# taz.de -- Persönline Erinnerungen an Gorbatschow: Wodka, Winkelemente, Wirkung
       
       > Michail Gorbatschows Tod hat bei vielen Menschen im Westen eine große
       > Traurigkeit ausgelöst. Vier Autor:innen erinnern sich persönlich an
       > ihn.
       
 (IMG) Bild: Beeinflusste viele, denen er nie begenet ist: Michail Gorbatschow, hier in Prag im April 1987
       
       ## Hoffnung und Neugier auf lebbaren Sozialismus
       
       Die Frau setzt die Flasche an und lässt das Bier, das sie aus einem
       Tankwagen abgefüllt bekommen hatte, in einem Zug ihre Kehle herunterrinnen.
       Es ist Winter 1986 in Smolensk, ich stehe neben dem Spektakel und denke
       nur: So können [1][Perestroika und Glasnost] also auch aussehen.
       
       Ich studierte damals Slawistik in Leipzig und verbrachte, so wie fast alle,
       die in der DDR russische Sprache und Literatur studierten, eine längere
       Zeit in der Sowjetunion. Ich wäre gern in Moskau gewesen, aber mich hatte
       es in die Provinz verschlagen. Dort war [2][der Prohibitionismus], den
       Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU ausgerufen hatte, um die
       Wirtschaft auf Vordermann zu bringen, stärker spürbar als anderswo. Es gab
       tatsächlich keinen Alkohol, die Leute brannten Schnaps selbst, einmal im
       Jahr kam ein Bierwagen.
       
       Das irritierte mich zutiefst. Da bin ich in einem Land, das sich anschickt,
       den Sozialismus wirklich lebbar machen zu wollen, in Smolensk meine ich
       (fast) alles sagen zu können, was ich denke – und dann bildet sich am
       Bierwagen in Sekunden eine meterlange Schlange? Nach Smolensk reiste ich
       mit großer Hoffnung auf etwas Neues – und auf Gorbatschow. 1986 wusste ich
       noch nicht so recht, was das wohl werden wird mit Gorbi und seiner
       Perestroika. Das erlebte ich dann 1989 – umso euphorischer. Simone
       Schmollack
       
       ## Mit Winkelementen an der Protokollstrecke
       
       Er war einer meiner ersten Popstars. Im Sommer 1989 gab es plötzlich
       massenhaft Buttons mit seinem Konterfei. Auch ich steckte mir einen an, als
       unsere Klasse zum 40. Jahrestag der DDR mit Winkelementen an die
       Protokollstrecke beordert wurde. Die Winkelemente gab die Pionierleiterin
       aus, die Buttons wurden unter der Hand gehandelt. Die greise DDR-Führung
       hatte [3][Gorbatschow zum 7. Oktober als Staatsgast] eingeladen, wollte
       sich mit ihm schmücken. Er sollte ihnen mit seinem „Wer zu spät kommt, den
       bestraft das Leben“ einen Strich durch die Rechnung machen.
       
       Für mich und viele meiner Klassenkamerad:innen war „Gorbi“ längst zum
       Symbol der Subversion gegen die vertrocknete Politikkaste und die starren
       Strukturen des Systems geworden. Perestroika und Glasnost waren klingende
       Begriffe, wir spürten, dass eine Zeit zu Ende ging und etwas Neues begann.
       Unsere Klasse schrumpfte täglich, Freunde verabschiedeten sich mit einem
       verstohlenen „Wir reisen aus“ und waren am nächsten Tag weg.
       
       Wir Verbliebenen standen also am 7. Oktober an der Hermann-Duncker-Straße
       und riefen „Gorbi, Gorbi“ und winkten wie wild mit unseren Fähnchen. Wir
       winkten Michail Gorbatschow zu und Erich Honecker zum Abschied. Einen Monat
       später demonstrierten Hunderttausende auf dem Alexanderplatz. Fünf Tage
       später fiel die Mauer. Anna Lehmann
       
       ## Ein Mensch voller Leben, der frei sprach
       
       Erich Honecker, Leonid Breschnew, Konstantin Ustinowitsch Tschernenko – ich
       war zwanzig Jahre alt und wurde bis dahin mein ganzes Leben lang von
       Untoten regiert. Bis zum März 1985 war das so. Dann kam Michail
       Sergejewitsch Gorbatschow.
       
       Er war ein Mann, der in seiner Jugend Mähdrescher gefahren ist, so wie ich
       es in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft getan hatte. Ein
       Mensch voller Leben, verheiratet mit einer Frau, nicht mit der Partei.
       Einer, der frei sprach und Wörter benutzte, die ich nie gehört hatte,
       obwohl ich in der Schule Russisch hatte. „Wir brauchen die Demokratie wie
       die Luft zum Atmen“, rief er uns von Moskau herüber. „Von der Sowjetunion
       lernen heißt siegen lernen!“, hatten uns unsere Geschichtslehrer damals
       eingebläut. Jetzt gaben wir es ihnen lachend zurück. Wir brüllten „Gorbi!
       Gorbi!“ im Leipziger Herbst 1989. Und dann kam: „Wer zu spät kommt …“
       
       Der Rest ist Geschichte. Ich selbst bin ihm nie begegnet, doch
       [4][Gorbatschow hat auch mein Leben verändert]. Was haben sie uns damals
       nicht alles erzählt, von den Volksmassen und den Gesetzmäßigkeiten der
       Geschichte. Dass aber ein einzelner Mensch das System zum Einsturz bringen
       kann, kam in ihrer stolzen Lehre nicht vor. Dass es schließlich ein Genosse
       war, haben sie ihm nie verziehen. Thomas Gerlach
       
       ## Gorbimanie: Run auf Slawistik
       
       Als Michail Gorbatschow 1985 sowjetischer Generalsekretär wurde, war ich
       gerade 16 geworden. Schule war für mich ein notwendiges Übel, dem ich wenig
       Zeit und Energie widmete. Das änderte sich schlagartig, als ich nach den
       Sommerferien von einem Russischkurs an meinem Oldenburger Nachbargymnasium
       erfuhr.
       
       Dank einer engagierten Lehrerin wurde meine dritte Fremdsprache schnell
       mein Lieblingsfach und verbesserte deutlich meinen Notendurchschnitt. Der
       Kurs bescherte mir auch zwei Reisen in die Sowjetunion. Klar, dass ich
       anschließend Slawistik studieren wollte. Doch wegen der „Gorbimanie“ war
       der Run auf das Fach groß, der NC an der FU Berlin lag bei 2,2. Nur dank
       zweier Wartesemester konnte ich mich letztendlich immatrikulieren.
       Insgesamt waren wir schließlich 100 Slawistik-Erstsemester. Pro
       Russisch-Sprachkurs 50 Leute.
       
       1991 dann erlebte ich das Ende von Gorbatschows politischer Karriere quasi
       live vor Ort. [5][Der August-Putsch,] der das Ende der Sowjetunion
       einläutete, überraschte mich bei meinem ersten längeren Aufenthalt in
       Leningrad. Die Nachrichtenlage vor Ort war dürftig, es gab weder Handy noch
       Internet. Nur dass Gorbatschow auf der Krim gefangen war, erfuhren wir
       irgendwie. Mir bleiben die drei Tage als bedrohliche Erfahrung in
       Erinnerung. Gaby Coldewey
       
       2 Sep 2022
       
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