# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Freiheit, du Traum der 90er Jahre
       
       > Einst glaubte unser Autor, dass auch in der ehemaligen Sowjetunion
       > Aufbruch und Freiheit möglich sind. Er fühlt sich getäuscht.
       
 (IMG) Bild: Dezember 1989, Michael Gorbatschow auf dem Volkskongress in Moskau
       
       Das weiß ich jetzt: Die Sowjetunion, sie war nie tot. Sie hielt sich
       verborgen, in den Schädeln von Putin und Lukaschenko, in den Hirnen von
       „Patrioten“ und denen von Wirrköpfen im Donbass.
       
       Ein einziges Mal war ich in der Sowjetunion. Das war im Oktober 1991. Ich
       wollte das Land von Gorbatschow kennenlernen. Der KPdSU-Generalsekretär
       hatte mein Leben verändert. Seit 1985 lagen so viele Hoffnungen auf diesem
       Mann. Er hatte das sowjetische Imperium in einen Ort der Hoffnung
       verwandelt. Das Politbüro mit seinen Greisen hatte keine Macht mehr. Die
       Jahre der Stagnation, unterbrochen nur von Terror nach innen und
       Einmärschen in benachbarte Länder, waren vorüber. Die KP-Greise wurden
       beerdigt. Der Spuk war vorbei. „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen
       lernen!“, hatten uns unsere Geschichtslehrer eingebläut. Jetzt gaben wir es
       ihnen lachend zurück.
       
       Es war eine wunderbare Reise. Wir sausten mit der Raketa, einem
       Tragflächenboot, über den Dnjepr, wir herzten Babuschkas, tranken aus
       Brunnen und sangen, beseelt vom Wodka, „Abende an der Moskwa“. Der Himmel
       über Belarus leuchtete jeden Abend tiefrot. Wir waren übermütig, wollten
       bis zum Reaktor von Tschernobyl vordringen. Gott sei Dank hat man uns
       gestoppt. Und wir brummten mit unserem spärlichen Schulrussisch ewige
       Schwüre.
       
       Fast hätte der Augustputsch unsere Reisepläne durchkreuzt. Noch einmal
       waren die Greise zurückgekehrt. Nach drei Tagen war alles vorbei. Als wir
       in Minsk am Lenindenkmal vorbeifuhren, wehte über der Stadt die
       weiß-rot-weiße Fahne des neuen Belarus. Es war aber noch die Sowjetunion.
       Ich hatte mit ihr kurz vor ihrem Ende, wie mit der DDR auch, meinen Frieden
       geschlossen.
       
       Ein Jahr später kehrte ich als Austauschstudent nach Minsk zurück. Ich
       wollte das Land kennenlernen, die Sprache, die Leute. Was habe ich für
       Menschen kennengelernt! Die Eltern von Oleg haben mich wie ihren Sohn
       aufgenommen. Eines Abends erzählte mir Olegs Vater Grigorij, wir hatten
       schon viel getrunken, dass seine Schwester von deutschen Soldaten
       erschossen wurde. Sie war beim Gänsehüten. Später erzählte mir mein Vater,
       dass er 1941 in Minsk war. Es macht mich heute manchmal noch fassungslos,
       was ich in Belarus erlebt habe.
       
       Wir Jüngeren machten Pläne. Dima wollte seine Keramik in Leipzig verkaufen.
       Oleg seine Bilder. Jurij handelte mit Autoteilen. Artur bekniete mich, in
       Deutschland eine Importfirma zu gründen, und ich träumte davon, in Belarus
       ein Holzhaus zu kaufen. Unsere Augen leuchteten, die Welt war offen. Die
       Zukunft auch. Ihr Name hieß Freiheit.
       
       Im August 1999, ich war wieder einmal in Minsk, tauschte Boris Jelzin
       seinen Ministerpräsidenten aus. Der neue hieß Putin. Oleg zuckte mit den
       Schultern. „Nie gehört.“ Das belarussische Fernsehen zeigte ein schmales,
       blasses Gesicht. Der Mann würde nicht lange bleiben. Jelzin, alt und
       unberechenbar geworden, hatte seine Regierungschefs zuvor immer schneller
       gefeuert.
       
       Alexander Lukaschenko hatte da sein Land schon in die Spur gebracht. 1994
       demokratisch gewählt, ließ er als Erstes die weißrussische Flagge einholen.
       Die neue sah der sowjetischen täuschend ähnlich. Zwei Jahre später gab er
       sich Vollmachten, die er in einem Referendum abnicken ließ. Einige meiner
       Freunde, sie waren Geschäftsleute geworden, hatten das Land verlassen. Nach
       ihnen wurde gefahndet. Gespräche mit ihnen, wenn es sie gab, waren ernst.
       
       ## Dann lächelte Putin
       
       Am 25. September 2001 hielt Wladimir Putin im Bundestag eine Rede. Eine
       Chance sei damals vertan worden, heißt es jetzt. Im vorigen Jahr habe ich
       sie noch einmal gehört. Wladimir Putin beeindruckte mit seinem Deutsch,
       sprach von Freiheit und europäischer Kultur, pries die Ressourcen seines
       Landes, auch das Verteidigungspotenzial, und sagte: „Russland ist ein
       freundliches europäisches Land.“ Dann lächelte er.
       
       Schon ein Jahr zuvor gab es einen anderen Putin zu sehen. Im August 2000
       war das Atom-U-Boot „Kursk“ gesunken, alle 118 Matrosen starben. Putin
       reiste wenig später zur UN-Vollversammlung. In einer Talkshow in New York
       antwortete er auf die Frage von CNN-Talkmaster Larry King: „Sagen Sie mir,
       was ist mit dem Unterseeboot passiert?“ – „Es ist untergegangen.“ Dann
       lächelte er.
       
       Damals war Wladimir Putin wenige Monate Präsident, inzwischen sind es mehr
       als 22 Jahre. Ich überblicke die Zahl der politischen Morde und Anschläge
       nicht mehr, die inzwischen in Russland verübt wurden, die Blutspur zieht
       sich bis nach Berlin. Ich kenne auch die Zahl der Toten nicht, die
       Lukaschenkos Geheimdienst auf dem Gewissen hat.
       
       2007 schlenderte ich mit meiner Frau Daria, einer Russin, die ich in Berlin
       kennengelernt habe, durch Moskau. Vorbei an der Tretjakow-Galerie, weiter
       zum Roten Platz. Der Kreml strahlte kalt in seiner Pracht. Im Unterschied
       zu 1992 war alles an der Fassade restauriert. Im Inneren allerdings auch.
       
       Als Wladimir Putin 2014 die Krim annektierte, schrieb ich einen wütenden
       Kommentar. Ich hatte die Krim 2011 mehr als zwei Wochen lang bereist, viele
       Krimtataren kennengelernt und war begeistert von ihrem Elan, ihre alte
       Heimat wiederaufzubauen. Seit der Annexion verfolgen Putins Geheimdienste
       genau diese Menschen.
       
       Ein Jahr später, wir besuchten zum ersten Mal mit unseren beiden Söhnen die
       Oma und die Verwandtschaft im Ural, haben wir zehn Tage lang nicht über
       Politik geredet. Als die Männer sich als glühende Patrioten präsentierten
       und von der Krim schwärmten, biss ich mir auf die Lippen. Ilja, mein
       Ältester, wurde von seinem Großonkel in einem Freizeitpark in einen
       Schießstand geführt. Er war sieben.
       
       Und Minsk? Jahre hatte ich meine Freunde nicht gesehen, als ich 2017 aus
       dem Flugzeug stieg. Nur zu Oleg war die Verbindung nie abgerissen. Wir
       hatten uns angewöhnt, am Telefon über Lukaschenko zu schweigen. Ich wollte
       Oleg nicht gefährden. Am Tag der Ankunft wurde in Minsk für eine Parade
       geprobt. Panzer verstopften die Straßen. Minsk war herausgeputzt. Trotzdem
       waren es trübe Tage. Oleg, Jurij, Witali – sie hatten Familien, Kinder,
       Häuser. Aber ihre Hoffnungen? Lukaschenko hatte sich eine gewaltige
       Residenz errichtet. Mit dem Geld hätte er alle Krankenhäuser ausstatten
       können, sagt Oleg und winkt ab.
       
       Die Jungs von damals waren, wie ich auch, älter geworden. Doch sie hatten
       auch ihre Hoffnung verloren. Freiheit, das war nur ein Traum in den
       neunziger Jahren. Lukaschenko hat einer ganzen Generation das Leben
       gestohlen.
       
       ## Einem Raketenschießen beiwohnen
       
       Vor einer Woche habe ich ihn bei Putin gesehen. Es wirkte, als wäre
       Ulbricht bei Breschnew zu Gast. Sie haben einem Raketenschießen beigewohnt.
       Und am Montag, Putin hatte sich vollends in Kriegsstimmung gebracht, waren
       auch die alten Männer wieder da. Das Politbüro heißt nun Sicherheitsrat.
       Seine Mitglieder, Lawrow, Naryschkin, Schojgu, versammelten sich in der
       alten, neuen Zwingburg und waren so versteinert wie eh und je.
       
       Ist es ein Zufall, dass ich Michail Gorbatschow vor Kurzem in einer Doku
       erlebt habe? Ein gebrochener, einsamer Mann, der in Moskau in einer
       Staatsvilla haust und sich in Flüchen ergeht.
       
       Donnerstag früh habe ich meinem Sohn Ilja, er ist 14, gesagt, dass heute
       die russische Armee die Ukraine, ein unabhängiges Land, überfallen hat. So
       wie Hitlerdeutschland 1939 in Polen einmarschierte. Ich hätte nie gedacht,
       dass so etwas noch einmal geschehen könnte. Und Daria hätte nie gedacht,
       dass sie sich einmal so für ihr Land schämen wird. Ich bin 57 Jahre alt.
       Das Ende der Sowjetunion werde ich nicht mehr erleben.
       
       Meine Söhne schon.
       
       Vielleicht.
       
       27 Feb 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Gerlach
       
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