Wähler*innen.
       Der langjährige FDP-Unterstützer Hans-Olaf Henkel war Mitgründer der AfD,
       aus Frust über die von den Liberalen mitgetragene Eurorettungspolitik nach
       der Finanzkrise. Damals war noch nicht klar, dass sich die AfD immer weiter
       radikalisieren würde. Aber bis heute gibt es inhaltliche Berührungspunkte
       mit der AfD, nicht nur, was marktradikale Positionen betrifft, sondern auch
       im Hinblick auf Migrationspolitik. 2017 ergab eine Wahl-O-Mat-[8][Analyse],
       dass es zwischen FDP und AfD inhaltlich große Übereinstimmungen gibt.
       
       ## Lindner will die AfD stellen
       
       Am Abend der Niedersachsenwahl am 9. Oktober 2022 muss Christian Lindner
       die erneute Wahlschlappe seiner Partei erklären. Die FDP hat den Einzug ins
       Landesparlament verpasst. Im Wahlkampf haben die Freien Demokraten vor
       allem auf Atomkraft gesetzt. Das hat sich nicht ausgezahlt. Die FDP verlor
       die meisten Stimmen an die AfD.
       
       Man betrachte die AfD mit Sorge, sagt Lindner. Man müsse sie zum einen
       „dort stellen, wo sie Narrative von Putin bedient und die innere
       Liberalität unserer Gesellschaft infrage stellt“. Auf der anderen Seite
       müsse man sich „an die Wählerinnen und Wähler der AfD wenden, insbesondere
       an jene, die mit ihren wirtschaftlichen Sorgen und Abstiegsängsten das
       Gefühl haben, von den etablierten Parteien nicht gesehen zu werden“. Wie,
       das verrät er nicht.
       
       „Die FDP blutet nach rechts aus“, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner der
       wochentaz am Telefon. Die Partei sei „im positiven Sinne eine
       Klientelpartei für den deutschen Mittelstand, Handwerker und Freiberufler,
       die sich Schutz vor zu viel staatlicher Bürokratie wünschen“. Diese sähen
       sich in der Energiekrise durch die FDP in der Ampel aber nicht vertreten.
       Güllner befürchtet daher, „dass die AfD vermehrt Zulauf bekommt von
       Menschen, die kein geschlossen rechtsradikales Weltbild haben“. Dadurch
       könne der Graben zur AfD immer weiter aufgeweicht werden. Der FDP empfiehlt
       er, sich klar von der AfD abzugrenzen.
       
       ## Kein Schäbigkeitswettbewerb
       
       In seinem 2017 publizierten Buch „Schattenjahre“ schreibt Christian
       Lindner, der die FDP seit 2013 führt, dass er keine Zukunft als
       Protestpartei sehe, „die in einen Schäbigkeitswettbewerb mit der AfD“
       einträte. Lindner lehnte einen nationalliberalen Kurs immer entschieden ab.
       
       Aber spielt Lindner bewusst mit Ressentiments? Als Finanzminister tritt er
       rhetorisch gediegener, staatsmännischer auf. Doch das gelegentliche Blinken
       nach rechts ist nicht zu leugnen. 2018 sprach Lindner auf dem Parteitag von
       der Angst in der Bäckerschlange, wo man nicht unterscheiden könne, „wenn
       einer mit gebrochenem Deutsch ein Brötchen bestellt, ob das der
       hochqualifizierte Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien ist oder
       eigentlich ein sich bei uns illegal aufhaltender, höchstens geduldeter
       Ausländer“. Wer darin Rassismus erkenne, sei „etwas hysterisch unterwegs“,
       befand Lindner nach anhaltender Kritik.
       
       ## Die richtig groben Töne
       
       Für die richtig groben Töne aber war ohnehin immer Wolfgang Kubicki
       zuständig. Als im August 2018 Rechtsextreme gewaltsam durch Chemnitz zogen,
       nachdem es hieß, ein Mann sei von zwei Geflüchteten getötet worden, sagte
       Kubicki: „Die Wurzeln für die Ausschreitungen liegen im ‚Wir schaffen das‘
       von Kanzlerin Angela Merkel.“ Einige FDP-Politiker*innen distanzierten sich
       von dieser Aussage. Dennoch werden die wiederkehrenden Stammtischparolen
       von Kubicki geduldet. Oder sind sie Teil einer Strategie?
       
       Ein ähnlicher Mitte-rechts-Kurs lässt sich auch in den aktuellen Debatten
       zur Migrationspolitik beobachten. Zwar will die FDP Arbeitsmarktmigration
       und befürwortet ein Punktesystem, wie es andere Länder wie Kanada schon
       haben. Dass man eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ verhindern müsse,
       erzählen derzeit Fraktionschef Christian Dürr und Generalsekretär Bijan
       Djir-Sarai trotzdem in jede Kamera. Es ist ein rechtes Narrativ.
       
       Lieber Sachleistungen statt Geld für Asylbewerber will die FDP, von
       „verfehlter Merkel-Politik“ ist die Rede. Die „Grenzschutzfähigkeit an den
       EU-Außengrenzen“ müsse erhöht werden, notfalls „mit Zäunen“. Diese
       Formulierungen benutzte der FDP-Generalsekretär Djir-Sarai, aber auch
       Parteichef Lindner.
       
       ## Blinken nach rechts
       
       Gerhart Baum, einst Bundesinnenminister in einer sozialliberalen Koalition
       unter Helmut Schmidt, findet das bedenklich: „Wenn der Generalsekretär
       Zäune an den Außengrenzen errichten will oder von verfehlter Merkel-Politik
       spricht, dann ist das ganz klar ein Blinken nach rechts“, sagt er der
       wochentaz am Telefon. Merkel habe 2015 richtig gehandelt, und die Angriffe
       der CSU auf sie seien schändlich gewesen. Manche in der FDP wollten „durch
       eine gewisse sprachliche Annäherung Menschen im rechten Parteienspektrum
       gewinnen. Auf die können wir verzichten.“
       
       Eine generelle Strategie, die FDP nach rechts zu führen, sieht er aber
       nicht. Die Kräfte in der Partei gegen diesen Kurs wüchsen. Die FDP müsse
       aber endlich im Bereich überzeugter liberaler Wähler stärker werden und
       dort ihre Stammwählerschaft bilden, in Abgrenzung zu den Grünen, aber
       sensibel für die neuen Herausforderungen. Es sei vor allem „der alte
       Mittelstand“, der sich nach rechts orientiere und sich enttäuscht abwende,
       „weil die FDP in der Ampel nicht 100 Prozent liberale Politik machen kann“.
       Sie reagierten „mit Trotz“. Der „neue Mittelstand“ müsse von den Liberalen
       gewonnen werden. Was er im Sinn hat: junge weltoffene Unternehmen, die die
       Klimakrise ernst nehmen.
       
       Im aktuellen Geschäft hat Baum wenig zu sagen. Er ist die mahnende Stimme
       von der Seitenlinie. In Lindners FDP haben Progressive und „Kubickis“
       bewusst einen festen Platz. Ob Lindners integrativer Ansatz ihm nicht doch
       irgendwann auf die Füße fällt, wird sich vielleicht schon im weiteren
       Verlauf des Heizungsstreits zeigen.
       
       4 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastbeitrag-zum-klimawandel-mein-licht-brennt-bis-es-wieder-hell-wird/9778084.html
 (DIR) [2] https://www.fdp.de/pressemitteilung/wissing-das-praesidium-der-fdp-distanziert-sich-geschlossen-von-thomas-kemmerich
 (DIR) [3] https://www.fdp.de/beschluss/beschluss-des-bundesvorstands-brandmauer-gegen-die-afd
 (DIR) [4] https://de.statista.com/infografik/20759/abstimmungsverhalten-der-fdp-fraktion-in-der-hamburger-buergerschaft-bei-afd-antraegen/
 (DIR) [5] https://www.sueddeutsche.de/politik/kommunen-mohring-keine-kooperationen-der-cdu-mit-der-afd-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-190911-99-834568
 (DIR) [6] /Erstarken-der-AfD/!5931844
 (DIR) [7] https://www.spiegel.de/geschichte/naumann-kreis-die-unterwanderung-der-fdp-durch-altnazis-a-951012.html
 (DIR) [8] https://interaktiv.morgenpost.de/parteien-bundestagswahl-2017/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jasmin Kalarickal
 (DIR) Michael Bartsch
 (DIR) Gareth Joswig
       
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