# taz.de -- CDU in Sachsen-Anhalt im Sinkflug: Die Hochburg bröckelt
       
       > Die Altmark, seit Bismarcks Zeiten konservativ, ist CDU-Stammland.
       > Eigentlich. Denn ein Wahlbetrug hat der Partei viel Glaubwürdigkeit
       > gekostet.
       
 (IMG) Bild: Wirklich gute Wahlwerbung? CDU-Kandidat Tobias Krull
       
       ALTMARK taz | Am Vorabend kommt die Absage. Er müsse in Quarantäne,
       bedauert Nico Schulz, der im Norden von Sachsen-Anhalt der CDU ein
       Direktmandat abknöpfen will. Dann schlägt er einen Verbündeten für das
       Gespräch vor, sagt, „der hat dasselbe erlebt wie ich“ und empfiehlt, in der
       Altmark unbedingt Spargel zu essen. Aber wo? Die Gaststätten sind auch am
       nächsten Tag geschlossen.
       
       Nur ein Café in Stendal trotzt der Pandemie-Verordnung. In Osterburg hat
       die Stadtkirche geöffnet und in Seehausen steht Rüdiger Kloth am Bahnsteig.
       Der Verbandsgemeindebürgermeister ist Schulz' Verbündeter. Kaum 10.000
       Einwohner verteilen sich auf Dörfer und Vorwerke, in der Mitte liegt
       Seehausen. Rüdiger Kloth, ein drahtiger Typ, bittet ins Rathaus. Man sieht
       ihm nicht an, dass er mal Autos repariert hat. Dass er ein Rebell ist, auch
       nicht.
       
       Kloth trägt am Revers das Gemeindewappen. Die eine Seite ist grün und
       symbolisiert das Elbtal, die andere zeigt einen roten Adler, Hinweis, dass
       die Altmark über Jahrhunderte zu Brandenburg gehörte. Kloths Blick ist
       fest. Sieht so ein „CDU-Rebell“ aus? So hat ihn die Volksstimme genannt.
       Das war Ende 2018. Acht Monate später hat Kloth die Partei verlassen.
       
       Der Anlass: Kloth wollte zu den Kommunalwahlen antreten, sich aber nicht
       noch einmal von der CDU aufstellen lassen. „Das konnte ich mit meinem
       Gewissen nicht vereinbaren“, sagt Kloth und es klingt immer noch
       entschieden. Mit anderen CDU-Kommunalpolitikern gründet er eine eigene
       Liste. Ein Affront. Für den [1][damaligen CDU-Landeschef Holger
       Stahlknecht] waren die Abtrünnigen Spießgesellen, die er nach dem
       vermuteten Anführer als „Nico Schulz und Konsorten“ schmähte.
       
       Der Grund für diesen Bruch liegt weiter zurück. Zur Kommunalwahl 2014 fiel
       einem Journalisten der Volksstimme auf, dass bei der Auszählung zum
       Stendaler Stadtrat ein CDU-Kandidat [2][erstaunlich viele Kreuze von
       Briefwählern erhalten hat], wo er doch in den Wahllokalen kaum überzeugen
       konnte. Was wundersam begann, entpuppte sich als der größte Wahlbetrug seit
       dem Ende der DDR. Der CDU-Mann hatte sich illegal Hunderte
       Briefwahlunterlagen besorgt und für sich votiert.
       
       Die Ermittlungen brachten ans Licht, dass die Manipulationen auch in der
       CDU-Geschäftsstelle erfolgt sein müssen. CDU-Granden im Kreis beharren, es
       sei die „Tat eines Einzelnen“. Das Gericht hegte arge Zweifel, konnte aber
       keine Beweise vorlegen, auch weil der CDU-Kreischef als Zeuge schwieg. Im
       März 2017 wurde der Fälscher zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.
       
       ## Eher konservativ, seltener extrem
       
       „Es gab lange Zeit die Unschuldsvermutung“, versucht Kloth sein Stillhalten
       zu deuten. Er blickt aus dem Fenster. Die Altmark ist eine Idylle aus
       Dörfern und Wiesen. Rinderzucht hat Tradition, der Menschenschlag ist
       konservativ. Ihr berühmtester Vertreter war Otto von Bismarck. Als „Wiege
       Preußens“ lobte er die Altmark. Und so wählt man seit Kaisers Zeiten eher
       konservativ, seltener extrem. Anders als im Süden das Landes holte die AfD
       kein einziges Direktmandat. Sie fielen alle an die CDU. Die Vorstellung,
       dass es in dieser Partei Kräfte geben könnte, die zur Wahlfälschung fähig
       sind, erschien abenteuerlich.
       
       Eigentlich ist Rüdiger Kloth ein Christdemokrat, wie man ihn sich im
       Berliner Adenauer-Haus wünscht – bodenständig, solider Beruf, hat Familie,
       Kinder, dazu die Vita eines Kommunalpolitikers: Ehrenamtlicher
       Bürgermeister, Verwaltungsamtschef, Kreistagsmitglied, Partei- und
       Vereinsarbeit. Solche Leute sind das Rückgrat der „Sachsen-Anhalt-Partei“,
       in der viel von Heimat die Rede ist. Ihre Kandidaten präsentieren sich vor
       Kirchtürmen, Windmühlen und rapsgelben Feldern. Heimeligkeit soll sich
       einstellen, bei dem die Erinnerung an die Wahlfälschung wie von selbst
       verdunstet.
       
       Dem stehen Leute wie Rüdiger Kloth im Weg. Der Hinweis auf das Gewissen ist
       bei ihm biografisch begründet. Es hat mit Moral zu tun, dass er in die
       Politik gegangen ist. Sein Dorf, erzählt er, lag im DDR-Sperrgebiet vor der
       innerdeutschen Grenze mit all den Repressalien. Kloth, Jahrgang 1965, wuchs
       damit auf. Ausgerechnet dort hatte ein ehemaliger Offizier der Grenztruppen
       1994 beste Chancen, Bürgermeister zu werden. „Das konnte ich nicht
       zulassen,“ sagt Kloth. Und so kandidierte der parteilose Autoschlosser und
       gewann. Erst 1998 trat er in die CDU ein. „Eine Woche vor Kohls Sturz bei
       der Bundestagswahl.“ Eine Überzeugungstat. Kloth lacht.
       
       Es waren Rüdiger Kloth, Nico Schulz und andere CDU-Mitglieder, die nach dem
       Urteil Aufklärung forderten. Wie will man sonst vor die Wähler treten?
       Schulz kandidiert beim anstehenden Kreisparteitag als Parteichef, er selbst
       will Schatzmeister werden. Was dann folgt, beschreibt Kloth als Farce. Die
       beiden fallen durch. Ein CDU-Silberrücken, durch die Wahlfälschung
       angeschlagen, schimpft über „Schweinejournalismus“ und präsentiert einen
       neuen Stern, der als Kreischef auf den Schild gehoben wird.
       
       ## „CDU-Rebellen“
       
       Und aus innerparteilichen Kritikern werden „CDU-Rebellen“. Kloth und Schulz
       stellen zur Kommunalwahl 2019 ihre Liste „Pro Altmark“ auf, die hinter
       einem nahezu halbierten CDU-Ergebnis mit 17 Prozent das zweitbeste Resultat
       einfährt. Die gerupfte Kreis-CDU schickt den Sektierern saftige
       Nachforderungen für zu wenig gezahlte Parteigelder. Was folgt, ist die
       Trennung.
       
       Rüdiger Kloth ist ins Auto gestiegen. Die Sache mit den Parteibeiträgen sei
       nichts als eine Retourkutsche. Den Beitrag habe vor Jahren der Kreischef
       festgelegt, der vor Gericht so schweigsam blieb. Über seine alte politische
       Heimat will er noch was loswerden. Es ist nicht die gesamte CDU, mit der er
       gebrochen habe. Es sind regionale Funktionäre, die eine Region in eine
       Domäne verwandelt haben und nach Gutsherrenart herrschen. Der Skandal von
       2014 ist nur der Schlusspunkt. Bereits 2009, so stellte sich nach Prüfung
       heraus, waren Briefwahlergebnisse auffällig.
       
       ## Aiwanger in Sachsen-Anhalt
       
       Kloth steuert durch die alte Hansestadt mit ihrer Kirche, dazu kommt ein
       Kranz aus Dörfern bis nach Niedersachsen – seine Welt. Mit Begeisterung
       erzählt er von der Sanierung des Waldbads, und dass eine Berliner Juristin
       samt Familie ihr neues Zuhause in seiner Gemeinde fand, hat ihn selbst am
       meisten überrascht.
       
       Neulich war Hubert Aiwanger zu Besuch, berichtet Kloth. Söders
       Wirtschaftsminister in Bismarcks Ur-Preußen? Der Bundesvorsitzende der
       Freien Wähler (FW) ist derzeit in Sachsen-Anhalt unterwegs. Seine Partei
       wächst und speist sich besonders aus einer Quelle: Die Spitzenkandidatin,
       eine Hallenserin, war früher stellvertretende Vorsitzende der Frauen-Union.
       
       Mit ihr sind sieben weitere CDU-Mitglieder gewechselt. Und das Zugpferd im
       Norden ist einer, der schon dreimal souverän ein Direktmandat geholt hat –
       Nico Schulz aus Osterburg. Von 2002 bis 2011 war er für die CDU im Landtag.
       
       ## Größter Gegner nicht immer die AfD
       
       Die FW präsentieren sich als die bessere CDU – bodenständig und sauber.
       Eine Gefahr? „Die Freie Wähler sind ein Sammelbecken von gefrusteten
       Parteimitgliedern aus verschiedenen Parteien“, eröffnet Chris Schulenburg,
       CDU-Kreischef, Landtagsabgeordneter und nun an direkter Kontrahent von Nico
       Schulz. Als er auf seine einstigen Parteifreunde zu sprechen kommt,
       räsoniert er über ihre zu niedrigen Parteibeiträge. „Ich mache mich als
       Polizeibeamter strafbar, wenn ich die Beiträge nicht erhebe.“ Drei
       Mahnungen habe er verschickt. Nein, bügelt Schulenburg ab, es gehe beim
       Zerwürfnis weniger um Wahlfälschung, vielmehr um diese Außenstände, kurzum
       „Frust“.
       
       Schulenburg präsentiert sich im Videotelefonat vor digitalem Panorama mit
       Raps, Kirchturm und Sonnenlicht. Die Ansicht seiner Heimatstadt, erzählt
       er. Das Motiv verwendet er auch auf Plakaten, wo er mit Gel im Haar und
       gefrorenem Lächeln für sich wirbt. Der Vierzigjährige hat in seinem
       politischen Leben bisher nur CDU-geführte Regierungen in Magdeburg erlebt.
       Die Erfahrung, dass es auch mal anders kommen könnte, steht noch aus.
       
       Es ist unwahrscheinlich, dass es die Freien Wähler schaffen. 2016
       erreichten sie 2,2 Prozent, diesmal dürfte es mehr sein, fünf Prozent
       allerdings sind unrealistisch. Sie werden der CDU aber Stimmen entziehen,
       vielleicht die entscheidenden. Der größte Gegner der CDU ist hierzulande
       [3][nicht immer die AfD]. Manchmal sind es eigene Leute.
       
       3 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /CDU-Krise-in-Sachsen-Anhalt/!5736734
 (DIR) [2] /Umstrittener-Politiker-in-Sachsen-Anhalt/!5324529
 (DIR) [3] /Vor-Wahl-in-Sachsen-Anhalt/!5770013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Gerlach
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
 (DIR) Sachsen-Anhalt
 (DIR) CDU
 (DIR) Wahlbetrug
 (DIR) Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
 (DIR) Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
 (DIR) DDR
 (DIR) Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Landtagswahl in Sachsen-Anhalt: Da ginge mehr
       
       Kein Bundesland hat ein höheres Durchschnittsalter als Sachsen-Anhalt. Doch
       wie blicken die jungen Menschen dort auf das Land?
       
 (DIR) Karamba Diaby über Sachsen-Anhalt: „Ich bin ein waschechter Ossi“
       
       Der SPD-Bundestagsabgeordnete lebt seit 1987 in Halle. Vor der Wahl in
       Sachsen-Anhalt spricht er über Umbrüche, Rassismus und seinen Lieblingsort:
       das Saaleufer.
       
 (DIR) Werbung für Sachsen-Anhalt: Halt doch mal an!
       
       Ausgeschlafene haben sich lange über das Landesmarketing von Sachsen-Anhalt
       lustig gemacht. taz-Leser:innen wissen, wie es besser geht.
       
 (DIR) taz Talk zur Wahl in Sachsen-Anhalt: Kenia-Kumpels wider Willen
       
       Allen Reibereien zum Trotz signalisieren Politiker von SPD, Grünen und CDU
       im taz Talk Koalitionsbereitschaft. Nur die Linke kritisiert das Vorhaben.
       
 (DIR) Identität in Sachsen-Anhalt: Ewig auf Suche nach dem Wir
       
       Das Image als Schlusslicht prägt Sachsen-Anhalt. Nicht mal mit glorreicher
       Historie kann man sich trösten. Aber vielleicht ist anderes wichtiger.
       
 (DIR) Großstädte in Sachsen-Anhalt: Editha gegen Nebra
       
       Die Großstädte Nr. 31 und 32, Magdeburg und Halle, führen seit dreißig
       Jahren einen erbitterten Zweikampf. Wer hat das Zeug zur Nummer 1 im Land?