# taz.de -- Drohmail-Affäre „NSU 2.0“: Aus dem Dunkel
       
       > Der Berliner Alexander M. soll als „NSU 2.0“ rassistische Drohschreiben
       > verschickt haben. Beim Prozessauftakt kündigt er seine Aussage an.
       
 (IMG) Bild: Mit dieser Geste betritt der Angeklagte am Mittwoch das Gericht
       
       FRANKFURT/MAIN taz | Als Alexander M. am Mittwoch zur Anklagebank im Saal
       165 des Landgerichts Frankfurt am Main geführt wird, in Funktionsjacke und
       rotem Sweater, streckt er noch in Handschellen mit beiden Händen den
       Opferanwältinnen und Fotograf:innen beide Mittelfinger entgegen. Seine
       Verteidiger schauen weg. Alexander M. macht klar, was er von dieser
       Verhandlung hält: nichts.
       
       Ein Wachtmeister nimmt ihm die Handschellen ab, der Angeklagte atmet schwer
       unter der Schutzmaske, er scheint aufgeregt. Dann setzt er sich,
       verschränkt die Arme: Alexander Horst M., 54 Jahre, aus Berlin,
       alleinstehend, seit Jahren erwerbslos, vielfach vorbestraft.
       
       Das also könnte das Gesicht des Hasses sein. Zumindest sieht es die Anklage
       gegen ihn so. Laut der ist Alexander M. der Verfasser von 116 wüsten
       Drohschreiben, in denen ein selbsternannter „NSU 2.0“ fast drei Jahre lang
       zumeist Engagierte gegen Rassismus quer durch die Republik beschimpfte. Die
       E-Mails, SMS und Faxe erreichten die NSU-Opfer-Anwält:innen [1][Seda
       Başay-Yıldız] und Mehmet Daimagüler, die Comedians İdil Baydar und [2][Jan
       Böhmermann], die Politiker:innen Janine Wissler, Martina Renner (beide
       Linke), Ricarda Lang (Grüne) und die Autor:innen Hengameh Yaghoobifarah
       und Deniz Yücel.
       
       Als „Scheißtürken“, „Volksschädling“ oder „Abfallprodukte“ wurden die
       Angeschriebenen von dem Verfasser beschimpft, der sich „SS
       Obersturmbannführer“ nannte. Ihnen wurde angedroht, sie würden „mit
       barbarischer sadistischer Härte abgeschlachtet“, ihnen würde der „Kopf
       abgerissen“. Verschickt wurden auch Bombendrohungen, an Gerichte oder die
       Walter-Lübcke-Schule in Hessen. Im Fall von Seda Başay-Yıldız wurde am Ende
       auch ein öffentlicher Aufruf zu ihrer Tötung ins Internet gestellt, samt
       Nennung ihrer Adresse. Dazu hieß es immer wieder: „Heil Hitler! NSU 2.0 Der
       Führer“.
       
       All dies endete erst, als am 3. Mai 2021 Alexander M. in seiner Wohnung im
       Berliner Stadtteil Wedding [3][festgenommen wurde] – als Beschuldigter für
       die „NSU 2.0“-Drohserie.
       
       ## Vorwürfe zurückgewiesen
       
       Am Mittwoch hat der Prozess gegen Alexander M. begonnen, in dem Frankfurter
       Gerichtssaal, in dem auch der Mord an Walter Lübcke verhandelt wurde.
       Alexander M. soll schon nach seiner Festnahme die Vorwürfe zurückgewiesen
       haben. Später schrieb er an mehrere Gerichte und beschwerte sich über seine
       Inhaftierung. Eine Vernehmung aber lehnte er ab.
       
       Im Saal 165 spricht Alexander M. am Morgen zumindest kurz. Von Richterin
       Corinna Distler nach seinen Personalien gefragt, gibt er knapp seinen Namen
       und Geburtsdatum an, die Adresse verweigert er. „Ich gebe keine privaten
       Daten in öffentlicher Sitzung an“, blafft er. Es seien ja auch Journalisten
       da. „Steht ja in der Akte drinne.“
       
       Fast drei Stunden lang verlesen die Staatsanwälte Sinan Akdogan und
       Patricia Neudeck die Anklage. Sie zitieren Drohschreiben um Drohschreiben,
       Schmähung um Schmähung. Es sind unflätigste rassistische Beschimpfungen,
       teils im NS-Jargon, mit expliziten Todesdrohungen. M. habe sich der
       Volksverhetzung, der Störung des öffentlichen Friedens und der öffentlichen
       Aufforderung zu Straftaten schuldig gemacht, sagen die Ankläger. Alexander
       M. folgt mit verschränkten Armen, es scheint ihn wenig zu interessieren.
       Zwischendrin blättert er in einem Gesetzbuch, bittet um eine Pinkelpause.
       
       Die NSU-2.0-Drohserie geht über Alexander M. hinaus. Bis heute ist sie auch
       eine Polizeiaffäre. Im Fokus steht dabei auch ein Mann, der nicht angeklagt
       ist: [4][Polizist Johannes S].
       
       ## Polizeibeamte involviert?
       
       Auffällig war früh, dass etliche „NSU 2.0“-Schreiben auch private Daten
       der Angeschriebenen enthielten – Adressen, Handynummern, Namen von
       Angehörigen. In den Fällen von Seda Başay-Yıldız, İdil Baydar und Janine
       Wissler waren die Daten von Polizeicomputern abgerufen worden, auf Revieren
       in Frankfurt am Main, Wiesbaden und Berlin. Das machte die Sache zu einem
       Politikum. Der ungeheure Verdacht: [5][Steckten Polizeibeamte dahinter]?
       
       Der Fall belastete die hessische Polizei schwer. Ein Sonderermittler wurde
       eingesetzt, Polizeipräsident Udo Münch trat zurück. Er beschäftigte den
       Bundestag, den hessischen Landtag, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
       reiste an.
       
       Bis Alexander M. verhaftet wurde. Und die Staatsanwaltschaft bekannt gab,
       dass dieser als Einzeltäter anzusehen sei: Er habe wohl durch fingierte
       Anrufe bei der Polizei, bei denen er sich als Behördenangestellter ausgab,
       die Privatdaten erlangt. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) erklärte,
       die Opfer und Polizei könnten „[6][aufatmen]“, die Gewerkschaft der Polizei
       forderte eine Entschuldigung für die „haltlosen“ Vorwürfe gegen die
       Polizei.
       
       Aber Seda Başay-Yıldız, die in dem Prozess Nebenklägerin ist, und andere
       Betroffene haben weiter Zweifel. Im Gericht ist sie am Mittwoch nicht, sie
       schickt eine Anwältin. Sie will dem Angeklagten keine Genugtuung gönnen.
       Nach den Drohungen musste Başay-Yıldız umziehen, ihre neue Wohnung
       absichern, sie stand unter Polizeischutz. Auch die Politikerin Martina
       Renner ist Nebenklägerin und schickte eine Anwältin.
       
       ## Betroffene zweifeln
       
       Schon im Vorfeld aber sagte Başay-Yıldız der taz, für sie sei bis heute
       nicht ausgeräumt, dass Polizeibeamte an der Drohserie beteiligt waren. „Ich
       glaube, dass Polizisten zumindest an dem ersten Drohfax an mich aktiv
       mitgewirkt haben“, sagt Başay-Yıldız. „Dass die Beamten ausgetrickst
       wurden, ist eine Behauptung des vom Innenminister eingesetzten
       Sonderermittlers. Und die ist in meinem Fall auch noch ziemlich
       realitätsfern.“
       
       Angeklagt aber ist nur Alexander M. Das Bild, dass die Ermittler von ihm
       zeichnen, ist das eines querulantischen Einzelgängers. Geboren wurde er in
       Ostberlin, wuchs bei seiner Mutter auf, die Schule verlief holprig, er
       machte eine Ausbildung zum Informatiker. Zuletzt lebte M. allein und seit
       Jahren erwerbslos in einer Einzimmerwohnung im Berliner Wedding, bei seiner
       Festnahme notierten Beamte einen vermüllten Zustand. Kontakt soll er fast
       nur zu seiner Mutter gehabt haben. Vor Gericht gab er schon vor Jahren an,
       er sei ein Einzelgänger, der den ganzen Tag vorm Rechner sitze.
       
       Der 54-Jährige ist vielfach vorbestraft, saß bereits mehrere Jahre in Haft.
       Verurteilt wurde er etwa wegen Beleidigung, Bedrohung, Körperverletzung,
       Hehlerei oder Amtsanmaßung. Ein psychiatrisches Gutachten von 2005
       bescheinigte ihm eine Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen,
       dissozialen Zügen. Und M. kennt sich laut Ermittlern gut mit der NS-Zeit
       aus, aus familiärer Erfahrung: Sein Vater soll Mitglied des
       SS-Totenkopfverbandes Thüringen gewesen sein, damals am KZ Buchenwald
       stationiert. Die Anklage sieht auch das als Indiz dafür, dass Alexander M.
       der selbsternannte „SS Obersturmbannführer“ der NSU-2.0-Schreiben ist.
       
       Die große Lücke in der Anklage aber bleibt: Wie soll Alexander M. an die
       Polizeidaten gelangt sein? Gleich das erste Drohschreiben an Seda
       Başay-Yıldız wirft Fragen auf. Dieses ging am 2. August 2018 um 15.41 Uhr
       als Onlinefax bei der Kanzlei von Başay-Yıldız ein, verschlüsselt versendet
       über einen Server des Tor-Netzwerks. Die Frankfurterin war damals nicht nur
       als NSU-Opfer-Anwältin bekannt, sondern auch für die Vertretung eines
       Islamisten. „Miese Türkensau“, beschimpfte sie der Absender, der sich „Uwe
       Böhnhardt“ nannte, nach dem NSU-Terroristen. „Du machst Deutschland nicht
       fertig. Verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst, du
       Schwein.“ Es folgte die Nennung von Başay-Yıldız’ Privatadresse und der
       Name ihrer damals zweijährigen Tochter, beide öffentlich nicht bekannt. Und
       die Drohung, ihre Tochter zu „schlachten“. Am Ende das Kürzel: „NSU 2.0“.
       
       Am gleichen Abend erschien auf dem linken Indymedia-Onlineportal ein
       Kommentar zu Başay-Yıldız, auch dort mit ihrer Adresse und dem Aufruf, ihr
       „jede Menge Ärger“ zu machen.
       
       ## Neue Qualität
       
       Başay-Yıldız war Beleidigungen gewohnt. Das aber war neu – sie informierte
       das hessische Landeskriminalamt. Was sie da noch nicht wusste: Ihre
       Privatdaten waren, rund anderthalb Stunden bevor sie das Drohfax erhielt,
       auf einem Dienstrechner im 1. Polizeirevier Frankfurt am Main abgerufen
       worden. Und das wesentlich akribischer als bisher bekannt, wie die taz
       zuletzt offenlegte: Mit insgesamt 17 Abfragen wurde nach Başay-Yıldız in
       drei Datenbanken gesucht – nach ihrer Adresse, den dort gemeldeten Personen
       und deren Geburtsdaten oder dem Auftauchen der 46-Jährigen als Beschuldigte
       oder Geschädigte von Straftaten. Sechs Minuten lang.
       
       Başay-Yıldız ist überzeugt: „Eine solch detaillierte Abfrage ist auf
       telefonischen Zuruf sowohl faktisch als auch zeitlich ausgeschlossen. Das
       wirkt vielmehr, als hätten die Beamten all ihre Daten durchsucht, um
       gezielt etwas über mich herauszufinden.“
       
       Tatsächlich fiel der Verdacht der Ermittler, nachdem diese auf die
       Datenabfrage im 1. Revier in Frankfurt stießen, zuerst auf Polizeibeamte.
       An dem Rechner, an dem die Abfrage stattfand, war eine junge Beamtin
       eingeloggt, Miriam D. Sie soll später angegeben haben, sich an die Abfrage
       nicht zu erinnern – sie aber auch nicht ausschließen zu können. Das
       Problem: Der Dienstrechner war über Stunden entsperrt, mehrere Beamte
       konnten ihn benutzen, ein Zettel mit Passwort lag daneben. Wer letztlich
       die Abfrage zu Başay-Yıldız tätigte, konnten die Ermittler bis heute nicht
       herausfinden. Auch die fünf weiteren Polizisten, die damals im Revier im
       Dienst waren, sollen alle behauptet haben, sich an den Tagesverlauf und die
       Abfrage nicht erinnern zu können.
       
       Was die Ermittler aber entdeckten, war eine Whatsapp-Gruppe namens
       „Itiotentreff“ auf dem Handy von Miriam D. Sechs Beamte tauschten sich dort
       aus, inklusive rechtsextremer Sprüche und Hitlerbilder. Die
       Staatsanwaltschaft bewertete Dutzende Beiträge als strafrechtlich relevant.
       Und auch einer der Teilnehmer der Chatgruppe rückte nun in den Verdacht:
       Polizist Johannes S. Er fiel im Chat mit derben Beiträgen auf. Er war am
       Tag des ersten Drohfax an Başay-Yıldız im Dienst auf dem Frankfurter
       Revier. Er soll sich mit Tor-Verschlüsselung auskennen, einen Vortrag
       darüber bei der Polizei gehalten haben. Und er soll im Internet nach
       „Yildiz“ gesucht haben.
       
       ## Verdächtiger entlastet
       
       Johannes S. wurde daraufhin überwacht – und vermeintlich entlastet. Weil
       festgestellt wurde, dass er beim Versand eines späteren „NSU
       2.0“-Schreibens anderweitig beschäftigt war. Offen aber bleibt, ob das
       Schreiben nicht auch zeitversetzt verschickt worden sein könnte. Sein
       Alibi, wonach er zum Zeitpunkt des ersten Drohfax an Başay-Yıldız auswärts
       auf einem Einsatz war, stimmt wohl nicht: Ermittler rekonstruierten, dass
       der Einsatz erst später begann.
       
       Die „NSU 2.0“-Serie ging, nach einer Pause, ab Dezember 2018 erst richtig
       los. In einem weiteren Schreiben an Başay-Yıldız wurden auch ihre Eltern
       namentlich bedroht, auch sie öffentlich nicht bekannt. In einem anderen
       stand Başay-Yıldız’ neue Adresse – obwohl diese mit einem Sperrvermerk als
       geheim eingestuft war. Und auch weitere Personen erhielten nun die
       Schreiben, meist nachdem Medien über sie berichtet hatten. Wie „getriggert“
       habe der Verfasser auf die Berichte reagiert, notierten Ermittler.
       
       Und nun kamen die Schreiben alle von derselben E-Mail-Adresse des
       russischen Anbieters Yandex, verschickt nach Tor-verschlüsselten Logins. Zu
       den privaten Daten stellten die Ermittler fest, dass sich einige zwar mit
       längeren Suchen im Internet finden ließen – in zehn Fällen aber nicht. Und
       in drei davon – Başay-Yıldız, Baydar, Wissler – gab es eben zuvor die
       Abfragen auf Polizeirevieren. Einen dienstlichen Grund dafür fanden die
       Ermittler nicht.
       
       Aber der Drohschreiber blieb ungefasst. Auch eine eigens von den Ermittlern
       aufgesetzte, fingierte Internetseite, die einen Tor-Zugriff entschlüsselte
       hätte, blieb fruchtlos. Ebenso wie ein Rechtshilfeersuchen an Yandex, das
       erst nach Monaten beantwortet wurde. Bis ein Schach-Onlineportal den
       Durchbruch brachte.
       
       ## Die Festnahme
       
       Zuvor schon hatten die Ermittler auf dem rechtsextremen Onlineportal
       PI-News zwei Nutzer namens „Obersimulant“ und „Sudel-Ede“ entdeckt, die
       ähnliche Formulierungen wie der „NSU 2.0“-Schreiber verwendeten –
       Sprachgutachten bestätigten das. Nun fanden sie im Frühjahr 2021 die
       gleichen Usernamen auch auf einem Schachportal wieder, die dort teils
       rassistisch ausfällig wurden. Von einem dieser Accounts führten eine
       IP-Adresse und Bestandsdaten schließlich zu Alexander M. – er hatte die
       Schachseite nicht Tor-verschlüsselt genutzt.
       
       Ab Mitte April 2021 wurde Alexander M. observiert, am 3. Mai schließlich
       festgenommen – bewusst abends, als der 54-Jährige an seinem eingeschalteten
       PC saß und diesen nicht mehr sperren konnte. M. soll noch mit einer
       Schreckschusswaffe die Beamten bedroht haben. Auch für die Bedrohung muss
       er sich nun verantworten. Und für zwei verbotene Würgehölzer und
       Kinderpornografie, die in seiner Wohnung gefunden wurden.
       
       Dass Alexander M. die Vorwürfe bestreitet, beunruhigt die Ankläger nicht.
       Seine Beschwerden gegen seine Inhaftierungen wiesen Gerichte bisher ab. Und
       die Ankläger haben tatsächlich einiges gegen Alexander M. in der Hand.
       
       Da sind seine einschlägigen Vorstrafen. In einem Berliner Sozialamt soll er
       schon vor Jahren einem Mann mit einer Gaspistole ins Gesicht geschossen, in
       einem Arbeitsamt einen Mitarbeiter mit Reizgas besprüht haben. Zudem soll
       er andere mit Drohanrufen überzogen haben. So etwa den Leiter der JVA
       Moabit, den er laut eines Gerichtsurteils als „perverses Schwein“
       beschimpfte und drohte, ihn umzubringen.
       
       ## Schwerwiegende Indizien
       
       Schwerwiegender aber: Auf M.s Rechner fanden sich mehrere
       NSU-2.0-Drohschreiben oder Fragmente dazu. Dazu konnten die Ermittler
       nachweisen, dass Alexander M. Zugang zum Yandex-Postfach hatte, von dem aus
       die Schreiben verschickt wurden. Auf seinem PC fanden sich auch Log-ins zu
       PI-News und dem Schachportal – und Suchanfragen zu den Bedrohten, vor
       allem Başay-Yıldız.
       
       Die Anklage verweist darauf, dass sich M. bereits in der Vergangenheit bei
       einer Bank als Polizist ausgegeben und die Daten eines Kunden angefordert
       habe. Dem Berliner Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten
       schrieb er 2019, wie leicht es sei, sich als Mitarbeiter auszugeben und so
       bei Ämtern an Daten zu kommen. Auf seinem PC fand sich ein Hinweis zu einem
       Anruf bei einer Polizeistation, bei dem er sich als Staatsanwalt ausgegeben
       haben soll.
       
       Auch die taz erhielt im August 2018 – kurz nach dem ersten Drohschreiben an
       Başay-Yıldız – zwei Anrufe, die nun in Ermittlungspapieren auftauchen. Der
       Anrufer gab sich als Polizist aus dem Wedding aus, der vom
       taz-Geschäftsführer und der Chefredakteurin die Handynummer der
       Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah verlangte – was abgelehnt wurde.
       Darauf drohte der Anrufer: „Ihrer Kollegin blüht noch einiges.“ Schon kurz
       zuvor war auch Yaghoobifarahs Vater von einem Unbekannten angerufen worden,
       der nach der Handynummer und Adresse fragte.
       
       Für die Ermittler sind dies Indizien genug, dass Alexander M. so auch bei
       den Polizeiwachen vorging. „Der anfängliche Verdacht, Polizeibeamte könnten
       in strafrechtlich relevanter Weise an der Datenabfrage beteiligt gewesen
       sein, hat sich nicht bestätigt“, erklärt die Frankfurter
       Staatsanwaltschaft.
       
       ## Viele Fragen offen
       
       Für Seda Başay-Yıldız ist das keineswegs so klar. Sie verweist darauf, dass
       auch im Nachhinein keiner der befragten Frankfurter Polizeibeamten von
       solch fingierten Anrufen berichtet hat. Das Vorgehen passe auch nicht zu
       der sehr ausführlichen Suche zu ihrem Namen mit gleich 17 Abfragen in drei
       Datenbanken. „So reagiert man doch nicht auf einen telefonischen Zuruf.
       Noch dazu von einer Person, die man nicht kennt“, sagt Başay-Yıldız.
       
       Für sie bleibt auch ungeklärt, wer am Abend des ersten Datenabrufs den
       Indymedia-Kommentar zu ihr veröffentlichte – in der Anklage gegen Alexander
       M. taucht er nicht auf. Wer war es dann? Unerklärlich ist für Başay-Yıldız
       auch, wie der Drohschreiber an ihre neue, geheime Adresse kam. Auch diese
       soll am Telefon weitergegeben worden sein – trotz des damaligen
       Sperrvermerks und längst bundesweiten Wirbels um den Fall? „Das passt alles
       nicht zusammen.“
       
       Die Anwältin ist mit ihren Zweifeln nicht allein. In einer Erklärung kurz
       vor Prozessbeginn nennen es auch die ebenfalls bedrohten İdil Baydar,
       Hengameh Yaghoobifarah und die Linken-Politikerinnen Wissler, Renner und
       Anne Helm einen „Skandal“, dass sich die Ermittlungen zuletzt auf einen
       Einzeltäter konzentrierten. „Der NSU-2.0-Komplex ist mit der Festnahme des
       Angeklagten nicht aufgeklärt.“ Vielmehr gebe es Hinweise auf eine
       „mindestens gezielte Datenweitergabe aus Polizeikreisen“, zu denen
       „nachdrücklich“ ermittelt werde müsse.
       
       Tatsächlich scheint sich auch die Staatsanwaltschaft Frankfurt mit ihrer
       Einzeltäterthese nicht sicher zu sein. Sie bestätigt der taz, dass
       zumindest gegen Johannes S. und Miriam D. weiterhin Verfahren wegen
       Geheimnisverrats laufen, zu der Datenweitergabe zu Başay-Yıldız. Bislang
       hätten die Ermittlungen aber keinen hinreichenden Tatverdacht ergeben, sagt
       eine Sprecherin. Man wolle noch abwarten, ob der Prozess gegen Alexander M.
       neue Erkenntnisse bringe.
       
       ## Ermittlungen laufen weiter
       
       Gegen Johannes S. und Miriam D. laufen auch immer noch Ermittlungen wegen
       der „Itiotentreff“-Chatgruppe, ebenso gegen die vier weiteren beteiligten
       Polizisten. Einer verließ inzwischen freiwillig den Polizeidienst. Die
       anderen fünf sind bis heute – seit dreieinhalb Jahren – suspendiert.
       
       Başay-Yıldız will darauf drängen, dass die Frage, ob und wie die Polizisten
       an den Drohungen gegen sie beteiligt waren, im Prozess aufgeklärt wird.
       „Die Drohungen des Angeklagten sind ein Problem. Das größere Problem aber
       bleibt, dass er oder andere dafür interne Polizeidaten von mir verwenden
       konnten, die zielgerichtet abgerufen wurden. Das gibt dem Ganzen eine
       völlig andere Dimension“, sagt Başay-Yıldız.
       
       Auch Alexander M. setzt offenbar Hoffnungen auf den Prozess. Nach seiner
       Verhaftung soll er angekündigt haben, im Prozess zu beweisen, dass er
       unschuldig sei. Nach der Anklageverlesung am Mittwoch legt er sich bereits
       eine Erklärung bereit. Ob er denn in diesem Prozess aussagen wolle, fragt
       Richterin Distler. „Ja, es kommt eine umfangreiche Einlassung von mir.“ Er
       wolle sofort beginnen. Die Anklage könne er „so nicht stehen lassen“. Sein
       Verteidiger aber fällt M. ins Wort, dies wolle man erst am zweiten
       Prozesstag am Donnerstag tun. Alexander M. widerspricht: „Ich möchte es
       gerne jetzt verlesen. Ich bin hochmotiviert.“ Doch auch Richterin Distler
       will die Aussage lieber am Folgetag hören.
       
       Der Donnerstag war bereits für eine mögliche Aussage von Alexander M.
       reserviert, er wird viel Zeit bekommen. Und offenbar will sich der
       54-Jährige dabei auch nicht von seinen Anwälten aufhalten lassen.
       Vielleicht kann er dann beantworten, wie er an die Polizeidaten kam. Und,
       warum seit seiner Festnahme keine „NSU 2.0“-Drohschreiben von der
       Yandex-Adresse mehr auftauchten.
       
       16 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Rechte Drohschreibenserie: War der „NSU 2.0“ wirklich allein?
       
       Im Prozess zu der rechten Drohserie gilt Alexander M. als Einzeltäter. Doch
       es gibt Hinweise, dass er mit einem anderen Drohschreiber kooperierte.
       
 (DIR) Prozess um NSU 2.0-Drohschreiben: Die Angst bleibt
       
       Drei Jahre lang erhielt die NSU-Opferanwältin Seda Başay-Yıldız
       rassistische Drohbriefe. Vor Gericht sagte sie aus, wie das ihren Alltag
       veränderte.
       
 (DIR) Drohmail-Affäre „NSU 2.0“: Angeklagter weist Vorwürfe zurück
       
       Der Beschuldigte Berliner bestreitet, 116 Drohschreiben verschickt zu haben
       – eine Darknetgruppe stecke dahinter. Die Indizien sprechen gegen ihn.
       
 (DIR) Vor Prozessstart zu NSU 2.0-Drohserie: Doch Polizisten beteiligt?
       
       Am Mittwoch beginnt der Prozess zur „NSU 2.0“-Drohserie. Nun wird bekannt:
       Die Polizeiabfragen zu Anwältin Başay-Yıldız waren weit umfangreicher.
       
 (DIR) Festnahme im „NSU 2.0“-Fall: „Kein Grund für Entwarnung“
       
       Nach der Festnahme des „NSU 2.0“-Verdächtigen äußern sich Betroffene. Sie
       zeigen sich „äußerst irritiert“ über Hessens Innenminister.
       
 (DIR) taz-Recherche zu Drohmails: Wer steckt hinter „NSU 2.0“?
       
       Seit Jahren bekommen Menschen, die sich gegen rechts stellen, Morddrohungen
       vom „NSU 2.0“. Wer verschickt sie? Die Spur führt vor die Haustür eines
       Polizisten.