# taz.de -- DDR-Bürgerrechtler über Gorbatschows Tod: „Die Antithese zu Putin“
       
       > Der letzte Präsident der UdSSR sei eine „Lichtgestalt, die in den
       > Schatten geraten ist“. Das sagt der Ost-Grüne Werner Schulz.
       
 (IMG) Bild: August 1991: Auf dem Pariser Platz in Berlin demonstrieren Menschen gegen den Sturz Gorbatschows
       
       taz: Herr Schulz, was ist Ihnen als Erstes durch den Kopf gegangen, als Sie
       vom Tod Michail Gorbatschows erfahren haben? 
       
       Werner Schulz: Ich war erschrocken, mir hat sich das Herz
       zusammengekrampft, ich konnte danach überhaupt nicht einschlafen. Ich
       kannte Gorbatschow persönlich, das letzte Mal haben wir uns vor sechs
       Jahren in seiner Stiftung in Moskau getroffen. Vor meinen Augen liefen
       Lebensbilanzen ab – seine und meine, die haben sich ja verschiedentlich
       getroffen.
       
       Wann und wie passierte das? 
       
       Ich bin in den 80er Jahren zum ersten Mal auf Gorbatschow gestoßen. Damals
       war ich wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
       Sekundärrohstoffwirtschaft in Berlin und einer der wenigen, die
       Gorbatschows Buch „Perestroika“ zu Hause hatten. In der DDR war das ein
       Bestseller, der aber kaum zu bekommen war. Ich hatte damals vorgeschlagen,
       im Kollegium über das Buch zu sprechen, und ein Plakat mit einem Zitat
       daraus aufgehängt. Der Institutsleiter bekam einen Tobsuchtsanfall und ich
       drei Tage Hausverbot.
       
       Sie haben sich dann in der Friedens- und Demokratiebewegung engagiert.
       Welche Bedeutung hatte Gorbatschow dort? 
       
       Er war eine große Hoffnung, dass sich in der Sowjetunion endlich etwas
       bewegt, ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz, eine Neuauflage des
       Prager Frühlings von 1968. Als im Sommer 1989 die Zeitschrift Sputnik in
       der DDR verboten wurde, waren selbst Mitglieder der Führungsspitze
       verunsichert. „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“, hieß es
       immer, doch das galt nicht mehr. Von der Sowjetunion gab es plötzlich
       nichts mehr zu lernen.
       
       Wie beschreiben Sie die Rolle, die Gorbatschow bei der Vereinigung
       Deutschlands gespielt hat? 
       
       Mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag hat Gorbatschow die Hand zur deutschen
       Einheit gereicht. Er war ein großer Visionär, nicht der Totengräber der
       Sowjetunion, sondern der totalitären Diktatur.
       
       Aber wird Gorbatschow, gerade auch in Deutschland, nicht etwas zu positiv
       gezeichnet? Schließlich hat er im Januar 1991 Panzer nach Litauen
       geschickt, um Proteste niederschlagen zu lassen.
       
       Ja, damit hat sein Bild einige Kratzer bekommen. Er ist nicht vor der
       Anwendung von Gewalt zurückgeschreckt, das stimmt. Aber er hat dennoch
       demokratische Werte propagiert. Gorbatschow war kein Hardliner. Und er hat
       das Baltikum nicht im Blut ertränkt.
       
       Worin besteht für Sie der größte Unterschied zwischen Gorbatschow und
       Russlands Präsidenten Wladimir Putin? 
       
       Gorbatschow ist die Antithese zu Putin. Putin führt Russland in alte Zeiten
       zurück, Gorbatschow wollte genau das Gegenteil. Wir erinnern uns an die
       Rochade 2008, als Putin und Dmitri Medwedjew ihre Ämter tauchten und
       Letzterer für vier Jahre Präsident wurde. Putin hat Gorbatschows Weg in die
       Demokratie zerstört. Als Putin 2001 seine Rede im Bundestag gehalten hat,
       wurde er noch als Gorbatschows Enkel gefeiert. Man wollte in ihm nicht
       einen Ziehsohn des KGB erkennen. Ich habe damals übrigens das Plenum des
       Bundestages vorzeitig verlassen.
       
       Liegt darin nicht auch eine gewisse Tragik? 
       
       Zweifellos. Für mich ist Gorbatschow eine Lichtgestalt, die in den Schatten
       geraten ist. Dazu hat Wladimur Putin entscheidend beigetragen. Er hat
       Gorbatschow für alle Probleme verantwortlich gemacht, mit denen Russland in
       den 1990er Jahren, während der Transformationsphase, zu tun hatte.
       Gorbatschow musste für all die Schwierigkeiten als Sündenbock herhalten.
       Dabei geht es in Wahrheit um Putins Phantomschmerz wegen des Untergangs der
       Sowjetunion. Hier sei noch einmal an Putins Aussage erinnert, dass der
       Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20.
       Jahrhunderts gewesen sei.
       
       Worin besteht Gorbatschows Erbe? 
       
       Es ist die Hoffnung, dass es doch immer wieder einzelne Perönlichkeiten in
       einer Gesellschaft gibt, die ein System aus den Angeln heben können.
       Gorbatschow folgte auf Leute wie Leonid Breschnew. Auch nach Putin wird es
       jemanden geben, der Russland wieder auf den Weg der Demokratie und zu einer
       Verständigung mit dem Westen führt.
       
       Glauben Sie, dass Gorbatschow ein Staatsbegräbnis oder zumindest eine
       würdige Trauerfeier bekommen wird? 
       
       Das ist eine interessante Frage. Genauso spannend ist, welche ausländischen
       Staatsgäste anreisen werden oder anreisen dürfen und wer von ihnen bereit
       ist, sich neben Wladimir Putin zu stellen. Was Putin selbst angeht, so wird
       er sicher versuchen, aus diesem Ereignis irgendeinen Profit zu schlagen,
       und versuchen, sich in Gorbatschows Glanz zu stellen. Ich finde, dass Putin
       bei dem Trauerakt, wie auch immer er aussehen wird, absolut nichts zu
       suchen hat.
       
       1 Sep 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Oertel
       
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