# taz.de -- Buch „Readme.text“ von Chelsea Manning: Eine Art Heldin
       
       > Ihre Leaks veränderten die Welt: In ihrem Buch verknüpft die
       > US-Whistleblowerin Chelsea Manning elegant ihre politischen mit
       > persönlichen Motiven.
       
 (IMG) Bild: Kämpfte stets auch für die Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität: Chelsea Manning
       
       Eine gute Viertelstunde lang ist das Video, das unter dem Namen „Collateral
       Murder“ bekannt werden sollte. Es zeigt in redaktioneller Bearbeitung,
       akustisch von der authentischen Funkkonversation begleitet, einen Einsatz
       des US‑Militärs im Irak aus der Perspektive eines Kampfhubschraubers.
       
       Er feuert, scheinbar ohne unmittelbaren Anlass, erst auf eine Gruppe von
       zehn Personen, die ohne Eile einen Platz überqueren, und anschließend auf
       einen Transporter, der den Schwerverletzten und Getöteten zu Hilfe kommt.
       „Nice shootin'“ – Gut geschossen, kommentiert lakonisch eine Stimme im
       Funkverkehr.
       
       Ein ganz gewöhnlicher Vorgang im sogenannten Krieg gegen den Terror. Das
       Besondere an den Aufnahmen von 2007 ist, dass sie den kaltblütigen Mord an
       unter anderem zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters einer
       weltweiten Öffentlichkeit bekannt machten. Reuters hatte lange vergeblich
       versucht, das Video einzusehen, um die Todesumstände der beiden Mitarbeiter
       klären zu können. Die Whistleblower-Plattform [1][Wikileaks] war es
       schließlich, die Zugang zu dem Material bekam und es im April 2010
       veröffentlichte.
       
       Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand, auch nicht [2][bei Wikileaks], wer das
       Video und Zehntausende weitere Dokumente von den Schlachtfeldern in
       Afghanistan und Irak zur Verfügung gestellt hatte. Erst später wurde klar,
       dass die einen Monat später festgenommene [3][Chelsea Manning] alleine für
       das umfangreichste Sicherheits-Leak in der Geschichte der USA
       verantwortlich war. Über ihre Motive wurde seitdem viel spekuliert.
       
       Anders als Edward Snowden, der sich in einer dramaturgisch geschickt
       aufgebauten Veröffentlichungsabfolge zum Zeitpunkt der Publikation seiner
       Belege zur Massenüberwachung durch US-Geheimdienste selber erklären konnte,
       blieb das Manning wegen der jahrelangen Haft lange Zeit verwehrt. In den
       ersten sieben Jahren ihrer Prominenz wurde demnach vor allem über sie
       geredet, weniger mit ihr.
       
       ## Kampf um Anerkennung der Geschlechtsidentität
       
       Diese Lücke füllen kann in Teilen die gerade erschienene Autobiografie der
       nicht einmal 35-Jährigen mit dem Titel „Readme.txt“. Dabei handelt es sich
       um den Namen der erläuternden Datei zu den an Wikileaks übertragenen
       Unterlagen. Einerseits.
       
       Andererseits lässt sich dieses Readme, also wörtlich „Lies mich!“, auch als
       Aufforderung verstehen, Chelsea Manning nicht als Projektionsfläche zu
       verwenden, sondern als selbstbestimmte, eigenständige Person wahrzunehmen.
       
       Bedeutung hat das weit über die entschiedene Zurückweisung der äußeren
       Zuschreibung als Verräterin oder Heldin hinaus. Schließlich musste Manning
       über Jahre, viele davon in Uniform und im Gefängnis, für die Anerkennung
       ihrer Geschlechtsidentität kämpfen. Tatsächlich beschreibt sie diesen
       Kampf als den entscheidenden ihres Lebens.
       
       Das Leben vor der Army, das Manning beschreibt, ist geprägt von
       Unsicherheit, Armut, Zurückweisung und Enttäuschung. Nichts Menschliches
       ist ihr fremd. Sie weiß um die Ambivalenz ihrer Verpflichtung beim Militär,
       die eben nicht von naivem Hurrapatriotismus getrieben war. Zuerst aber kam
       das Fressen. Die Entscheidung, materielle Sicherheit ausgerechnet in
       Uniform zu suchen, sollte sich, wie bekannt, aufs Schlimmste rächen.
       
       Schon allein das Verbot, jegliche Form sexueller Abweichung offen zu leben,
       musste Manning auf Dauer zu sehr belasten. In ihrem Buch beschreibt sie
       ausführlich und sehr plastisch die Angst und Erpressbarkeit, die zu Zeiten
       der verdrucksten Politik des „Don’t ask, don’t tell“ beim US-Militär
       vorherrschten.
       
       ## Viele Details sind als geheim eingestuft
       
       Das als Analystin vor Ort erworbene Wissen um die Sinnlosigkeit, Brutalität
       und Ungesetzlichkeit des Antiterrorkrieges und die Möglichkeit, all das
       öffentlich zu machen, ist wie eine Form der Erlösung aus der Unterdrückung.
       Den Verrat, der sie berühmt machte und für sieben Jahre hinter Gitter
       brachte, bewerkstelligt sie, von nebensächlichen Details abgesehen, viel
       unkomplizierter und viel entschlossener als ihr permantes Ringen auf dem
       Weg zu sich selbst.
       
       Insofern bietet Readme.txt wenig neue Einblicke in die
       Veröffentlichungsgeschichte der Manning-Leaks oder gar weitere gänzliche
       unbekannte Details über den Krieg gegen den Terror.
       
       Das ist aber ganz offensichtlich nicht allein die Entscheidung der Autorin
       selbst. Viele Details im Zusammenhang mit ihrem Militärdienst sind
       weiterhin als geheim eingestuft. Im Buch finden sich sogar noch geschwärzte
       Stellen.
       
       Was den Leser*innen überlassen bleibt, ist die Bewertung der
       gesellschaftlichen Folgen der Veröffentlichung geheimer Unterlagen. Als
       Daniel Ellsberg 1971 Dokumente über die skandalöse Entscheidungsfindung der
       politischen und militärischen Führung im Vietnamkrieg an die Presse
       weitergab, sollte der Krieg noch weitere vier Jahre andauern.
       
       Nach Veröffentlichung des Videos „Collateral Murder“ wurde der
       US-Drohnenkrieg intensiviert. Der Afghanistaneinsatz endete erst mehr als
       zehn Jahre später im völligen Desaster.
       
       War es das wert für Chelsea Manning? Die Haft, die Folter, die Qualen? Mit
       den Informationen, die Manning, Snowden und viele vor und nach ihnen
       weitergegeben haben, ist die Welt schließlich eine andere geworden. Sie
       weiß mehr von sich. Bis in den letzten dunklen Winkel lassen sich die
       Niedertracht und Brutalität der Macht in deren eigenen Worten und Taten
       beschreiben. Gebrochen ist sie damit nicht. Das aber dürfte eine zumindest
       leise Erwartung politisch motivierter Whistleblower*innen sein.
       
       ## Glauben an die Kraft einer informierten Öffentlichkeit
       
       Die werden in einer Zeit der strategischen Zerstörung des evidenzbasierten
       Diskurses zu den so ziemlich Letzten, die an die positive Kraft einer
       informierten und kritischen Öffentlichkeit in den westlichen Demokratien
       glauben – und an deren Anwalt, den Journalismus.
       
       In einer postfaktischen Welt, in der bunte Verschwörungstheorien auf mehr
       Interesse stoßen können als die Fakten einer grauen Realität, und in einer
       Welt, in der Korruption und Verbrechen sich ganz offensichtlich lohnen,
       wirkt das vielleicht naiv. Dabei ist es vor allem konsequent. Chelsea
       Manning ist es auf dramatische Weise und gegen übermächtige Widerstände
       gelungen, sowohl daran mitzuwirken, die äußere Realität präziser zu
       beschreiben, als auch sich selbst zu finden.
       
       Die Frage, was wir mit all diesen Informationen anfangen, die wir nun dank
       Manning haben, können und müssen derweil nur wir beantworten.
       
       Manning bezeichnet ihr Buch als Coming-of-Age-Geschichte. Und tatsächlich
       ist Readme.txt viel mehr Entwicklungsroman als Spionagethriller. Die
       Veröffentlichung dieser Erzählung von sich selbst ist dabei genauso
       politisch, wie es die Verbreitung des Collateral-Murder-Videos vor mehr als
       zehn Jahren war.
       
       Anders als die dort gezeigte zynische Gewalt ohne Sinn und ohne Zukunft,
       ist die Geschichte, wie die Person Chelsea Manning sie selbst wurde, eine
       Geschichte voller Menschlichkeit und Zuversicht und das sogar mit einem
       Happy End.
       
       21 Nov 2022
       
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       ## AUTOREN
       
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