# taz.de -- Philosophin Elif Özmen über Liberalismus: „Freiheit ist kein Gut für wenige“
       
       > Den Liberalismus retten, auch vor falschen Freund*innen: Die Philosophin
       > Elif Özmen liest in Hamburg aus ihrem Buch "Was ist Liberalismus?"
       
 (IMG) Bild: Demonstration gegen das hessische Versammlungsfreiheitsgesetz im März 2023 in Frankfurt
       
       taz: Frau Özmen, warum ist jetzt ein guter Zeitpunkt, darüber nachzudenken,
       was [1][der Liberalismus] ist? 
       
       Elif Özmen: Ich sehe dafür zwei Gründe. Zum einen bietet Liberalismus ein
       dankbares Feindbild für sehr unterschiedliche Akteure von ganz links bis
       rechts im politischen Spektrum. Es gibt nur wenige gesellschaftliche
       Probleme oder Pathologien der Demokratie, für die am Ende nicht der
       Liberalismus verantwortlich gemacht würde. Der zweite Grund ist, dass nicht
       nur die Kritiker und Verächter ein Zerrbild vom Liberalismus haben.
       
       Wer denn noch? 
       
       Einige derjenigen, die den Liberalismus im öffentlichen Diskurs verteidigen
       wollen, dabei aber nur einen Vulgärliberalismus meinen. Man konnte das
       [2][in Zeiten der Coronapandemie] beobachten, wo manche einen angeblich
       liberalen Freiheitsbegriff propagierten, der die Freiheit des Individuums
       schrankenlos über alle politischen und gesellschaftlichen Überlegungen
       stellte, aber eben auch über die Freiheit anderer Individuen. Viele
       aktuelle, teils sehr spannungsreich oder agonistisch debattierte Themen
       kreisen um eine bedrohte Freiheit. Auch bei den Verteidiger*innen gibt
       es also offensichtlich Missverständnisse.
       
       Gibt es den einen Liberalismus oder sind es -ismen? 
       
       Ich denke, es sind -ismen. Es gibt ja ganz verschiedene Theorieströmungen,
       Wirtschafts- oder Rechtsstaatsliberalismus, klassischen, modernen oder
       Neoliberalismus. Die spannende Frage für mich als Philosophin: Können wir
       trotz dieser sehr unterschiedlichen und einander im Detail vielleicht sogar
       widersprechenden Theorieströmungen seit dem 17. Jahrhundert so etwas wie
       einen normativen Kern herausarbeiten?
       
       Und – haben Sie so einen Kern gefunden? 
       
       Ich habe versucht, diesen Kern offenzulegen mit Bezug auf die drei
       normativen Prinzipien Individualismus, Freiheit und Gleichheit. Die
       einzelnen Teile dieses Trio liberale, wie ich es nenne, tauchen natürlich
       auch in anderen politischen Theorien auf, gerade die Freiheit. Typisch für
       den Liberalismus scheint mir die Vorrangstellung des Einzelnen als
       unverwechselbare, unersetzbare Persönlichkeit zu sein, der Vorrang der
       individuellen Freiheit, die aber stets gleiche individuelle Rechte für alle
       Menschen meint.
       
       Während andere Systeme und Ideen anders priorisieren, etwa den Wert der
       Gleichheit höher ansetzen. 
       
       Ja, genau. Ein gutes Beispiel für eine dem Gedanken des Liberalismus
       widersprechende Priorisierung der Freiheit ist der Neoliberalismus. Weil
       die Freiheit hier reduziert wird auf die Freiheit als Marktteilnehmer.
       Extreme Ungleichheiten gelten einfach als hinzunehmender Effekt einer
       individuellen Freiheitsausübung in einem angeblich neutralen Wettbewerb.
       Diese Position würde die Mehrheit der liberalen Philosoph*innen nicht
       teilen, sondern sagen: Die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit muss
       politisch so austariert werden, dass ein Mindestmaß an gleicher Freiheit
       für alle gewährleistet ist, gerade auch, wenn es um soziale und ökonomische
       Güter geht. [3][Liberale Freiheit] ist kein Gut für einige wenige, die sie
       sich angeblich verdient haben, sondern wertvoll für alle, ohne Rücksicht
       auf Verdienst, Leistung, Stand oder Herkommen.
       
       Historisch gesehen mit blinden Flecken, ein bisschen wie die Aufklärung
       insgesamt. 
       
       Das ist ein wichtiger Punkt. Die Geschichte des Liberalismus, die ich
       selbst als Erfolgsgeschichte erzählen möchte, hat eine Schattenseite. Die
       gleiche Freiheit für alle, das meinte bis ins 19. Jahrhundert nur die
       Freiheit unabhängiger, wohlhabender, weißer, erwachsener Männer.
       
       Und heute? 
       
       Heute müssen wir diese Schattenseiten ins Licht holen. Daher ist eine
       Kritik des Liberalismus unumgänglich. Gerade auch, wenn man ihn verteidigen
       möchte und sich fragt, ob und wie die normative Sprache der Gleichheit,
       Freiheit und des Individualismus zu unserer globalen Gegenwart mit den
       drastischen Herausforderungen und Ungerechtigkeiten passt.
       
       20 Jun 2023
       
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