# taz.de -- Die taz und die Neuen Rechten: Die Lügenpresse, das sind wir
       
       > Gegen die Elite aus Mainstreammedien und Politik, die die Wahrheit
       > verschweigt, wurde 1979 die taz gegründet. Heute reden Rechte so. Was
       > bedeutet das?
       
 (IMG) Bild: Rudi Dutschke kritisierte die „totale Kontrolle“ bei Pressegesprächen
       
       Im Oktober 1979 mogelte sich Rudi Dutschke in Bonn auf eine
       Pressekonferenz, die der chinesische Ministerpräsident Hua Guofeng und der
       deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt gaben. Er war mit der Akkreditierung
       eines befreundeten Journalisten hineingekommen und wollte nun Fragen zur
       Menschenrechtssituation in China stellen. Dutschke hob die Hand. Aber man
       rief ihn einfach nicht auf.
       
       Wer kam stattdessen dran, um „Pseudofragen“ zu stellen, wie Dutschke es
       nannte? Das ZDF. Unter schärfstem Protest gegen diese „Manipulationsshow“
       verließ er den Saal. Selbst die New York Times berichtete darüber, einen
       erstaunlich schönen Fehler inklusive: „Red Rudi“ habe eine linke
       Publikation namens „rageszeitung“ vertreten. Gemeint war die taz.
       
       Dutschke, einigermaßen in Rage, schrieb tags darauf einen Artikel, der auf
       der Titelseite erschien. Er kritisierte die „künstliche Atmosphäre“, in der
       „jedes echte Fragen nach Wahrheit“ ausgeschlossen worden sei. Solche
       Pressegespräche unterlägen der „totalen Kontrolle“.
       
       Es war eine Anklage des korrumpierten Schweinesystems, in dem die anderen
       Journalisten auch noch mitmachten: Von FAZ bis Frankfurter Rundschau, von
       Welt bis Bild, befand er, waren keine „echt-demokratischen Fragen zu
       erhoffen“.
       
       Zwei Monate später starb Dutschke. Hier war er noch einmal in seinem
       Element.
       
       „Der Bericht dokumentiert eindrucksvoll eine Haltung, die auch die taz
       prägte“, schrieb Jahrzehnte später Jörg Magenau in einem Buch über die taz:
       „… die völlige Entfremdung gegenüber dem Staat und die penetrante
       Selbstgewissheit, dessen ‚Halbwahrheiten und Lügen‘ mit der eigenen
       ‚Wahrheit‘ entlarven zu können.“ Es waren andere Zeiten. Für die heutige
       taz, schloss Magenau, wäre so ein Auftritt „einfach nur unprofessionell“.
       
       ## Jetzt betrachten sich rechte Medien als alternativ
       
       Man kann von Dutschkes verhinderter Ein-Mann-Demo allerdings nicht lesen,
       ohne das Wissen der Gegenwart im Kopf zu haben. Leute, die gegen „das
       System“ und eine „Elite“ aus Medien und Politik wettern, welche die
       „Wahrheit“ verschweige, die gibt es ja nun wieder. Es sind halt nur die
       anderen.
       
       38 Jahre nach der Gründung der taz betrachten sich rechte Medien als
       alternativ. Das Monatsmagazin Compact, das Blog „Politically Incorrect“,
       die Theoriezeitschrift Sezession. Und eine Unzahl von Facebookseiten. „Die
       neuen Medien erlauben den Aufbau einer Gegenöffentlichkeit. Es sind
       Versuche auf Graswurzelniveau, um sich das Land zurückzuholen“, schreibt
       die rechtskonservative Wochenzeitung Junge Freiheit.
       
       Was ist dran an dem Vergleich? Was sagt das über die linken Ziele von
       damals und die rechten Strategien von heute?
       
       Der Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer, der sich als Enthüllungsjournalist
       für linke Lebenslügen einen Namen gemacht hat, führte im März 2017 vor,
       warum es so nahe liegt, von den 68ern auf die Neuen Rechten zu kommen. Über
       ein Interview mit Rudi Dutschke aus dem Jahr 1967 schrieb er: „Wer beim
       Zuhören die Augen schließt, erkennt viele Parolen wieder, die heute die
       rechten Provokateure im Munde führen. Da ist die Schmähung der
       Regierungskabinette als ‚institutionalisierte Lügeninstrumente‘, die
       Ablehnung des parlamentarischen Systems als manipulativ und unbrauchbar,
       die Verherrlichung der neuen Bewegung als eine, die ‚die wirklichen
       Interessen der Bevölkerung‘ ausdrückt.“
       
       ## Redete Dutschke wie Pegida-Prediger heute?
       
       Was soll man sagen? Im Detail hat Fleischhauer Recht. So wie Dutschke
       damals redete, reden heute Pegida-Prediger. Man kann sogar noch weiter
       gehen und sagen: Zum Glück war Fleischhauer nicht im Archiv der taz. Die
       erste Ausgabe erschien im April 1979 mit Gedanken von Mitarbeiterinnen und
       Mitarbeitern. Die Rede ist dort von einem Staat, der „jeden Widerstand zu
       ersticken“ versuche. „Die TAZ wird Säure werden müssen, um
       gesellschaftliche, politische und persönliche Verkrustungen wegätzen zu
       können.“ Da Wahrheiten nicht pur zu haben seien, sondern nur gemischt mit
       Hass, Hoffnungen und Meinungen, müsse man sie „in 10.000 Lügen erzählen“.
       
       Es ist, während man das liest, als säße einem ein kleiner Fleischhauer auf
       der Schulter und würde rufen: „Es war alles schon mal da. Bei euch, ihr
       Trottel!“
       
       Was aber unterscheidet das Medienbild der „Lügenpresse“-Rufer von heute von
       dem der „Bild lügt“-Rufer von damals?
       
       Es lohnt sich, auf der Suche nach einer Antwort ein altes Buch zu lesen.
       Oskar Negt und Alexander Kluge haben es geschrieben, und man muss gar nicht
       auf das Erscheinungsdatum schauen, um zu merken, dass es 1972 erschienen
       ist. Begriffe wie „Verblendungszusammenhang“, „Diktatur der Bourgeoisie“
       und „Terrorzusammenhang der modernen Kleinfamilie“ verraten es. Das Buch
       heißt „Öffentlichkeit und Erfahrung“ und ist die maßgebliche
       Auseinandersetzung mit der Idee der Gegenöffentlichkeit dieser Zeit.
       
       ## Alltagserfahrungen vieler Menschen spielen keine Rolle
       
       Gegenöffentlichkeit – das ist stets ein unscharfer Begriff geblieben. Viele
       halten ihn für unbrauchbar. Auch in der taz gab es diese Stimmen schon in
       den Achtzigern. Denn Öffentlichkeit lässt sich nicht spalten wie ein Apfel.
       Wer Öffentlichkeit herstellt, ist dadurch Teil von ihr.
       
       Oskar Negt und Alexander Kluge aber argumentierten, dass es
       Gegenöffentlichkeit eben doch geben müsse, weil in der Öffentlichkeit einer
       Klassengesellschaft nur theoretisch all das verhandelt werde, was für
       wirklich alle wichtig ist. In der Praxis würden die Alltagserfahrungen
       vieler Menschen keine Rolle spielen; nämlich die der Proletarier.
       
       Sie zeigten das am Beispiel eines Unternehmens: Die Arbeiter, Schutzbrille
       vor den Augen, sehen darin immer nur ihre paar Quadratmeter Fließband. Die
       Chefs hingegen haben den ganzen Betrieb im Blick. Sie wissen, wie die
       Rädchen ineinander greifen. Die Proletarier wüssten also gar nicht, was sie
       über das kapitalistische System nicht wissen – so könnten sie auch ihre
       Lage nicht verbessern. Daher brauche es eine Gegenöffentlichkeit, in ihrer
       Sprache.
       
       Man mag das heute für muffig halten. Verblendungszusammenhang – come on.
       Bourgeoisie gegen Proletariat – von gestern. In der Medienwelt von damals
       waren Journalisten sogenannte Gatekeeper, die Nachrichten durchließen oder
       aussortierten wie Türsteher. Heute kann im Internet ja jede und jeder alles
       veröffentlichen.
       
       ## Gespräche zwischen Ungleichen
       
       Das Frappierende ist aber: Wenn man bei Negt und Kluge den Begriff des
       Proletariers durch den des Pegida-Anhängers ersetzt und „bourgeois“ durch
       „liberal“, führt das zu einem Verständnis dessen, was mit der
       „Lügenpresse“-Kritik gemeint sein könnte. Das heißt nicht, dass sie
       berechtigt wäre. Aber man kommt dem Punkt näher, von dem aus man sich ihre
       Logik erschließen kann.
       
       Wenn Journalisten auf einer rechten Demonstration mit ihren Kritikern
       reden, fragen sie zum Beispiel, was sie eigentlich so lesen. Welches Medium
       hat denn gelogen? Wann? Was genau war falsch?
       
       Dann kommt als Antwort in der Regel nichts, was das Gesellschaftsgespräch
       voranbringt. Und das ist im Grunde vorher klar. Es sind Gespräche zwischen
       Ungleichen mit dem Ergebnis: Siehste, die kennen gar nicht, was sie für
       verlogen halten.
       
       Aus Negts und Kluges Buch kann man ableiten, warum so ein Vorgehen sinnlos
       ist. Es gibt Menschen, die keine Ahnung haben, wie Journalismus
       funktioniert, was aber nicht unbedingt ihr Fehler ist. Sie sehen, wenn sie
       den Fernseher einschalten, eine Weltproduktion, von der sie nicht wissen,
       wie sie gemacht ist. Warum redet da schon wieder jemand darüber, wie
       schlimm dieser Trump ist? Oder wie schlecht es den Flüchtlingen geht? Warum
       redet da keiner über Hartz IV? Oder darüber, ob Kinder nicht eher Mütter
       brauchen als Kitaplätze?
       
       ## 42 Prozent der Deutschen glauben an Lügenpresse
       
       Wie weit ist es von da zur Frage, ob Journalisten aus dem Kanzleramt
       gesteuert werden? „Die Medien“ sind „gleichgeschaltete“ „Marionetten“ einer
       „Kanzlerdiktatorin“: An dieser Darstellung ist jedes Wort Bullshit.
       
       Wie wäre es aber mit dieser Formulierung: Medien und Politik befinden sich
       in einer geteilten Wirklichkeit, die aber nicht zwangsläufig die von allen
       Menschen in diesem Land ist. Hartz IV wird in Zeitungen ein Thema, wenn die
       Politik gerade daran herumschraubt. Sonst eher nicht. Auch wenn es jeden
       Tag viele Menschen umtreibt.
       
       42 Prozent der Deutschen glauben, dass am „Lügenpresse“-Vorwurf zumindest
       ein bisschen was dran sei, das hat das Allensbach-Institut gerade
       ermittelt. 42 Prozent! Womöglich wird da ein Glaubwürdigkeitsproblem, das
       größer ist, als Pegida je war, von der aufgeputschten Rhetorik nur
       verdeckt.
       
       Dass auch noch von einer „Elite“ die Rede ist, sorgt schon für das nächste
       Missverständnis. Schließlich werden auch Redakteurinnen und Redakteure dazu
       gezählt, die 2.000 Euro brutto verdienen. Doch um wirtschaftlichen
       Wohlstand geht es nicht. Sondern darum, wer ins Gesellschaftsgespräch
       eingreifen kann. Die Kommunikationsmittel sind in dieser Logik die
       Produktionsmittel von heute.
       
       Es war ein Sozialdemokrat des Typs Aktentasche, der die große Verbreitung
       dieser Logik angestoßen hat. Im Jahr 2010 veröffentlichte Thilo Sarrazin
       ein Sachbuch, das sich so gut verkaufte wie kaum eines zuvor in der
       Geschichte der Bundesrepublik: „Deutschland schafft sich ab“.
       
       ## Sarrazin bediente Ressentiments
       
       Das Buch wurde rauf- und wieder runterdiskutiert, aber kaum ein Journalist
       kam auf die Idee, es rundum großartig zu finden. Sarrazin behauptete, alle
       Thesen mit Zahlen belegen zu können. Aber natürlich gab es keine, die die
       Notwendigkeit belegten, über „Kopftuchmädchen“ herzuziehen. Er bediente
       Ressentiments und kaschierte sie mit dem Rechenschieber. Und wurde dafür
       auch verehrt.
       
       Der Spiegel schrieb einmal über eine Veranstaltung mit ihm in München, es
       gebe für das Publikum keine bessere Bezeichnung als „Mob“. Adrett
       zurechtgemacht und nach Eau de Toilette riechend. Aber: ein Mob. Einer,
       „den es kaum auf den Stühlen hielt, sobald die Rede auf 'die Politik’, ‚die
       Medien‘ oder ‚die Ausländer‘ kam“.
       
       Der Historiker Volker Weiß betrachtet die Sarrazin-Debatte als den Moment,
       in dem Themen und Begriffe salonfähig wurden, die bis dato nur in der
       äußersten Rechten zirkulierten. In seinem jüngst erschienenen Buch „Die
       autoritäre Revolte“ schreibt Weiß: „Meisterhaft verstand Sarrazin sich auf
       die Inszenierung als Widerstandskämpfer gegen eine angeblich
       gleichgeschaltete öffentliche Meinung.“
       
       Aus der Zeit der Sarrazin-Debatte, aus dem September 2010, stammt auch eine
       Bild-Zeitungs-Titelseite, die ein geflügeltes Wort groß machte: „Diese
       Sätze muss man sagen dürfen“ stand da. Gemeint waren Weisheiten wie: „Nicht
       wir müssen uns den Ausländern anpassen, sondern sie sich uns.“ Es war die
       Zeit, in der sich Widerstand gegen angeblich existierende Sprechverbote
       formierte.
       
       Sprechverbote. Auch so ein unscharfes Wort aus dem Lexikon des
       Ausnahmezustands. Es verbietet doch kein Mensch irgendwas. Die Welt wird
       geradezu mit Wortmeldungen von Leuten geflutet, die sich unglaubliche
       Unverschämtheiten erlauben.
       
       ## Manche wähnen sich in einer Diktatur des Liberalen
       
       Aber was, wenn man auch „Sprechverbot“ mal in einen nüchternen Sound
       übersetzt? Womöglich geht es um die Definition dessen, was als normal gilt.
       Die hat sich zweifellos verändert, getrieben von einer emanzipierten
       linksliberalen Avantgarde. Die hat gute Argumente dafür, Begriffe wie
       „Person of Colour“ zu benutzen und zum Beispiel das N-Wort nicht mehr. Oder
       sich unter dem Hashtag #aufschrei über ältere Wirtschaftsminister
       aufzuregen, die junge Frauen vollflirten. Aber wer glaubt, dass der Rest
       der Welt das sofort versteht, kann aus seinem Milieu lange nicht
       herausgekommen sein.
       
       Es gibt heute Menschen, die sich in einer Art Diktatur wähnen – in jenem
       Sinn, in dem bei Oskar Negt und Alexander Kluge 1972 von einer „Diktatur
       der Bourgeoisie“ die Rede war. Sie wähnen sich in einer Diktatur des
       Liberalen, die sich nur noch für die Emanzipation immer neuer Minderheiten
       interessiert: Transgendertoiletten gelten als wichtig, Traditionen nicht.
       Das ist die Unterstellung. Männer sollen Männer heiraten dürfen, Frauen
       führen Unternehmen, Kopftücher gehören zu Deutschland, Flüchtlinge dürfen
       auch einfach rein – es ist nicht mehr so, wie es mal war.
       
       Als die 68er den Vertrieb der Bild-Zeitung blockierten oder Zeitungen aus
       dem Axel-Springer-Verlag verbrannten, da ging es immer auch um die Gefahr
       von Meinungsmonopolen. Springer kontrollierte damals mehr als 70 Prozent
       der Tageszeitungen in Westberlin. Die kommentierten die „Polit-Gammler“ und
       „rote SA“ in Grund und Boden und riefen dazu auf, die „Drecksarbeit“ gegen
       den „Terror der Jung-Roten“ nicht allein der Polizei zu überlassen. Kurz
       danach wurde Rudi Dutschke niedergeschossen.
       
       Aber heute? Meinungsmonopole? In einer Zeit, in der jeder alles ins
       Internet schreiben kann: in Blogs, auf Facebook, in Kommentarspalten?
       
       Der Punkt ist, dass eine Utopie, die sich mit dem Netz verband, nicht
       Wirklichkeit wurde – die Utopie der demokratisierenden Kraft. Zunächst
       schien alles angerichtet, eine große liberale Idee wahr werden zu lassen:
       Die Grenzen zwischen Sender und Empfänger würden fallen. Alle würden
       mitreden können.
       
       ## Vorläufer dieser Art Wut
       
       Es kam so. Nur anders. Die Zahl der Weltinterpreten ist zwar um ein
       Vielfaches größer als früher. Aber die meistgenutzten Medien sind immer
       noch die der großen Marken von einst. Blogs erreichen Nischen.
       
       Und Algorithmen, etwa von Facebook, sorgen dafür, dass die Leute in erster
       Linie das sehen, was sie eh interessiert. In einer dieser Filterblasen
       wuchs der Zuspruch für die Neuen Rechten, die sich als unterdrückte
       Minderheit verkaufen, die tapfer gegen „die da oben“ kämpft.
       
       Es gab in den vergangenen Jahren einige Vorläufer dieser Art Wut. Wutbürger
       – der Spiegel hat das Wort 2010 erfunden und Sarrazins Anhänger damit
       gemeint. Aber auch die Demonstranten gegen Stuttgart 21, einen neuen
       Bahnhof in Stuttgart. Zehntausende gingen auf die Straße. Sie wollten den
       Juchtenkäfer beschützen, der die Platanen im Baugebiet liebt.
       
       Vor allem aber fühlten sie sich von Politik und Wirtschaft übergangen.
       Durch Stuttgart schallte es: „Lügenpack, Lügenpack!“ Die Kritik an der
       Eierlosig- und Politikhörigkeit regionaler Zeitungen führte gar zur
       Gründung der Kontext-Wochenzeitung, die seither samstags der taz beiliegt.
       
       Das Neue war: Hier standen nicht nur die üblichen Verdächtigen auf der
       Straße; die Castor-Gegner, die Ökos und Pazifisten. Sondern auch die, die
       früher mit Establishment gemeint gewesen waren. Die Häuslebauer. Die braven
       CDU-Wähler. Die bewahren wollten, was sie hatten. Nun demonstrierten sie
       selbst gegen das Establishment.
       
       Auf gewisse Weise verbindet das die wütenden Bürger mit der auf den ersten
       Blick so fernen Gruppe der sogenannten „besorgten Bürger“. Vor Kurzem hat
       das Institut der deutschen Wirtschaft eine Studie über die Anhängerschaft
       der AfD veröffentlicht – und schreibt von einer „Partei der sich
       ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdiener“. Diese stünden
       wirtschaftlich etwas besser da als der Rest, hätten aber große Angst vor
       der Zukunft.
       
       ## Erfahrungsberichte wurden eine wichtige Darstellungsform
       
       Die AfD entstand, nachdem Angela Merkel in der Eurokrise eine Politik
       betrieben hatte, die sie alternativlos nannte. Als Merkel im Sommer 2015
       die Grenzen öffnete, kamen lange gehegte Ängste mit einer Berichterstattung
       zusammen, in der die Begeisterung über die „Willkommenskultur“ überwog. Und
       rechte Medien konnten sich als Gegenöffentlichkeit darstellen.
       
       Ein entscheidender Punkt dafür, dass ihre Strategie verfängt, ist die
       Kritik, dass die eigene Erfahrung im Gesellschaftsgespräch keine Rolle zu
       spielen scheint.
       
       Erfahrungsberichte, oft Facebookposts, dutzendfach, hundertfach,
       tausendfach geteilt, wurden zu einer wichtigen Darstellungsform.
       Geschichten über die Angst vor Flüchtlingen, auf manchen Seiten auch
       „Fickilanten“ genannt, die deutsche Frauen vergewaltigen. Über solche, die
       ihre Heime selber anzünden.
       
       Betroffenenbericht nannten Linke solche Erfahrungstexte früher. Oskar Negt,
       der Sozialphilosoph, erklärte in einem Interview 1982, warum solche Texte
       mal als wesentlich für eine linke Gegenöffentlichkeit galten: „Jeder, der
       etwas zu sagen hatte, suggerierte durch seinen Erfahrungsbericht
       Authentizität, einfach dadurch, dass er es sagte.“ Das gilt heute wieder.
       
       Negt sagte auch: „Es war nicht die Frage, ob denn das nun
       verallgemeinerungsfähige Erfahrungen sind.“ Ein ähnliches Denken heißt
       jetzt „postfaktisch“ und gilt als Spezialdisziplin der Neuen Rechten, seit
       der erste AfD-Politiker argumentierte, mit Statistiken über die
       Kriminalität von Ausländern brauche man ihm nicht zu kommen. Entscheidend
       sei, was die Menschen fühlen.
       
       Das ist zum Haareraufen. War das Richtige von damals falsch? Ist das
       Falsche von heute richtig? Das Problem ist: Die These, die Neuen Rechten
       seien die Achtundsechziger von heute, ist eine strategisch gesetzte
       Erzählung.
       
       ## „Propaganda der Gutmenschen“
       
       Die Identitären haben in dieser Auslegung die Rolle der neuen Spontis
       angenommen; sie werfen bei einem Kongress zum Protestjahr 1968 Flugblätter
       auf verdutzte Teilnehmer und klettern auf das Brandenburger Tor –
       wohlwissend, dass Fotografen anrücken, wenn man zu solch spektakulären
       Mitteln greift. Die rechte Initiative „Ein Prozent für unser Land“
       betrachtet sich selbst als ein neues Greenpeace. Der rechte Intellektuelle
       Hans-Thomas Tillschneider behauptet, er werde für einen „neuen Dutschke“
       gehalten.
       
       Der Vergleich selbst ist eine Instrumentalisierung. Die Neuen Rechten bauen
       gezielt Brücken zwischen rechts und links, um anschlussfähig zu werden auch
       für jene, die nie mit der NPD marschieren würden. Das Ziel ist, dass ihre
       Themen dadurch salonfähig werden. Und es funktioniert.
       
       Den Medien wurde mittlerweile so oft vorgeworfen, sie würden nicht
       wahrheitsgemäß über die Kriminalität von Geflüchteten berichten, dass sie
       ganz nervös wurden. Rechte Medien hatten das wieder und wieder
       thematisiert. Und so zog die Debatte Kreise. Das Magazin Cicero schrieb
       kürzlich, „Political Correctness“ sei auch nicht besser als „Fake News“.
       
       Es sei „Propaganda der Gutmenschen“, wenn etwa eine Redaktion Nachrichten
       nicht bringe, „weil sie vielleicht ‚Fremdenfeindlichkeit‘ auslösen
       könnten“. Der Presserat hat nun gerade seine Richtlinien dazu geändert,
       wann die Herkunft von Straftätern genannt werden soll.
       
       Man sieht, worum es der rechten Gegenöffentlichkeit geht: Themen und
       Positionen in die Öffentlichkeit einzuspeisen. So wie es auch die taz
       machte. 1987, acht Jahre nach ihrer Gründung, sagte ein Redakteur, ihre
       Funktion bestehe darin, in andere Medien hineinzuwirken, sodass ihre Ideen
       aufgegriffen werden.
       
       ## Kein Berufsverbot für Andersdenkende
       
       Aber ein entscheidender Unterschied ist: Ziel von linker
       Gegenöffentlichkeit war es, die bestehenden Medien zu ergänzen, ihnen
       Stimmen hinzuzufügen. Meinungsmonopole zu verhindern. Zwar behaupten Medien
       der Neuen Rechten genau das heute auch von sich.
       
       Aber man sieht in Staaten wie Polen und Ungarn, wohin es führen kann, wenn
       die Autoritären mit ihren Strategien durchkommen: zu Meinungsmonopolen.
       Vielfältige Berichterstattung ist das, was abgeschafft werden soll.
       
       Bei einer rechten Kundgebung gegen die „verlogene Berichterstattung“ des
       Südwestrundfunks 2016 kündigten die Veranstalter an, „ehrlich und direkt“
       zurückzufunken. Klingt, kühl betrachtet, erst mal nach einer Vergrößerung
       der Vielfalt. Aber als die Fernsehreporter zu ihm kamen, rief der Redner:
       „Leute wie Sie gehören … Berufsverbot!“
       
       Rudi Dutschke nahm 1978, ein Jahr vor der Pressekonferenz mit dem
       chinesischen Ministerpräsidenten, an einem Tribunal zur Situation der
       Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland teil. Es war ein
       detailliert ausgearbeiteter Protest. Gegen Berufsverbote für
       Andersdenkende.
       
       15 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Raab
       
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 (DIR) Präsentation eines Buches über Merkel: Hass, sachlich hergeleitet
       
       Merkel-Abscheu für 19,99 Euro: Vor der Wahl präsentieren ein paar übliche
       Verdächtige ihr Anti-Kanzlerin-Buch. Mit dabei: Thilo Sarrazin.
       
 (DIR) Studie über Trump-Berichterstattung: So macht man Fake News
       
       Die ARD berichtet fast ausschließlich negativ über Trump, behaupteten diese
       Woche einige Medien. Das ist nicht wirklich richtig.
       
 (DIR) Medien und die AfD: Beziehungsstatus: kompliziert
       
       Der Umgang der AfD mit Medien ist speziell. Sie schließt kritische
       JournalistInnen von Parteiveranstaltungen aus und setzt auf eigene
       Medienkanäle.
       
 (DIR) Facebook klärt über Fake News auf: Soll das alles sein?
       
       Facebook schaltet in drei großen Tageszeitungen eine Anzeige mit Tipps, wie
       man Fake News erkennt. Liegt die Verantwortung damit bei den Nutzern?
       
 (DIR) Kolumne Macht: Nur ein beiläufiger Seitenhieb?
       
       Warum die taz keineswegs das „Zentralorgan“ der Grünen ist. Ein offener
       Brief an den Journalisten Albrecht von Lucke.
       
 (DIR) #RegrettingTrump in sozialen Medien: Trumps dumme Tweets
       
       Der US-Präsident soll die Twitterei runterschrauben, fordern manche seiner
       Fans. Als ob die Tweets das Problem wären und nicht seine Politik.
       
 (DIR) Kolumne „Teilnehmende Beobachtung“: Auf die Presse!
       
       Fake News, Lügenpresse & Co: taz-Kolumnistin Julia Boek musste in letzter
       Zeit viel einstecken und kritisiert jetzt zurück – und schwingt den
       moralischen Holzhammer
       
 (DIR) ZDF-Journalistin in der „Jungen Freiheit“: Reden mit den Rechten
       
       Dunja Hayali gibt der rechten Wochenzeitung „Junge Freiheit“ ein harmloses
       Interview. Außer dem Blatt hat davon niemand etwas.
       
 (DIR) Kolumne Right Trash: Dieser Hass macht krank
       
       Wie ist es so, wenn man nur „Junge Freiheit“ und „Breitbart“ liest – und
       selbst Klatsch und Tratsch daher bezieht? Ein Selbstversuch.