# taz.de -- Gedenken an Genozide in Bosnien: Die Vergangenheit ist nie vergangen
       
       > Vor 25 Jahren endete die Belagerung Sarajevos durch serbische Truppen mit
       > 11.541 Todesopfern. Warum wird dieses Verbrechen bis heute kaum beachtet?
       
 (IMG) Bild: Trauer um die die Opfer des Genozids am Srebrenica–Potočari-Denkmal
       
       Die Belagerung Sarajevos und die Genozide an Bosniaken fehlen fast komplett
       in deutschen Geschichtsbüchern, Medien, Gesprächen. Nur wenige Autostunden
       von Süddeutschland entfernt fand von 1992 bis 1995 der letzte Genozid gegen
       Bosniaken, also bosnische Muslime statt.
       
       Doch obwohl so oft über Muslime geredet wird, [1][wird der Genozid fast nie
       mit erwähnt]. Auch nicht, dass die größten Terroristen Europas keine
       muslimischen Flüchtlinge, sondern die europäischen Christen Radovan
       Karadžić und Ratko Mladić sind, verurteilt unter Anderem wegen Terror gegen
       die Bürger Sarajevos.
       
       Serbische Nationalisten fordern von Bosniaken, sich von der Vergangenheit
       abzuwenden. Doch wie der bosniakische Dichter Abdulah Sidran sagte: „Unsere
       Vergangenheit ist nie vergangen.“ Der Genozid und seine Folgen sind bis
       heute weltweit zu spüren.
       
       Ende 1991 drohte der Völkermörder Karadžić, damals Präsident der Serbischen
       Demokratischen Partei, im Parlament offen mit der militärischen
       [2][Vernichtung des „muslimischen Volkes“]. Trotz – oder eher wegen –
       solcher Drohungen blieb den Bürgern Bosniens nichts anderes übrig, als für
       die Unabhängigkeit von Jugoslawien zu wählen. Daraufhin schickte der
       damalige serbische Präsident, Slobodan Milošević, die jugoslawische Armee
       in das bereits unabhängige Bosnien. Friedensdemonstrationen wurden
       niedergeschossen und Bosniens Präsident gekidnappt.
       
       ## Endlich leben, ohne erschossen zu werden
       
       Sarajevo wurde Opfer der längsten Belagerung einer Hauptstadt in der
       modernen Geschichte: vier Jahre Terror, Hunger, Folter. Eine halbe Million
       Bomben und Projektile zerstörten die Metropole. Über 11.541 Menschen,
       darunter 1.601 Kinder, wurden ermordet, 50.000 verwundet. Die gesamte Stadt
       war mit einem 62 Kilometer langen Gürtel aus Panzern, Raketenwerfern,
       Scharfschützen umzingelt. Sarajevo liegt in einem Tal, sodass die Mörder
       auf den Bergen perfekte Sicht auf die ihnen ausgelieferten Menschen hatten.
       
       Wenn ich heute in Sarajevo aus meinem Fenster schaue, sehe ich den
       atemberaubenden, vulkanförmigen Berg Trebević und unter ihm die Stadt. Die
       zerbombten Hochhäuser, die Ruinen, die neuen Shopping-Center. Und
       dazwischen tummeln sich meine Nachbarn, die endlich leben – ohne Angst,
       erschossen zu werden oder zu verhungern. [3][Aber mit unheilbaren
       Traumata].
       
       Der Blick auf den Berg erinnert auch daran, dass von dort aus auf die Stadt
       geschossen wurde. Dort sammelten sich Miloševićs Armee, Karadžićs Truppen,
       Tschetniks, also serbische Nazi-Kollaborateure, die noch am Faschismus
       festhalten. Auch Mitglieder der Serbischen Radikalen Partei waren vor Ort.
       
       Ich schaue mir auf bosnischen News-Seiten alte Videos dieser
       Ultranationalisten an. Besonders auffallend ist ein junger Mann. Er reiste
       damals freiwillig aus [4][seinem friedlichen Leben in Serbien] ins
       angegriffene Bosnien, um seine Parteikollegen zu unterstützen. Später wurde
       er als Informationsminister Teil von Miloševićs Regime. Laut [5][Human
       Rights Watch] wurden während seiner Amtszeit fünf Chefredakteure angeklagt,
       weil ihre Zeitungen ermordete Albaner als Menschen bezeichneten – das sei
       Desinformation.
       
       Heute ist dieser damals junge Mann Aleksandar Vučić, Präsident Serbiens. Er
       leugnet den Genozid gegen Bosniaken und unterstützt separatistische,
       serbische Nationalisten in Bosnien. Trotzdem begrüßte Merkel in einem
       Gespräch mit Vučić Serbiens vermeintliche [6][Arbeit an der Sicherheit in
       der Region]. Das ist nicht unüblich. Etliche Fotos zeigen ihn mit
       Politikern und EU-Funktionären, die den Genozid nicht mal erwähnen.
       
       Erst diese Woche kippten Abgeordnete kroatischer und serbischer Parteien im
       Parlament Bosniens ein Gesetz, das Genozidleugnung sowie institutionelle
       Glorifizierung von Kriegsverbrechern strafbar machen sollte. Auch dazu
       schweigen EU-Politiker.
       
       ## Mehrheit der Serben leugnen Genozid
       
       Miloševićs Name ist zum Synonym für Genozide, Massenmorde und
       Angriffskriege gegen vier Länder geworden, aber natürlich war all das keine
       One-Man-Show. Die, die ihn damals unterstützten, sowie der großserbische
       Nationalismus leben weiter. Die große Mehrheit der Serben leugnet den
       Genozid, auch solche, die antinationalistisch scheinen. Kriegsverbrecher,
       die serbische Nazi-Kollaborateure als Helden feiern, sind nun
       Parlamentsabgeordnete oder willkommene Gäste in Reality Shows.
       
       In einem Belgrader Covidkrankenhaus wurden im April genozidleugnende Bücher
       verteilt: Auch wenn man keine Luft bekommt, sollte man Propaganda bekommen.
       In Sarajevo sterben junge Menschen an Covid. Während das Durchschnittsalter
       der Covidtoten in Deutschland zwischen 80 und 89 liegt, leben die meisten
       Sarajlije nicht mal ohne Corona so lange – die Lebenserwartung liegt sogar
       ohne Corona bei 73 Jahren Auch das ein Zeichen der Aktualität des Grauens:
       25 Lebensjahre gestohlen durch vier Jahre fehlende Medizin, Hungersnot,
       Bombardierung, extremen seelischen und körperlichen Stress.
       
       Doch ein Tod erschüttert das Land besonders: Jovan Divjak ist am 8. April
       an Krebs gestorben. Er hätte als Teil von Miloševićs jugoslawischer
       Volksarmee unschuldige Menschen in Bosnien ermorden sollen. [7][Divjak, ein
       Serbe aus Belgrad, stellte sich gegen seine mordenden Landsleute],
       desertierte aus Miloševićs Armee und gründete die ihr entgegenkämpfende
       Armee Bosniens mit. Als Bosnien angegriffen wurde, war es zwar schon ein
       unabhängiger, international anerkannter Staat, hatte aber keine Armee, um
       sich zu verteidigen.
       
       So füllten die Angreifer Massengräber, Konzentrationslager und
       Flüchtlingsbusse, ohne dass ihnen auch nur eine Kugel entgegenkam. Divjak
       half mit, sie am Eindringen in Bosniens Hauptstadt zu hindern und die
       genozidalen Massenexekutionen von Srebrenica, Prijedor, Višegrad zu
       wiederholen – diesmal an einer halben Millionen Menschen.
       
       Allein in Sarajevo wurden über 1.000 unschuldige Serben von serbischen
       Nationalisten ermordet. Diese Menschen, wie Divjak und andere
       Antifaschisten, werden durch Genozidleugner, die sich als „Serbenfreunde“
       sehen, erniedrigt. In Deutschland kommen „Serbenfreunde“ damit sogar durch,
       da das Verständnis des Genozids und Krieges [8][nicht vorhanden oder
       verzerrt] ist. Es wäre ein „Bürgerkrieg“ gewesen, bei dem „alle Seiten“
       gleich waren und die serbische lediglich in Srebrenica übertrieb.
       
       ## Neonazi-Terroristen sind von Genoziden „inspiriert“
       
       Die verzerrten Narrative führen dazu, dass Leugner ungestört Karriere
       machen, rechtsradikale Parteien und Neonazis Netzwerke spinnen, Menschen
       ungewollt Faschisten helfen, indem sie aus Ignoranz „neutral“ bleiben, und
       gutherzige Deutsche erst mal durch einen Dschungel aus Lügen durch müssen,
       bevor sie an korrekte Informationen kommen. Und es führt dazu, dass in
       Deutschland lebende Bosniaken, also bosnische Muslime, retraumatisiert und
       erniedrigt werden.
       
       Der Genozid bleibt auch deswegen ein aktuelles Thema, weil rechtsextreme
       Terroristen ihn weltweit als Inspiration sehen: Utøya, Christchurch,
       München, Halle; ob sie Propaganda-Lieder serbischer Kriegsverbrecher als
       Soundtrack ihrer Morde nutzen, in ihren Manifesten obsessiv über Bosnien
       und Kosovo schreiben oder sich als serbische Soldaten verkleiden: Das Motiv
       zieht sich durch. Wie sollen wir rechtsextremen Terror verhindern, wenn wir
       heranbrütenden Faschisten, die Lügen über den Genozid glauben, keinen
       Faktencheck geben können? Wenn wir rechtsextremer Propaganda nichts
       entgegensetzen können?
       
       Die Morde an Bosniaken wurden so lange ignoriert, dass daraus weitere Morde
       weltweit erwuchsen. Wieso schafft es der Tod von über 100.000 europäischen
       Kriegsopfern nicht ins Europas kollektives Gedächtnis – ohne
       Genozid-Relativierung und menschenverachtende „Alle Seiten“-Ausgleiche?
       
       In Bosnien und weltweit leiden Überlebende an Traumata, Behinderungen,
       medizinischen Problemen durch Vergewaltigungen, kriegsbedingter Armut und
       mit dem Schmerz der Einsamkeit, nachdem ihre Kinder, Frauen, Freunde
       ermordet wurden. Mir selbst fehlt mittlerweile die Kraft, all das zu
       erklären in einem Land, das keinen einzigen während des Krieges nach
       Bosnien gereisten Neonazi wegen Kollaboration mit serbischen und
       kroatischen Faschisten auch nur anklagte. Ich gebe bald auf. Und halte mich
       ans bosniakische Glücksrezept: Verdrängung und Beruhigungstabletten.
       
       [9][Deutschland sollte das Gegenteil machen]: nicht verdrängen, nicht
       ignorieren. Und verstehen, dass der Genozid an bosnischen Muslimen aktuell
       ist und in Diskussionen zu Rassismus, Islam und Europa nicht fehlen darf.
       
       20 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [5] https://www.hrw.org/reports/1999/serbia/Serbia99-02.htm#P156_18061
 (DIR) [6] https://rs.n1info.com/english/news/a679604-merkel-to-vucic-kosovo-dialogue-rule-of-law-of-crucial-importance/
 (DIR) [7] /Zum-Tod-von-Jovan-Divjak/!5764683
 (DIR) [8] /Medien-ueber-Genozid-in-Srebrenica/!5695255
 (DIR) [9] https://www.sueddeutsche.de/politik/nationalismus-in-serbien-gefaehrlicher-traum-vom-grossen-reich-1.988182
       
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 (DIR) Melina Borčak
       
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