# taz.de -- Buchmesse-Gastland Georgien: Die Zukunft liegt im Westen
       
       > Der Historiker Timothy Snyder beschreibt den russischen Einfluss auf
       > postsowjetische Länder. Georgiens Aufbruch lässt sich in der Literatur
       > ablesen.
       
 (IMG) Bild: Ein Plakat auf einer Kundgebung gegen den russischen Südossetien-Einmarsch 2008
       
       „Die Quintessenz der russischen Außenpolitik“, so Timothy Snyder, „ist ein
       strategischer Relativismus: Russland kann nicht stärker werden, also muss
       es andere schwächen.“ Detailliert beschreibt der nordamerikanische
       Historiker und Osteuropa-Experte in „Der Weg in die Unfreiheit“, wie die
       russische Führung in den letzten Jahren dabei vorging. Und was im Westen so
       viele schlafwandlerisch bis heute ignorieren. Die vollzogene
       Gleichschaltung im Inneren Russlands (2011/2012) begleiteten im Äußeren
       Desinformationskriege gegen den „westlichen Liberalismus“, gegen USA und
       Europäische Union.
       
       Wladimir Putins Propagandaspezialisten greifen dabei je nach Adressat
       gezielt auf antiwestliche Stereotype der alten Linken oder der
       faschistischen Rechten zurück, um jeweils besser anzudocken. Putin bezieht
       sich, so Snyder, in seiner rotbraunen Mixtour, für sein neues Russland auf
       faschistische Denker wie Iwan Iljin, die er mit Stalinismus und
       christlich-völkischen Traditionen der russischen Orthodoxie verschränkt.
       
       Den „naiven Umgang“ (Snyder) der westlichen Öffentlichkeit mit den neuen
       sozialen Medien nutzten (und nutzen) Putins Medien-Trolle und
       Manipulationsspezialisten gnadenlos aus. Systematisch streuen sie über die
       sozialen Netzwerke ihre Fake News. Ob russische Söldner ein
       Passagierflugzeug abschießen oder Territorien unabhängiger Staaten (wie in
       Georgien oder der Ukraine) besetzen, ob Propagandaspezialisten die Stimmung
       bei Wahlen wie in den USA zugunsten Donald Trumps beeinflussen oder den
       staatsterroristischen Luftkrieg gegen die Bevölkerung Syriens rechtfertigen
       – in wichtigen strategischen Momenten werden Unwahrheiten gestreut, um die
       offenen Systeme des Westens und deren Gesellschaften so zu attackieren, zu
       verunsichern und zu schwächen.
       
       Und immer wieder finden sich die Querdenker an den Rändern der orthodoxen
       Linken wie der extremen Rechten (von Oskar Lafontaine/Sahra Wagenknecht
       über Peter Gauweiler bis Alexander Gauland) um aus den Echoräumen alter
       (national)sozialistisch geprägter Klassenkampf-Ideologien eifrig zu
       sekundieren. Der rechte Teil der Mitte in Deutschland träumt dabei
       mittlerweile offen [1][von einer Koalition aus CDU und AfD,] die extreme
       Rechte wie die orthodoxe Linke von einer Zerschlagung der Europäischen
       Union zugunsten einer Annäherung (völkischer Nationalstaaten) an Putins
       Russland.
       
       ## Eine erfolgreiche Waffe
       
       Für Russlands Rechte ist die Demokratie „ein Stand der Sünde“, die
       russische Nation heilig, Putin ihr unumstrittener „Führer“ und „Erlöser“.
       Der Westen sei schwach, schwul und verkommen – Homosexualität eine perfide
       bevölkerungspolitische Waffe der westlichen Globalisierung, um den
       russischen Volkskörper zu schrumpfen. Für Snyder stellt Putins
       männlich-nationalistischer Überlegenheitskult eine simple, aber leider auch
       sehr erfolgreiche Waffe dar. Die Staatspropaganda übertüncht somit, wie
       ungleich Russland heute ist, wie sehr sich die regierenden korrupten
       inländischen Oligarchen-Clans an der Allgemeinheit bereichern.
       
       Snyder erinnert daran, wie ein demokratiefähiger Institutionenaufbau in
       Russland in den 2000er Jahren scheiterte und Putin die rechtsstaatliche
       Entwicklung verwarf. Außenpolitisch machte sich die Abkehr mit zunehmenden
       Cyberattacken auf die baltischen Staaten, die EU und die USA bemerkbar. Mit
       dem Georgienkrieg 2008 und der Besetzung der georgischen Provinzen
       Abchasien und Südossetien verwarf Russland eine europäische
       Entwicklungsperspektive.
       
       Seither heißt das Projekt nicht mehr Transformation zu einer Demokratie und
       allmähliche Integration nach Europa sondern „Eurasien“. Es beinhaltet die
       Rückbesinnung auf den zaristischen und zwischenzeitlich sowjetisch
       firmierenden russischen Imperialismus, dessen Großraum- und
       Kolonialpolitik.
       
       Die Georgier bekamen dies zu spüren, sechs Jahre bevor Putins Armee dann
       die Ukraine überfiel und die Krim besetzte. Durch konstruierte
       Minderheitenkonflikte will Putin eine weitere demokratische Entwicklung und
       West-Integration in seinen Nachbarschaften verhindern. Wo die Grenzen
       wandern und jederzeit heiß zu machende Territorialkonflikte bestehen, ist
       eine Mitgliedschaft in EU und Nato nur schwer vorstellbar.
       
       ## „Politik der Unausweichlichkeit“
       
       Georgiens Intellektuelle sind nicht antirussisch, so sie sich nach Westen
       orientieren. Sie wollen eine offene und gerechtere Gesellschaft, in denen
       die Menschenrechte staatlich garantiert sind. Zu Sowjetzeiten waren sie das
       nicht. In Frankfurt auf der Buchmesse werden Persönlichkeiten aus Georgien
       wie Lewan Berdsenischwili von ihren Erfahrungen mit Büchern wie „Heiliges
       Dunkel. Die letzten Tage des Gulag“ berichten. Es lohnt sich, ihnen
       zuzuhören. Genauso Schriftstellern wie Aka Mortschiladse, der mit seinem
       Roman „Die Reise nach Karabach“ in den 1990ern einen Klassiker für das
       Chaos der frühen Nach-Sowjet-Zeit in Georgien schuf.
       
       [2][Georgien hat sich eine eigenständige Architektur, Kultur und Literatur]
       über die Sowjetzeit hinaus bewahrt. Die periphere Lage am Südkaukasus war
       für die etwa 4 Millionen Einwohner wohl eher günstig. Heute strömen die
       Touristen wieder in Massen in das Land. Sie genießen den georgischen Wein,
       das gute Essen, die Gastfreundschaft, das milde Klima an der Küste und die
       malerischen Gebirgszüge mit den zahlreichen mittelalterlichen Stätten.
       
       Wie sehr diese postsowjetische Gesellschaft heute in Aufbruch begriffen
       ist, um sexuelle und materielle Freiheiten ringt, lässt sich gerade an
       ihrer Gegenwartsliteratur ablesen. An den Büchern der seit Jahren in
       Deutschland lebenden Nino Haratischwili etwa oder an den Romanen
       [3][jüngeren georgischer Autor*innen wie Nana Ekvtimischvili] oder Davit
       Gabunia.
       
       Historiker Snyder definiert den früheren Stalinismus als eine „Politik der
       Unausweichlichkeit“. Sie hatte sich den Mantel eines unhinterfragbaren
       Fortschrittsglaubens umgehängt. Die neuen Oligarchen und Putin
       transformieren diese Idee, so Snyder, in eine „Politik der Ewigkeit“, eine
       quasi spirituell, völkisch und natürlich begründete Überlegenheitstheorie
       der Russen samt ihres großen Führers.
       
       In deren Augen ist der „Westen“ kein geografischer Begriff, sondern eine
       abzulehnende, liberale und dekadente Wertegemeinschaft. Nach Snyder steht
       Wladimir Putin jemanden wie Donald Trump von daher sehr viel näher, als es
       die gegenwärtigen Regierungen in Tiflis oder Moskau tun. Nur sind weder
       Putins noch Trumps Vorstellungen von Politik sehr reform- oder
       nachfolgefähig. In diesem Sinne: Georgiens Zukunft liegt im Westen.
       
       9 Oct 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
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