# taz.de -- Ein Jahr Giorgia Meloni: Berlusconis Erbin
       
       > Italiens Regierungschefin verfolgt eine extrem rechte Agenda, die nicht
       > neu ist. Doch ist sie die schärfere Ideologin – und taktisch versiert.
       
 (IMG) Bild: Premierministerin Giorgia Meloni vor ihrem Regierungssitz Palazzo Chigi in Rom
       
       Ganz Europa schreckte vor einem Jahr auf, [1][als am 25. September Giorgia
       Meloni in Italien die Wahlen gewann], als sie genau einen Monat später zur
       Regierungschefin gekürt wurde, in einer Koalition, in der ihre
       postfaschistische Partei Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens) mit 26
       Prozent der Stimmen die klar dominierende Kraft ist.
       
       Es erscheint paradox, doch in Italien selbst war das Erschrecken auch in
       den Reihen der Linken weit geringer als jenseits der Grenzen. Dass da die
       Chefin einer Partei, deren Traditionslinie zurückführt zum
       Mussolini-Faschismus, ans Ruder kam, eine stramm nationalistische,
       ultrakonservative Politikerin zudem, eine Gesinnungsgenossin der Orbáns und
       Kaczyńskis in Ungarn und Polen: Dies wurde in Italien selbst keineswegs als
       tiefer Einschnitt, als epochale Wende wahrgenommen.
       
       Vorneweg liegt dies daran, dass die – heute von Meloni verkörperte – Wende
       schon lange vorher stattgefunden hatte: [2][unter Silvio Berlusconi]. Egal
       ob wir das Verhältnis zu Faschismus und Antifaschismus, die Position zu den
       Bürgerrechten, die Haltung gegenüber der liberalen Demokratie oder auch die
       zu Steuern auf der einen, sozialstaatlichen Leistungen auf der anderen
       Seite betrachten: Meloni macht im Kern dort weiter, wo Berlusconi aufgehört
       hatte.
       
       In die Politik war der Medienunternehmer 1994 eingestiegen. In jenem Jahr
       regierte er nur für wenige Monate, doch dann war er wieder in den Jahren
       2001 bis 2006 sowie von 2008 bis 2011 an der Macht. Errungen hatte er sie
       in einer Koalition seiner Forza Italia, der rechtspopulistischen Lega Nord
       – und jener sich gerade erst zum Postfaschismus wendenden, bis dato offen
       faschistisch aufgetretenen Partei Alleanza Nazionale, auf die später
       Melonis FdI folgen sollte.
       
       ## Wie Berlusconi selbst den Antifaschismus schleifte
       
       Schon die Tatsache, dass Berlusconi jene postfaschistische Truppe in seine
       Koalition aufnahm, stellte den ersten großen Tabubruch dar. Bis 1994 war
       der Antifaschismus so etwas wie Italiens Staatsräson gewesen. Berlusconi
       selbst übte sich fleißig darin, den Antifaschismus zu schleifen. Am 25.
       April zum Beispiel, dem Tag der Befreiung von Nazibesetzern und Faschisten,
       fehlte er regelmäßig auf den staatlichen Gedenkfeiern, war er leider
       „unabkömmlich“ wegen „privater Termine“.
       
       Dass der Duce viele seiner politischen Gegner auf einsame Inseln in die
       Verbannung schickte, nötigte ihm bloß ein Schulterzucken ab. Seinen Feinden
       habe Mussolini da doch bloß eine Sommerfrische spendiert, erklärte er und
       fügte faktenwidrig hinzu, Mussolini habe „niemals jemanden umgebracht“.
       Ausgerechnet am Tag der Erinnerung, ausgerechnet zur Eröffnung [3][des
       Shoah-Museums in Mailand] hatte er 2013 dann mitzuteilen, der Duce habe
       „auch Gutes getan“.
       
       Doch nicht nur im Gestern der Diskursverschiebung weg vom Antifaschismus,
       sondern auch im Heute der Haltung zu den Bürgerrechten war das
       rechtspopulistische Berlusconi-Bündnis völlig auf einer Linie mit der
       heutigen Meloni-Koalition. Zum Beispiel trommelte es im Jahr 2007 im Verein
       mit der katholischen Kirche für den „Family Day“, an dem Hunderttausende
       Demonstrant*innen in Rom zusammenkamen, um gegen das geplante Gesetz
       für eingetragene Lebenspartnerschaften von gleichgeschlechtlichen Paaren zu
       protestieren und zu predigen, Familie sei „Vater-Mutter-Kind“. Ebenjene
       Predigt hören wir auch heute wieder von Meloni.
       
       ## Die Stärkung der Exekutive
       
       „Liberal“ nannte sich Berlusconi gerne, doch schon wegen der vielen gegen
       ihn laufenden Prozesse hatte er es nicht besonders mit der Gewaltenteilung,
       suchte er die Justiz mit zahlreichen Gesetzesänderungen zu zähmen. Viele
       dieser Reformen finden sich jetzt auch wieder in Melonis Regierungsagenda.
       Dort steht die „Stärkung der Exekutive“ an prominentem Platz. Berlusconi
       träumte von einem Präsidialregime, Meloni will die Direktwahl des
       Ministerpräsidenten durchsetzen.
       
       Als direkte Erbin Berlusconis darf sich Giorgia Meloni auch im Kampf für
       die Kernwählergruppe der italienischen Rechten, die Unternehmer*innen
       und Freiberufler*innen, sehen. Sie verheimlichen nach Auskunft der
       Finanzbehörden etwa 70 Prozent ihrer Einkommen. Berlusconi aber sprang
       ihnen zur Seite, erließ eine Steueramnestie nach der anderen, geißelte
       Abgaben über 33 Prozent des Einkommens als „unmoralisch“.
       
       Nicht viel anders redet und handelt Meloni. Sie wetterte gegen die Steuern
       als „staatliches Schutzgeld“ und legte auch sogleich eine Steueramnestie
       auf. Weniger tolerant ist sie gegenüber armen Leuten: Ohne großes
       Federlesens strich sie die Grundsicherung, und entschieden kämpft sie gegen
       einen gesetzlichen Mindestlohn.
       
       ## Gott, Vaterland, Familie
       
       Berlusconi hatte Italien mit seiner Linie vor allem politische,
       wirtschaftliche und gesellschaftliche Stagnation beschert. Ob Meloni sich
       mit einem solchen Resultat bescheiden wird, bleibt dahingestellt. Denn in
       einem zentralen Punkt unterscheidet sich Giorgia von Silvio: Ihm ging es
       vor allem um seine eigenen Interessen, sie dagegen ist eine hartgesottene
       rechte Ideologin, die – hier ganz in der Tradition des Faschismus – Italien
       wieder im Zeichen von „Gott, Vaterland, Familie“ sehen will.
       
       Gewiss, praktisch hat sie bisher nicht viel unternommen, um einen echten
       Rollback auf den Weg zu bringen, um etwa die Bürgerrechte einzuschränken,
       die Abtreibung zu verbieten, die Presse gleichzuschalten, die Justiz an die
       Leine zu legen, die Opposition mundtot zu machen. Solche Versuche zu
       starten, verbietet ihr schon die politische Intelligenz, über die sie
       zweifellos verfügt. Meloni weiß nur zu gut, dass sie vorerst geräuschlos
       regieren muss, schlicht weil Italien die EU braucht.
       
       Dies als sichere Gewähr auch für die Zukunft zu nehmen, wäre jedoch
       voreilig. Ein Rechtsruck bei den Europawahlen 2024, womöglich gar ein
       Wahlsieg Donald Trumps in den USA in gut einem Jahr: Dann sähen die Dinge
       auch für Giorgia Meloni völlig anders aus, und dann womöglich käme die
       Postfaschistin in ihr erst richtig zum Zuge.
       
       19 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Fratelli-dItalia-werden-staerkste-Kraft/!5883609
 (DIR) [2] /Italiens-Ex-Premier-gestorben/!5939811
 (DIR) [3] https://www.memorialeshoah.it/?lang=en
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Braun
       
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