# taz.de -- Das West-Berliner Café Mitropa wird 40: Die Tage und Nächte der Achtziger
       
       > Blixa Bargeld war da, David Bowie auch? Die grelle Coolness des Café
       > Mitropa war typisch für das New-Wave-West-Berlin der Achtzigerjahre.
       
 (IMG) Bild: Blixa Bargeld mit Eltern. Hinten Esther Colton, fotografische Chronistin des Kiezes, circa 1981
       
       Angesichts der Kneipenschwemme, mit der uns Gastro-City Berlin verwöhnt,
       wäre ein weiteres Kneipenjubiläum nicht weiter der Rede wert, ginge es
       nicht um das Café Mitropa in Schöneberg. Das Mitropa gehört zu jenen
       Westberliner Szenekneipen, die ihre eigene kleine Kulturgeschichte
       schreiben. [1][Treffs wie Exil, Ax Bax, Paris Bar, Dschungel, SO 36, Café
       Einstein und eben das Café Mitropa] waren im Westberlin der 1970er und
       1980er kulturelle Keimzellen.
       
       Wim Wenders, die Einstürzenden Neubauten, Malaria und viele mehr schlürften
       im Mitropa ihren Milchkaffee, viele Berliner Szenegrößen von morgen
       stärkten sich hier mit einem Katerfrühstück. Das Café machte die
       Schöneberger Goltzstraße zur Flaniermeile des Undergrounds. Man brauchte
       bei schönem Wetter nur zwei Stunden vor dem Café sitzen und bekam ein
       Sommertheater geboten, jedes Ego ein Darsteller. Eine Handvoll Gäste aus
       der Anfangszeit kommt noch heute.
       
       Sechs Studenten, allen voran Michaela Buescher, die heute als
       Allgemeinärztin in Zehlendorf praktiziert, designten 1979 ein für damalige
       Verhältnisse avantgardistisches Café mit dem Charme einer italienischen
       Eisdiele. „Einen Laden machen, das war das Ding. Es ging um
       Selbstverwirklichung. Nicht um Geldverdienen. Unsere Kasse war eine
       Holzschublade. Da kam der Umsatz rein, und am Ende einer Schicht nahm sich
       jede/jeder den Lohn raus. Das war Kollektivdenken, wie es anfangs auch die
       Leute vom Dschungel-Kollektiv umsetzten“, erinnert sich Buescher vierzig
       Jahre später am Telefon beim Bergsteigen in Bayern, leicht außer Atem.
       
       „In Italien hatte mich das Helle inspiriert, die Frische. Weg mit dem
       Sumpfigen und Schlampigen“, war Bueschers ästhetisches Anliegen: kalkweiße
       Wände, Metallmöbel auf schwarz-rotem Mosaikfußboden, ausgeleuchtet mit
       gleißenden Neonringen unter der Decke. Nach dem Omaplüsch und den indischen
       Teppichen der Seventies kam die grelle Kühle des Interieurs cool rüber.
       
       Mitropa war der Name der Speisewagengesellschaft der DDR-Reichsbahn,
       berüchtigt für karge Menüs, das klang auch cool in der Mauerstadt.
       Allerdings war auch die Küche des Café Mitropa nicht weit entfernt vom
       Original. Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten schüttelt es
       heute noch, wenn er sich an den „gefürchteten Hühnersalat“ erinnert.
       
       Andererseits läuft ihm aber heute noch das Wasser im Munde zusammen bei der
       Erinnerung an die Rumkugel-großen Energiebällchen mit Kokossplittern: „Die
       konnten uns die Barmädchen unauffällig in der hohlen Hand rüberreichen,
       wenn wir Hunger hatten und keine Kohle“, erzählt er weiter. Einen Steinwurf
       entfernt war der Winterfeldtplatz, Kampfgebiet der Hausbesetzer, mit dem
       Ur-Dschungel (heute Slumberland) und der Ruine als Nachtstationen.
       
       ## Der Zensor liefert die Platten
       
       Ich selbst bewohnte seinerzeit mit Rio Reiser eine Ladenwohnung in der
       Belziger Straße 23, direkt neben dem zur selben Zeit wie das Mitropa
       eröffneten Plattenladen Zensor von Burkhardt Seiler, der mit seinen aus
       Großbritannien und den USA importierten Schallplatten ein weiterer
       wichtiger Anlaufplatz der Szene war. In meinem Schlafzimmer wurde ich
       tagsüber oft aufgeweckt, wenn Burkhardt seine Vorspielscheiben so laut
       aufdrehte, dass es durch den Hinterhof schallte. Wenn mir ein Sound gefiel,
       rannte ich rüber in seinen Laden und kaufte die Platte.
       
       Denn nachts legte ich als DJ im Moon auf (heute Rickenbacker’s an der
       Bundesallee), wo Mania D. und die Einstürzenden Neubauten zum ersten Mal
       auftraten. Seiler war auch der Lieferant für die Mucke, die im Mitropa
       lief.
       
       ## Die Barschlampen waren die Kings
       
       Kassetten waren das Ding. Nicht nur John Peels Sendungen schnitten wir mit,
       die man im britischen Soldatensender BFBS hören konnte. Auch überspielten
       wir Zensors Singles und mixten uns unsere eigenen Tapes zusammen. „Die
       jeweiligen Barschlampen waren ja immer die Kings in unseren Kneipen“,
       erzählt Hacke im Café M, „weil sie die Hoheit über den Kassettenrekorder
       hatten.“ Jeder Barkeeper war eine anerkannte Persönlichkeit, die sie oder
       er nicht nur durch das eigene Outfit, sondern auch mit dem Abspielen
       eigener Kassetten in Szene setzte.
       
       Dutzende von Barfrauen-Persönlichkeiten wie die Französin Dinah Leipzig
       haben im Mitropa Schichten geschoben. Therese, Gunda, Wee Flowers,
       Patrizia, Ulla, Bea, Mo Asumang. „Abends haben wir ihnen geholfen, die
       Stühle reinzuholen, das war unser Kavaliersdienst“, sagt Alexander Hacke.
       
       ## Ein Sandkasten für junge New Waver
       
       Das gestylte Mitropa zog alle sofort an. Es war unser Wohnzimmer, ein
       Spielzimmer für Selbstverwirklicher, ein Sandkasten für junge New Waver,
       die noch etwas weiterspielen wollten, und für viele Familienersatz. Die
       Künstlerkandidaten saßen im Startloch, es war ein kreatives Abhängen, bei
       dem im Rausch Pläne geschmiedet, Ideen geboren – und umgesetzt wurden.
       
       Das Café war auch Künstlergarderobe. Experimentelle Kostümierungen führten
       wir coram publico vor. Plastik in allen Ausführungen war das Material der
       Stunde. Hacke schreibt in seiner Autobiografie „Krach“ darüber: „Ein Herr
       namens Blixa Bargeld machte aus jedem Erscheinen im Café eine Performance,
       indem er mit einer Schweißerbrille auf der Nase verkündete: ‚Ich bin eine
       Fliege.‘ Oder indem er eine Cola mit Vanille-Eis mit einem Croissant zum
       Stippen bestellte.“
       
       ## Flirts, Amouren, Trennungen
       
       Die Lauten und die Stillen checkten einander ab, Flirts, Amouren,
       Trennungen, Dramen spielten sich ab – das ganze Programm. Poser hatten ihre
       kleinen und großen Auftritte, fuhren auf dicken Maschinen vor.
       Zeitgenossen, die bereits ein paar Sprossen ihrer Karriereleiter
       erklommen hatten, parkten ihre Oldtimer vorm Mitropa. Wie schick war doch
       der alte rote Volvo vom ZDF-Kollegen Bernd Kungel. „Den fahr ich heute
       noch“, sagt er bescheiden.
       
       „Es war die Stimmung ‚Kalter Krieg‘ und niemand wusste so recht ob es doch
       noch knallt, sodass immer eine Endzeitstimmung in der Luft lag“, schrieb
       die Künstlerin Betty Stürmer über die West-Berliner Szenerie in ihrem
       autobiographischen Buch „Szenegirl“, das im vergangenen Jahr erschienen
       ist.
       
       ## Milchkaffee aus weißen Porzellanschalen
       
       Im Mitropa begannen wir die Tage der achtziger Jahre und beendeten sie auch
       – bevor wir weiter in die Nacht zogen. Jede Nacht. Um dann morgens nach
       durchzechten Dschungel-Nächten vor der Mitropa-Tür zu warten, bis endlich
       aufgeschlossen wurde: Milchkaffee! Aus weißen Porzellanschalen.
       
       Die Mitteleuropäische Reisegesellschaft erhob bald Einspruch gegen die
       Verwendung ihres Namens, der auf den Speisewagen der Reichsbahnen prankte.
       Die Studenten, die den Laden eröffnet hatten, übergaben nach drei Jahren an
       die Wirte Erwin und Werner, und fortan hieß das Mitropa „Café M“, bis
       heute. „‚itropa‘ hätte ich witziger gefunden“, findet Alexander Hacke
       rückblickend.
       
       ## Werner fickt Anna
       
       „Einmal hatte jemand ‚Werner fickt Anna‘ auf den Zigarettenautomaten
       gesprayt. Wirt Werner beauftragte Thierry Noir, Kiddy Citny, Oliver Schunt
       und mich damit, mehr Graffiti auf die Wände zu sprühen, damit besagter
       Spruch darin untergehe. Unsere Aktion entglitt uns zu einem Desaster, wir
       warfen Farben, ich hatte Angst um meine Cowboystiefel und riss barfuß
       Mosaike aus dem Boden. Wir haben den ganzen Laden versaut. Jedenfalls
       musste danach der Laden komplett renoviert werden. Aber Thierry bekam dabei
       vermutlich auf LSD seine Idee für sein späteres Markenzeichen, die
       Schwulstlippen auf der Berliner Mauer“, erzählt Hacke weiter.
       
       Der Schriftsteller Bernd Cailloux vertrat als Stammgast die schreibende
       Zunft im Mitropa. Die angehenden Maler, Musiker und Filme saßen alle je
       nach Fakultät getrennt an den Tischen, hat er beobachtet. Dass er selbst im
       Intro der Café-Speisekarte Erwähnung gefunden hat, freut den Autor „fast so
       wie ein Literaturpreis“.
       
       ## War Bowie da?
       
       Padeluun, der es bis in den Bundestag geschafft hat, organisierte 1980 das
       legendäre „Alle Macht der Super 8“ im Mitropa. Mit dabei: Super-8-Pionier
       Knut Hoffmeister, damals Assistent von Martin Kippenberger. Von ihm gibt’s
       [2][Mitropa-Filmaufnahmen auf YouTube] zu sehen. Mitropa-Gründerin Michaela
       Buescher studierte damals selbst Film und drehte mit Patienten in einer
       Münchner Psychiatrie.
       
       „Gott ist tot“, schmetterte Nina Hagen seinerzeit, „the Lord ist fort.“ Das
       war auf David Bowie gemünzt, der einer unserer Götter war. Und auch heute,
       fast vier Jahre nach Bowies Tod treibt einige junge Gäste im Café M noch
       die Frage um: War Bowie Gast im Café Mitropa? „Nö“, sagt Alexander Hacke,
       „nie gesehen.“ Bernd Cailloux widerspricht: „Natürlich war der da!“
       
       ## Der Blätterer nervte Gäste mit der taz
       
       Und heute? Entspannt sitzt eine neue Generation Stammgäste im Café M.
       Michael, ein Architekt, bemalt hier seit zehn Jahren weiße Blätter
       kunstvoll mit Schriften, dreißigtausend sind es schon. Ein Gästeschreck
       namens Falco kommt manchmal in Uniform. Als Hauptmann von Köpenick. Im
       Mitropa wurden auch schräge Gestalten wie der „General“ lokalprominent.
       Oder „Der Blätterer“, wie sich Ex-Kommunardin Antje Krüger erinnert. Der
       Blätterer nervte Gäste mit „Windmachen“ beim Durchblättern der taz, die im
       M noch heute ausliegt. Oder der freiwillige Gläserabräumer, ein hinkender
       Travestie-Berber, der gut zielen konnte: Hin und wieder bewarf er aus
       weiter Distanz Gäste mit Zuckerstückchen.
       
       „Als wir vor zehn Jahren das Café übernahmen“, erzählt die derzeitige
       Wirtin Lina, „klebte noch ein Zettel unterm Tresen mit den Namen dreier
       Psychotherapeuten, die ich rufen sollte,wenn die- oder derjenige
       durchdreht.“ Derweil versucht ihr Freund, Falco zu überreden, dem Café doch
       für eine Weile fernzubleiben.
       
       4 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Der-Zeichner-und-Wirt-Michel-Wuerthle/!5531933
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