# taz.de -- Inklusiver Sport für alle Geschlechter: Das Märchen von der Gerechtigkeit
       
       > Erbittert wird im Sport über Geschlecht und Fairness diskutiert. Fair ist
       > Wettbewerb nie, aber wie könnte Sport gerechter werden?
       
 (IMG) Bild: Leistungssport sollte die belohnen, die im Vergleich zu ihren Möglichkeiten am meisten leisten
       
       Vor einigen Wochen wurde [1][Lia Thomas] unfreiwillig eine der berühmtesten
       Schwimmerinnen der Welt. Nachdem die trans Frau bei den
       US-College-Meisterschaften gegen cis Frauen siegte, gab es weltweit
       Debatten: Floridas Gouverneur Ron DeSantis wollte ihr den Sieg absprechen,
       in den USA mischten sich Transfeindlichkeit und legitime
       Vergleichbarkeitsdebatten zu einem unappetitlichen Gebräu, auch in
       Deutschlands Medien war Thomas tagelang Thema. [2][Es ist ein schon
       gewohnter Aufruhr im Sport], der wie kaum eine andere Branche ein binäres
       System propagiert. Stets auf Kosten derer, die unter den Verdacht des
       Hybriden gerieten – und mittels Genitaltests, später Chromosomentests,
       [3][zuletzt Testosteronobergrenzen bei den Frauen ausgeschlossen
       wurden].
       
       Dieses rigorose System neigt sich wohl dem Ende zu. Das olympische Komitee
       (IOC) hat unter dem Druck ausgeschlossener Athletinnen und fehlender
       Studien 2022 die Testosteronobergrenze gekippt und die Verantwortung an die
       Fachverbände übertragen. Gleichzeitig werden geschlechtergemischte Formate
       etwa bei Olympia stark gefördert. Doch auch das Mixed-Format ist
       paritätisch organisiert, die großen körperlichen Differenzen machen es
       nötig. Geht Sport überhaupt anders?
       
       Dass binärer Spitzensport unumgänglich ist, glaubt die trans Läuferin und
       Medizinerin Joanna Harper. Sie berät das IOC zum Thema. „Wenn wir uns nur
       den Männerwettbewerb oder den Frauenwettbewerb angucken, sagen die
       Testosteronlevel nicht unbedingt den Erfolg vorher“, sagt Harper der taz.
       „Aber wenn wir auf die Differenz zwischen Männern und Frauen im Sport
       schauen, ist der wichtigste Faktor – der Grund, warum Männer größer,
       stärker, schneller sind – Testosteron.“ Teile man Athlet:innen nach
       anderen Kategorien, mache das die Frauen unsichtbar. „Wenn wir
       Basketballteams neu nach Körpergröße einteilen, werden trotzdem fast nur
       Männer in den Topteams stehen.“
       
       Harpers Schlussfolgerung: „Wenn Frauen an der Spitze glänzen sollen,
       brauchen wir eine Frauenkategorie. Und eine sorgfältige Auswahl, wer
       teilnehmen darf.“ Einer Inklusion von trans, nichtbinären oder inter
       Athletinnen stehe das nicht im Weg. Denn Harper sagt auch: In einigen
       Sportarten seien etwa hohe Testosteronwerte gar nicht so entscheidend. Und
       im Breitensport sei eine binäre Ordnung ohnehin unnötig. „Wir können gerade
       im Breitensport viel inklusiver, kreativer sein.“ Es gebe aber auch
       Spitzendisziplinen, etwa den Lauf, wo Testosteron ein sehr entscheidender
       Faktor sei. Intersex-Athletinnen seien auf den Medaillenplätzen der
       Frauen-Laufwettbewerbe rund 2.000-fach überrepräsentiert. Dass Athletinnen
       dort gezwungen werden, ihre Testosteronwerte zu senken, hält sie deshalb
       für „nicht perfekt, aber gerechtfertigt“. Ein Kompromiss.
       
       ## Die Startlinie als kollektive Inszenierung
       
       Menschen lieben Wettbewerb. Und Wettbewerb braucht Vergleichbarkeit.
       Gleichzeitig sind die Vorteile, die derzeit öffentlich thematisiert werden,
       sehr selektiv. Körpergröße, Wohlstand der Eltern, Herkunftsland,
       Sporttradition und Infrastruktur vor Ort, Gewicht, Körperfettanteile sind
       alles nachweisliche Vorteilsfaktoren. Die, die heute klagen, keine gleiche
       Chance gegen eine inter oder trans Athletin zu haben, stehen auch deshalb
       oben, weil sie einst das kleine, dicke Kind aus dem prekären Viertel
       mühelos hinter sich ließen. Dafür wurden sie gefeiert. Die Startlinie ist
       nie gleich, sie ist eine kollektive Inszenierung. Damit Höchstleistung
       zelebriert werden kann, muss das Publikum glauben, der Kampf sei gerecht.
       Auch der Soziologe Dennis Krämer erinnert daran, dass fairer Wettbewerb ein
       Paradoxon sei; eine Hierarchisierung findet nie zwischen Gleichen statt.
       
       Doch die Tatsache, dass die Startlinie permanent ungleich ist, macht die
       Situation nicht befriedigender. Ein nur annäherungsweise gerechter Sport
       muss Gerechtigkeit ehrlicher diskutieren als heute. Und auf Basis der
       wichtigsten Vorteile Kategorien bilden. Im Behindertensport gibt es das
       längst: Niemand käme auf die Idee, einen Menschen mit Unterschenkelprothese
       gegen einen Rollstuhlfahrer sprinten zu lassen. Im Laufwettbewerb könnten
       Testosteronwerte eine kluge Einteilung sein, die nicht ständig Geschlecht
       reproduziert und Schwächere schützt. Im Basketball könnte der Korb je nach
       Durchschnittsgröße des Teams aufgehängt sein. Und auf Basis von
       Körperfettanteilen oder Gewicht kann es einen echten Plus-Size-Sport an der
       Spitze geben.
       
       Um nicht alle zu vereinzeln, ist es klug, Faktoren zu Handicaps
       zusammenzufügen. Wenn mehr Chancengleichheit, dann für alle. Soziale
       Klasse, Herkunftsland, psychische Erkrankungen, all das muss in Form von
       Bonuspunkten oder Vorsprung einfließen. Und auch: Körper und Geschlecht.
       
       Das wäre ein tatsächlicher Leistungssport: Einer, der die belohnt, die im
       Vergleich zu ihren Möglichkeiten am meisten leisten, nicht die mit den
       besten Voraussetzungen. Beim Integrated Football werden den
       Spieler:innen anhand ihrer Fähigkeiten Handicaps verteilt, Stärkere
       dürfen zum Beispiel nicht gegen Schwächere in den Zweikampf gehen. Auch das
       sind Utopien für einen geschlechtergerechten Sport. Es ist freilich immer
       nur eine Annäherung. Gerechtigkeit eines Wettbewerbs ist, auch bei präziser
       Messung, eine kapitalistische Illusion.
       
       ## Eine dritte, nichtbinäre Kategorie
       
       „Neue Startklassen sind ein Schritt, aber auch keine endgültige Lösung“,
       sagt Julia Monro, die sich in Deutschland für die Rechte von trans Personen
       engagiert. Sie war selbst in einem Volleyballteam aktiv und kennt die
       Debatte zur Genüge. In ihrem Mixed Team mit Frauenquote sei es für die
       Mitspieler:innen kein Problem gewesen, dass sie eine trans Frau ist.
       Anders bei den Gegner:innen: „Wenn ich mit meinen 1,92 Metern einen Angriff
       ins gegnerische Feld schlage, kommen schon Kommentare, dass ich andere
       Voraussetzungen habe als eine cis Frau.“
       
       Monro sagt, sie wisse selbst nicht, was die Lösung wäre. Sie kritisiert
       aber scharf, dass die Debatte sich immer nur um trans Frauen dreht und
       ihnen pauschal Unfairness vorgeworfen werde. Niemand habe den deutlichen
       Leistungsverlust im Blick, wenn trans Frauen eine hormonelle Behandlung
       vornehmen. Monro sieht eine mögliche Lösung darin, eine freiwillige dritte,
       nichtbinäre Kategorie einzuführen, in der alle mitmachen können. „Ich würde
       mir wünschen, dass der Spaß im Sport wieder mehr im Vordergrund steht. Ich
       kann mir sehr gut vorstellen, dass ein queerer, diverser Sport wesentlich
       respektvoller ist.“
       
       Leistung, Dominanz, Sieg und Niederlage, weltweit standardisierte
       Regelwerke und binäre Teilung wirken heute so selbstverständlich, dass
       vielen nicht bewusst ist, wie grundlegend Sport sich permanent wandelt. Im
       südostasiatischen Kooperationssport waren Zusammenarbeit und Rhythmik das
       Ziel, nicht Sieg und Niederlage. Dörfliche Massenraufereien ohne Tabellen,
       oder Adlige, die gerade die Nichtanstrengung feierten: Sport ist nicht
       objektiv, er ist der Sport einer Weltanschauung und einer Hierarchie.
       
       Männersport und Frauensport, so absolut erfand ihn erst das 19.
       Jahrhundert, das statt punktueller Turniere den permanenten Wettbewerb
       erfand und die Frau als schützenswert. „Die Geschlechtersegregation
       produziert nicht Gleichheit, sondern Hierarchie“, so hat es etwa die
       Sportsoziologin Karolin Heckemeyer formuliert – eine Geschichte von der
       vermeintlich „natürlichen männlichen Überlegenheit“. Welche Leistung heute
       eine Leistung ist, haben Männer erfunden. Die Hierarchisierung zeigt sich
       auch in der trans Debatte: Laut einer aktuellen Studie glauben weniger als
       ein Viertel der befragten cis Sportlerinnen, dass trans Frauen gegen sie
       „unfaire Vorteile“ haben. Aber fast die Hälfte der cis Männer.
       
       ## Der bessere Sport: ein Mosaik
       
       Ein geschlechtergerechter Sport braucht also neue Spielideen. Warum nicht
       Kooperation oder Kreativität? Ein Sport als Kunst statt nach einem einzigen
       Regelwerk, demokratisch-fluide Regeln oder Galaxien statt eines
       erbarmungslosen Pyramidensystems mit Auf- und Abstieg, all das ist möglich.
       
       Oft übrigens hat Verdrängung nicht einmal mit Leistung zu tun. Das zeigen
       jene Sportarten, die gar keine körperlichen Vorteile eines Geschlechts
       kennen: Schießen, Darts, Curling, Billard oder eSports. Viele davon sind
       extrem männerdominiert. Kristin Banse ist Diversity-Beauftragte beim
       eSport-Bund Deutschland. Sie bestätigt die Hürden für Frauen in der
       Branche, ist aber auch bemüht, mit dem Klischee des sexistischen
       Nerd-Sports aufzuräumen. „Der Sexismus ist hier nicht geringer und nicht
       höher als in der Gesellschaft.“
       
       Ein hoch technologisches All-Gender-Spiel – kann der klassische Sport davon
       lernen? „Vielleicht“, sagt Banse. „Mithilfe von Virtual Reality kann man
       körperliche Nachteile ausgleichen. Dafür muss sich aber das Denken in den
       Verbänden verändern. Mittlerweile gibt es unter anderem VR-Spiele, die
       stark körperbetont sind, es gibt zum Beispiel VR-Volleyball oder VR-Tennis.
       Das ist tatsächlich anstrengend. Die körperliche Komponente ist noch da,
       aber man könnte Nachteile wohl durch Technik ausgleichen.“ Auch das ist
       eine Idee für einen inklusiveren Sport. Der bessere Sport, er wäre gewiss
       ein Mosaik.
       
       Mehr zum Thema und weitere Utopien für die Sportwelt in „Futopia – Ideen
       für eine bessere Fußballwelt“ von Alina Schwermer, Verlag die Werkstatt,
       448 Seiten
       
       26 Apr 2022
       
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