# taz.de -- Cannes-Siegerfilm „The Square“: Der Affe in unserer Mitte
       
       > Ruben Östlunds Spielfilm „The Square“ ist weit mehr als eine
       > Kunstbetriebssatire. Er nimmt sich Zeit für eine genau beobachtende
       > Gesellschaftskritik.
       
 (IMG) Bild: Kunst? Tierisch! Terry Notary als übergriffiger Performance-Künstler Oleg in „The Square“
       
       Das Fremdschämen und die „Cringe Comedy“ haben eines gemeinsam: Sie waren
       schon lange da, bevor sie mit ihren schmissigen Namen die Runde machten.
       
       „Fremdschämen“ wurde erst 2009 in den Rechtschreibduden aufgenommen, aber
       das Schamempfinden ob des peinlichen Verhaltens etwa eines mehrheitlich
       gewählten Politikers, der sich seiner Peinlichkeit gar nicht bewusst ist –
       das erinnern hierzulande manche als ihre goldene Jugend unter einem Kanzler
       namens Birne. Und dass man sich über soziale Normen verletzende Narzissten
       im fiktionalen Rahmen einer TV-Serie köstlich amüsieren kann, hat nicht
       erst Larry David im Jahr 2000 mit der Cringe Comedy „Curb Your Enthusiasm“
       erfunden.
       
       Wie tief die Neigung sitzt, sich gegen Political Correctness abzusetzen,
       hat David nur quasi „nackt“ ins Zentrum gestellt. Lange bevor der Aufstieg
       der Rechtsextremen in Europa und die Präsidentschaft Trumps die sozialen
       Normen unserer auf Toleranz und zivile Umgangsformen verpflichteten
       Gesellschaften einem unvermuteten Härtetest zu unterziehen begannen.
       
       Heute aber sind Fremdschämen und Cringe Comedy keine Nischenphänomene in
       der Kleinkunstecke mehr, sondern wichtige Handwerkzeuge der
       Wirklichkeitsvermessung. Ruben Östlunds Film „The Square“, im Mai beim
       Festival in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, führt das auf
       meisterhaft subtile Weise vor Augen.
       
       Anders als der tölpelnde Larry David kommt Christian (Claes Bang), der für
       Öffentlichkeitsarbeit zuständige Museumsdirektor in „The Square“, als
       äußerlich perfekte Verkörperung des modernen zivilisierten Mannes daher:
       Gut angezogen, gut frisiert, gut schlank, erfüllt er alle Kriterien, um vor
       den vielen Kameras dieser Welt zu bestehen. Mit rotem Brillenrahmen setzt
       er Akzente gegen die Langeweile, die man einem gefällig-geschmeidigen Typen
       wie ihm unterstellen mag.
       
       ## Anlass fürs Fremdschämen
       
       Eine der ersten Szenen des Films macht deutlich, dass es nicht unbedingt
       sein Intellekt ist, der ihn an seinen komfortablen Posten gebracht hat. Im
       Interview mit der amerikanischen Journalistin Anne (Elizabeth Moss)
       reagiert er konsterniert, als sie ihn nach der Bedeutung eines von ihm
       verfassten Texts fragt. Christian muss die eigenen Worte – es geht um die
       Frage, wann Kunst Kunst ist – erst selbst noch mal lesen, bevor ihm eine
       Antwort dazu einfällt. Das ist vielleicht noch keine Cringe Comedy, aber
       doch schon Anlass fürs Fremdschämen.
       
       Weil Christian in einem Museum arbeitet, der Diskurs über moderne Kunst
       also zu seinem Beruf gehört und sich der Titel des Films „The Square“ auf
       eine konkrete Ausstellung und ein konkretes Kunstwerk bezieht, erhielt
       Östlunds Film schnell das Etikett „Kunstweltsatire“.
       
       Als solche fanden den Film manche gar nicht lustig, denn jede Parodie auf
       den modernen Kunstbetrieb trägt schnell den Geruch des Antiintellektuellen.
       Schließlich scheint nichts einfacher, als ein Gag über den Putzmann des
       Museums, der mit seinem Staubsauger ein Kunstwerk beschädigt, das aus
       Dreckhaufen besteht.
       
       ## Keinen Skandal machen
       
       Doch in Östlunds Film zielt die Pointe nicht auf das Kunstwerk, sondern den
       Rahmen, den das Museum und mithin die Gesellschaft um es herum setzt. Mit
       der „Keine Fotos!“-Regel genauso wie mit Christians verhuschten
       Anstrengungen, aus der Beschädigung keinen Skandal zu machen, der womöglich
       Geld kosten und seinen Etat belasten könnte.
       
       In „The Square“ nur die Kunstweltsatire sehen zu wollen, kommt deshalb
       einer willentlichen Einengung des Blickwinkels gleich, die Östlund im Film
       zugleich selbst thematisiert. Besteht doch der schwer zu benennende, weil
       flüchtige, prekäre Kontext der modernen Kunst aus den feinen Grenzlinien
       der gesellschaftlichen Normen, die als verabredet gelten, aber keine
       Gesetzgebung haben.
       
       Sind wir nicht zu „gekünstelt“? – heißt deshalb immer auch: sind wir nicht
       zu zivilisiert, zu domestiziert? Weshalb jemand wie Trump den schützenden
       Rahmen der politischen Korrektheit auch so schlicht durch Grobheit,
       Ignoranz und Lautstärke aushebeln kann.
       
       ## Christians Niedergang
       
       In mehr als einer Hinsicht ist „The Square“ ein Film darüber, wie unsere
       säkulare, westliche Gesellschaft mit lauten, groben Stimmen umgeht. So
       beginnt Christians Niedergang, der den roten Faden des anekdotisch
       erzählenden Films bildet, mit einer lauthals um Hilfe schreienden Frau auf
       der Straße. Ein Mann stellt sich schützend vor sie und bittet Christian um
       Mithilfe.
       
       Gemeinsam bieten sie dem herbeistürmenden vermeintlichen Angreifer die
       Stirn. Als der Reißaus nimmt, gratulieren sich die Männer gegenseitig,
       sichtlich durch Adrenalin und Macho-Stolz beglückt. Danach stellt Christian
       fest, dass ihm das Handy, der Geldbeutel und die Manschettenknöpfe fehlen …
       
       Die durch Handy-Ortung ermöglichte Hobbyverbrecherjagd verführt ihn dann im
       weiteren Verlauf zu Handlungen, in denen er sein zivilisiertes Selbst nicht
       wiedererkennt. Das bedeutet bei Östlund aber nicht, dass es um Mord und
       Totschlag geht. Sehr wohl aber, dass eine Konfrontation mit einem ungeheuer
       lautstarken Zwölfjährigen – „Du hast mich einen Dieb genannt!“ – zum
       existenzbedrohenden Konflikt eskalieren kann.
       
       ## Toleranz kann sich wie harte Arbeit anfühlen
       
       „The Square“ hat fast etwas von einer Gag-Revue, in der Östlund Vignetten
       aus der modernen Alltagswelt aneinanderreiht. Ein sabberndes Baby, das
       Konferenzteilnehmer einfach ertragen müssen, oder der Mann mit
       Tourettesyndrom, der das Podiumsgespräch mit einer Künstler-Koryphäe durch
       Einwürfe wie „Alles Müll“ und „Zeig mir deine Titten!“ unterbricht:
       Tatsächlich kann sich Toleranz wie harte Arbeit anfühlen. Und vielleicht
       ist sie gar nicht immer die richtige Antwort auf Konflikte?
       
       In einer Szene treibt es Östlund beziehungsweise die Welt, die er zeigt, zu
       weit: Da muss eine Galadinner-Gesellschaft den Auftritt eines Künstlers
       über sich ergehen lassen, der einen wilden Menschenaffen imitiert. Zuerst
       finden es alle spannend und sind höflich erschreckt über das ungezähmte,
       auch amüsante Gebaren (Terry Notary, seines Zeichens Stuntman im „Planet
       der Affen“-Franchise verkörpert den Künstler).
       
       Dann aber legt es das „Alphatier“ mit sicherem Gespür auf die
       Auseinandersetzung mit einem Künstlerkollegen an (von Dominic West gespielt
       und mit Pyjama unter dem Sakko als Julian-Schnabel-Hommage erkennbar).
       
       ## Körperlich übergriffig
       
       Mit überlegenem Grinsen und „Ich durchschaue dich“-Haltung versucht Wests
       Künstler Fassung zu bewahren, doch als der Affe körperlich übergriffig
       wird, verlässt er mit „Das lass ich mir nicht bieten!“ den Raum. Die übrige
       Gesellschaft hält sich derweil noch an die Verabredung, dass es sich hier
       um eine Performance handle – bis der Affe eine Frau zu Boden ringt und zur
       Vergewaltigung ansetzt. Dann schreitet ein Erster der Frackträger ein,
       gefolgt von plötzlich ganz vielen.
       
       Für Sekunden nur hält man als Zuschauer diese Reaktion für die richtige,
       die zivile Antwort auf eine unerträglich gewordene Situation. Dann aber
       verschmelzen die Männer zur schlagenden Meute, die blind ihre Gelegenheit
       nutzt, auf jemand einzuprügeln, der bereits am Boden liegt.
       
       Zwischen Männern, die Pyjama unterm Smokingsakko tragen und Künstlern, die
       als Menschenaffen auftreten – wie viel Normabweichung wird begrüßt und was
       lässt sich nicht mehr tolerieren? Östlund will in „The Square“ keine
       fertigen Antworten geben, er flirtet auch nicht mit dem „Der Mensch ist
       immer noch Jäger und Sammler“-Paradigma.
       
       Ihn interessiert das Verhalten an sich, und das macht die ganzen 145
       Minuten seiner feinen Beobachtungen dazu ungeheuer spannend. Denn anders
       als in den Grobkomödien, die oft die Vorurteile, die sie durch
       Überzeichnung entlarven wollen, dadurch zementieren, sind Östlunds Methoden
       mit Fremdschämen und Cringe Comedy schlicht – sehr zivil.
       
       19 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Schweizerhof
       
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