# taz.de -- Interview mit Anne Applebaum: „Führt keine Kulturkämpfe!“
       
       > Die US-Autorin Anne Applebaum über die Kraft von Verschwörungsmythen, den
       > Zynismus des Boris Johnson und dumme Streits auf Links-Rechts-Twitter.
       
 (IMG) Bild: Die US-Historikerin und Pulitzerpreisträgerin Anne Applebaum
       
       Zum Zoom-Gespräch erscheint Anne Applebaum im Kostüm. Die US-Historikerin
       und Pulitzerpreisträgerin ist gerade in Washington, wo sie ihre Eltern
       besucht. Seit über 16 Jahren lebt sie in Polen, sie ist mit dem
       liberalkonservativen EU-Abgeordneten und früheren Außenminister Radoslaw
       Sikorski verheiratet. Verabredet sind wir, um über ihr jüngstes Buch zu
       sprechen, „Die Verlockung des Autoritären“. Sie beginnt mit einer
       persönlichen Erinnerung an ihre Silvesterparty 1999 in Polen: Eine
       antikommunistische, liberalkonservative, proeuropäische Elite feiert
       zweisprachig – polnisch und englisch – den Aufbruch in eine Zukunft von
       Demokratie, Freiheit und Wohlstand. Zehn Jahre später ist diese Elite
       auseinandergebrochen. „Die Hälfte unserer Gäste würde heute kein Wort mehr
       mit der anderen wechseln“, schreibt sie.
       
       taz am wochenende: Wenn man sich die Leute ansieht, die den Brexit, die
       Trump und die illiberalen Regierungen in Polen und Ungarn vorangebracht
       haben, dann waren das Ihre Freunde, Frau Applebaum? Zumindest ist das eine
       Pointe [1][in der Buchbesprechung des „Guardian“]. 
       
       Anne Applebaum: Ich wünschte, ich könnte so viel Anerkennung beanspruchen,
       aber nein: Es waren nicht nur meine Freunde. Was richtig ist: Darunter sind
       einige Leute, die ich kenne, die in Mitte-Rechts-Parteien waren und die aus
       unterschiedlichen Gründen von extremen politischen Ideen angezogen wurden.
       
       Sie beschreiben im Buch, dass viele Freundschaften darüber zerbrachen. 
       
       Ja. Aber nicht jeder, den ich kenne oder kannte, ist Rassist oder Extremist
       oder Propagandist. Speziell in Großbritannien sind auch viele, die den
       Brexit als gute Perspektive für das Land einschätzen, weiterhin überzeugte
       Demokraten. Mit einigen haben ich weiterhin Kontakt.
       
       Warum verwandelten sich Liberaldemokraten in Nationalisten? 
       
       Es gibt nicht die eine Antwort. In meinem Buch schaue ich mir verschiedene
       Leute und ihre Motive an. Wenn ich aber eine Sache gefunden habe, die all
       die Leute kennzeichnet, über die ich schreibe, dann ist es Enttäuschung.
       Die sind alle enttäuscht, wie sich ihre Gesellschaften entwickelt haben.
       Wegentwickelt von dem England, das sie kannten, oder der USA, die sie
       liebten. Im umgedrehten Fall wurde das demokratische Polen nicht das
       Paradies, das sie erwartet hatten.
       
       Ihr Mann ist Pole, Sie leben in Polen, dort regiert seit 2015 mit absoluter
       Mehrheit die rechtspopulistische PiS. 
       
       Polen widerlegt die Stereotype über Nationalismus und Populismus, weil es
       kein Beispiel eines Landes ist, das ökonomisch oder machtpolitisch
       gescheitert ist. Im Gegenteil. Die Einkommen haben sich verdreifacht, allen
       sozialen Klassen geht es viel besser als vor 30 Jahren. Aber Polen ist auch
       ein Land der schnellen Veränderung, vergleichbar mit Deutschland oder
       Frankreich im 19. Jahrhundert. Im Kontext dieses schnellen Wandels fühlen
       manche Leute, dass etwas verlorengegangen ist. Da ist ein Verlustgefühl und
       eine Enttäuschung.
       
       Durchaus übliche Begleitererscheinungen modernen Fortschritts. 
       
       Extremismus und Radikalismus beginnen immer mit dieser großen Enttäuschung,
       dem Moment, wenn du wirklich glaubst, dass deine Seite untergeht oder alles
       in die falsche Richtung geht. Und wenn du dann sagst, wir brauchen eine
       ganz andere Politik, dann bedeutet es in einer demokratischen Gesellschaft
       anti-demokratische Politik. In Polen gab es aber zudem eine politische
       Klasse, die diese Enttäuschung nutzte und Desorientierung als politisches
       Werkzeug einsetzte, die den Leuten Angst einjagte und ihre Verunsicherung
       vertiefte, um darüber politische Macht zu bekommen.
       
       Die erste Erklärung für illiberale nationalistische Erfolge ist eine
       soziale: Die globalisierte Wirtschaft hängt schlechter ausgebildete
       Arbeitskräfte ab beziehungsweise verlagert Arbeit. Die kulturelle Erklärung
       ist, dass Leute das Gefühl haben, mit ihrer Identität oder ihren Werten
       abgehängt zu werden. In Ihrem Buch wird stark eine dritte herausgearbeitet:
       Wir haben es mit einem Clash zweiter Eliten zu tun, in dem die agitierten
       Leute nur wieder die Bauern und das Stimmvieh sind. 
       
       Ein großes Problem ist ohne Frage, dass sich Menschen auf dem Land
       ausgeschlossen oder übersehen fühlen. Aber darum geht es in meinem Buch
       tatsächlich nicht; mir geht es um die Eliten, die versuchen, mit diesem
       Problem und den daraus entstehenden negativen Gefühlen Politik zu machen.
       Ich versuche zu zeigen, wie lächerlich und falsch die Idee ist, dass
       autoritärer Populismus das sogenannte wahre Volk repräsentiert gegen die
       sogenannten Eliten. Alle Leute, die für diese Bewegungen arbeiten, sind
       hochgebildet, bestens vernetzt und kommen oft von Elite-Universitäten. Wer
       hat die Kampagnen für Trump gemacht und die Propaganda erfunden? In den
       meisten Fällen hochgebildete Leute von der Ostküste. Wenn Sie sich die
       Propagandisten der PiS-Partei in Polen anschauen, ist es genau das gleiche.
       Das sind keine übersehenen armen Provinzmenschen, die beim Übergang aus dem
       Kommunismus vergessen wurden, das sind hochgebildete und alles andere als
       arme Leute. Es ist eine absurde Vorstellung, dass diese Leute die
       Vergessenen repräsentieren.
       
       Diese intellektuellen Helfershelfer der rechtspopulistischen
       Tribalisierung, Institutionsfeindlichkeit und Ablehnung sexueller und
       ethnischer Minderheiten nennen Sie Clercs, eine Mischung aus Clerks,
       Verkäufer und Clerics, Evangelisten. 
       
       Der Begriff wurde von dem französischen Philosophen Julien Benda Anfang des
       20. Jahrhunderts geprägt und steht für eine geistige Elite, die ihre
       eigentliche Aufgabe verrät, nämlich Wahrheitssuche, und sich für bestimmte
       politische Interessen einspannen lässt. Ich habe ihn mir geborgt, um über
       den gleichen Typus zu sprechen, der heute anzutreffen ist: den Polen Jacek
       Kurski, die Ungarin Maria Schmidt, den Amerikaner Franklin Graham. Das sind
       Prototypen dieser Elite-Klasse.
       
       Kurski ist der Chef des polnischen Staatsfernsehens… 
       
       …das unter der derzeitigen polnischen Regierung sehr viel extremer ist, als
       man das außerhalb Polens wahrnimmt. Sie sind offen homophobisch, wild
       anti-europäisch, manchmal antisemitisch, und sie tun nicht mal so, als
       seien sie öffentlich-rechtliches Fernsehen. Sie machen Schmierkampagnen,
       und Opposition kommt da nur vor, wenn sie angegriffen wird. Jacek Kurskis
       Bruder Jaroslaw, den ich kenne, arbeitete für Lech Wałęsa und die
       Solidarność-Bewegung und baute nach 1989 die liberale Stimme Polens mit
       auf, die Gazeta Wyborcza. Jacek wollte eigentlich Jaroslaws Job bei Wałęsa
       übernehmen, das klappte nicht. Er ist weder Ideologe noch ein wahrer
       Gläubiger, er wollte die Macht, die ihm das liberale Establishment aus
       seiner Sicht ungerechterweise verweigert hat. Er ist einfach zynisch.
       
       Ihr Versuch, mit der ungarischen Historikerin und Orban-Clerc Maria Schmidt
       argumentativ zu sprechen, scheiterte. 
       
       Ich kannte sie seit langem und gut, und finde sie dann herübergerutscht in
       jemand, die spricht wie eine Propagandistin und unmöglich glauben kann, was
       sie sagt. Dieses Gespräch war für mich sehr frustrierend. Schmidt gehört zu
       den Erfindern des Soros-Mythos, also dass George Soros…
       
       …ein US-amerikanischer Milliardär, Jude, Investor und Philantrop
       ungarischer Herkunft… 
       
       …irgendwie an allem schuld sein soll, was in Ungarn schief läuft. Im
       Gegensatz zu Kurski würde ich Schmidt nicht als komplette Opportunistin
       einschätzen. Sie hat auch Groll, weil sie sich und andere ungarische
       Intellektuelle von westlichen Intellektuellen und vor allem dem deutschen
       Historiker-Establishment übersehen, unterdrückt und abschätzig behandelt
       fühlt. Sie glaubt das wirklich und das ist wohl ihre Art von Rache.
       
       Der bulgarische Soziologe Ivan Krastev sagt, dieser Typus Osteuropäerin
       hätte eine postkoloniale Einstellung. Was bedeutet das? 
       
       Dass diese Leute sich auf eine Art besetzt fühlten von westlichen
       Institutionen und davor von sowjetischen Institutionen. Sie hatten keinen
       Moment, in dem sie sagen konnten: Das ist jetzt rein ungarisch. Sie wollten
       nicht schon wieder nachahmen, dieses Mal den liberaldemokratischen Westen,
       sondern der Schöpfer von etwas Eigenem sein. Und das führte manche in die
       nationalistische Richtung.
       
       Ist es am Ende nicht einfach nur banaler Karrierismus? 
       
       Manchmal liegt eine persönliche Enttäuschung zugrunde, wie ich sie
       beschrieben habe, aber es gibt auch Leute, die die Lage analysieren und
       dann sagen: In den Mitte-Parteien oder den großen liberaldemokratischen
       Qualitätszeitungen schaffe ich es nie. Ich muss etwas anderes machen. Das
       erstaunlichste Beispiel für Karrierismus ist Boris Johnson, der
       Anti-Europäertum oder Euroskepsis benutzte, um populär zu werden – ohne
       dass er selbst daran glaubte. Das war extrem zynisch. Ich glaube keine
       Sekunde, dass er den Brexit wollte. Er tat es, weil er dachte, das mache
       ihn zum Premierminister.
       
       Was es auch tat. 
       
       Ja, er hatte damit Recht. Aber seien Sie grundsätzlich vorsichtig, Menschen
       handeln – mit wenigen Ausnahmen – aus einer Mischung von Gründen. Sie sind
       Karrieristen und Idealisten, sie glauben an bestimmte Dinge. Es ist
       schwierig, Leute in eine bestimmte Schublade zu stecken.
       
       Johnson und Ihr Mann sind oder waren Freunde. 
       
       Sie waren zusammen in Oxford und gehörten denselben Clubs an. Also okay,
       sie waren lange Zeit Freunde.
       
       Sie selbst hingen nicht nur mit diesen Leuten rum, Sie sind auch eine
       Konservative. 
       
       Ich weiß nicht, ob ich immer noch eine Konservative bin, ich war
       Anti-Kommunistin, ich war jemand, der die Ausbreitung der liberalen
       Demokratie, EU, Marktwirtschaft und Nato nach Mittelosteuropa begrüßte.
       Aber die Bedeutung des Wortes konservativ hat sich verschoben, weshalb ich
       mich heute als klassische Liberale bezeichnen würde. Liberal nicht im
       amerikanischen Sinne des Wortes, sondern im europäischen.
       
       Also nicht links, sondern liberal in der Bedeutung gesellschaftsliberal und
       marktliberal. 
       
       Das scheint am Nächsten an dem, was ich glaube. Aber ich kenne
       Konservative, habe Sympathie für ihre Sicht und ihre Angst vor einem
       schnellen Wandel, und ich denke, moderater Konservatismus ist eine ganz
       wichtige Kraft in der Demokratie, weil sie Extremismus verhindert. Wenn
       Leute ängstlich sind, unsicher und nervös, dann ist es wichtig, dass sie
       eine Partei haben, von der sie denken, dass sie ihre Ängste versteht.
       Speziell Deutsche sollten das wissen. Es war das Versagen der
       traditionellen Konservativen, das in den 1930ern den Weg zum Extremismus
       bahnte.
       
       Wir westlichen Liberaldemokraten haben in den 90ern und 2000ern nicht
       verstanden, was mit anderen passiert und sind gemütlich im alten Modus
       geblieben, das sehe ich als unser Kardinalversagen. Seither rennen wir
       diesen Versäumnissen hinterher. Was sagen Sie? 
       
       Richtig ist, dass die Ereignisse von 1989 uns lange Zeit zu falschen
       Annahmen verleitet haben. Trotz des Jugoslawien-Krieges und 9/11 hatten wir
       ein falsches Gefühl, nämlich, dass alles positiv sei, dass unsere
       Gesellschaften sicher seien, dass wir nichts verändern müssten in unserer
       politischen Kultur, dass wir uns nicht politisch einbringen müssten und
       einfach weitermachen könnten, mit dem was wir taten, ob das nun Geld
       verdienen war oder Artikel schreiben. Das war einfach falsch. Du musst
       aufpassen, dich einbringen, und wenn du es nicht tust, kann dein
       politisches System auch den Bach runtergehen. Politik beeinflusst, wie
       alles funktioniert und wie die Gesellschaft aussieht. Man muss das ernst
       nehmen und darf es nicht als Spiel oder Witz betrachten. Das ist die
       Lektion, die wir erhalten haben.
       
       Sie beschreiben, wie wichtig die Erfindung und Durchsetzung von Mythen,
       also Lügen, für rechtspopulistischen und illiberalen Erfolg ist, in Ungarn
       der Soros-Mythos und in Polen der Smolensk-Mythos. 
       
       Der Smolensk-Mythos ist wirklich wichtig, um zu verstehen, was in den
       letzten zehn Jahren in Polen passiert ist. Wie Sie sich erinnern: Dieser
       Flugzeugabsturz im russischen Smolensk tötete den damaligen polnischen
       Präsidenten Lech Kaczyński, viele seiner Entourage und führende Militärs.
       Er war auf dem Weg gewesen, um in Russland ein polnisches Kriegsdenkmal zu
       besuchen und das Flugzeug stürzte beim Landeversuch im dichten Nebel ab.
       Anfangs akzeptierte sein Zwillingsbruder Jaroslaw, der Chef der PiS-Partei,
       dass es ein Unglück war, das vermutlich passierte, weil die Piloten Druck
       vom Präsidenten bekamen, unbedingt zu landen. Aber irgendwann fing Jaroslaw
       Kaczyński an, den Verschwörungs-Mythos zu spinnen. Weder er noch seine
       Leute sind jemals konkret geworden, was denn nun genau passiert sein soll.
       Manchmal heißt es, die Russen waren es, dann soll eine Bombe an Bord
       gewesen sein, dann wurde die damalige polnische Regierung beschuldigt…
       
       …in der Donald Tusk Premier und Ihr Mann Außenminister war. 
       
       Und weil sie das hartnäckig machten, bekam dieser Verschwörungsmythos
       irgendwann Zugkraft. Denn was bedeutet es denn, wenn du wirklich glaubst,
       dass der Präsident ermordet wurde und niemand dafür zur Rechenschaft
       gezogen wird? Es muss bedeuten, dass etwas falsch läuft mit dem ganzen
       System, der Regierung, dem Parlament, der Polizei, den Geheimdiensten –
       alle sind an dieser Verschwörung beteiligt, um zu vertuschen, dass der
       Präsident ermordet wurde. So gesehen war dieser Mythos essentiell dafür,
       das Vertrauen der Polen in ihr politisches System zu erschüttern. Am Ende
       glaubten ein Viertel oder sogar ein Drittel an diese Verschwörung.
       
       Man könnte bei diesen Lügen denken, das ist so ein Riesenbullshit, dass
       niemand darauf hereinfallen kann. Bis man versteht, dass genau das der
       Trick ist. 
       
       Naja, Leute haben immer an diese Dinge geglaubt. Aber heute hat man
       alternative Medien und Leute, die das ständig verbreiten. Was auch wichtig
       ist: Man muss hier nicht an etwas Komplexes wie den Marxismus-Leninismus
       glauben, an eine komplett andere Erklärung der Welt. Die Funktion dieser
       Geschichte ist sehr ähnlich zum Birther-Mythos…
       
       …nach dem Barack Obama nicht in den USA geboren sei… 
       
       …und damit ein illegitimer Präsident sei. Der Hauptverbreiter dieser
       Verschwörungstheorie war Donald Trump und sie hatte den gleichen Effekt:
       Wenn Obama ein illegitimer Präsident war, dann bedeutete das, dass alle
       logen: das Weiße Haus, der Kongress, alle. Das untergräbt das Vertrauen in
       das System und ist sehr hilfreich dafür, um sehr viel radikalere Politik
       durchzusetzen. Aber es geht noch weiter: Die Fantasien sind auch sehr
       wichtig, damit die später regierende Partei die Loyalen von den
       Nichtloyalen unterscheiden kann. Wenn du sagst, dass du an die
       Smolensk-Fantasie glaubst, dann kann man dir vertrauen, und du kriegst
       einen Job bei PiS und machst schnell Karriere.
       
       Redet man mit den Leuten, die aus der Wirklichkeit ausgetreten sind – und
       wie macht man das? 
       
       Ich denke, man hat keine andere Wahl, als mit ihnen zu sprechen. Sie leben
       in unserer Gesellschaft und in unserem Land, und man kann weder darauf
       hoffen, dass sie einfach weggehen, noch kann man sie eliminieren. Es gibt
       aber unterschiedliche Wege, und einer ist es, über Dinge zu sprechen, die
       nicht Teil des Kulturkampfes sind, über Dinge, die wir gemeinsam haben und
       diskutieren können.
       
       Was wäre das? 
       
       Wie man eine Brücke baut, wie man Straßen baut, wie man bessere
       Berufsausbildung hinkriegt. Dann können wir als Gesellschaft trotzdem
       weiterkommen. Aber für Liberale und andere, die der autoritäre Populismus
       besorgt, ist es wichtig, breite Koalitionen zu bilden. Die
       erfolgversprechendsten Leute, um mit der extremen Rechten zu sprechen, sind
       nicht ich oder Sie oder kritische Medien, die sie anschreien. Sondern
       Konservative, denen sie vertrauen und die einen Teil ihrer Weltsicht
       teilen.
       
       Wie habe ich mir das konkret vorzustellen? 
       
       Es gab bei der letzten US-Wahl eine ganze Reihe von Republikanern,
       Ex-Republikanern und Konservativen, die versuchten, Trump-Wähler zu
       erreichen, öffentlich und off the record. Sie verstanden das konservative
       Publikum besser und das trug dazu bei, Donald Trump zu schlagen. Das ist
       eine wichtige Lektion, die liberale Demokratie lernen muss.
       
       Teilen Sie die Analyse, dass die Alternative nicht mehr rechts oder links
       ist, sondern liberal oder illiberal? 
       
       Das kommt auf die Gesellschaft an, Deutschland ist anders als die USA. Aber
       ja: Um die Kräfte des Illiberalismus zu schlagen, kann es sehr breite
       Koalitionen brauchen. Liberale, Konservative, Linke, Grüne. Das
       Parteiensystem verändert sich, ob Christ- oder Sozialdemokrat, ob
       mitterechts oder mittelinks, die Unterscheidung entspricht nicht mehr den
       politischen Fragen.
       
       Führ bloß keine Kulturkämpfe, das ist einer Ihrer Leitsätze. 
       
       Ja, sei vorsichtig mit Kulturkämpfen, weil du sie verlieren kannst und sie
       Leute spalten, und wenn sie mal gespalten sind, wird es schwer, über etwas
       anderes zu sprechen.
       
       Populisten brauchen Kulturkämpfe: Familie vs. Gender, Christentum vs.
       Islam, Diesel vs. Elektro, weil sie genau das anstreben, die Spaltung und
       Vermeidung, über die Lösung gemeinsamer Probleme zu sprechen. 
       
       Kulturkämpfe füttern Verschwörungsdenken und konzentrieren sich auf
       symbolische Fragen, die die Leute wütend machen. Für Liberale und Leute,
       die sich um die Demokratie sorgen, ist es wichtig, sich über die Grundlagen
       eines Kulturkampfes klarzuwerden, es braucht also die Behandlung der
       Wurzeln von Kulturkämpfen: richtige Bildungspolitik, Einwanderungspolitik,
       Sozialpolitik, Regulierung des Internets, man muss darauf achten, dass
       Leute sich nicht ausgeschlossen fühlen. Dumme Streits auf
       links-rechts-Twitter beinhalten keine Lösungen für die ganze Gesellschaft.
       
       Ich habe den Eindruck, dass die liberale Mehrheitsgesellschaft etwas
       hilflos ist, wenn sie von Rechtspopulisten als Kommunisten, von
       Linkspopulisten als Nazis und von Wokies als rassistisch beschimpft wird.
       Was tun? 
       
       Sie müssen das lernen. Richtige Kommunikation, neue Formen der Medien zu
       benutzen, anders reden und schreiben, um Leute zu erreichen und zu
       inspirieren, ist jetzt für Leute, denen das Land und Politik am Herzen
       liegen, eine Frage auf Leben und Tod. Das hat jetzt Priorität.
       
       Die Medien der polnischen Regierung waren auch hinter Ihnen her. Sie wurden
       als jüdische Drahtzieherin einer internationalen Medienverschwörung gegen
       die PiS-Regierung diffamiert. 
       
       Ach, Sie lernen, sich nicht damit zu beschäftigen.
       
       Wirklich? 
       
       Ja, wirklich. Man muss das als Kompliment betrachten. Mein Mann sagte
       damals: Dementiere das ja nicht! Wenn die sagen, du bist die wichtigste
       Journalistin der Welt und in der Lage, die gesamte internationale Presse zu
       organisieren, dann lasse sie das denken. Warum solltest du das dementieren?
       
       5 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.theguardian.com/books/2020/jul/09/twilight-of-democracy-by-anne-applebaum-review-when-politics-ends-friendships
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Unfried
       
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