# taz.de -- Kunstschau Berlin Biennale eröffnet: Weltschmerz und lustvolle Aneignung
       
       > Die 12. Berlin Biennale blendet den Krieg in der Ukraine aus. Ihre
       > Stärken liegen eher bei feministischen Positionen und postkolonialer
       > Geschichte.
       
       Sajjad Abbas' riesiges Auge blickt auf den Pariser Platz. „I see you“ heißt
       die Installation mit einer überdimensionierten Fotografie, die er auch 2013
       in Bagdad auf einem unvollendeten Betonturm mit Blick auf die
       US-amerikanische Botschaft, das irakische Parlament und mehrere irakische
       Firmenhauptsitze anbrachte.
       
       Die Wege der Korruption, die Verstrickungen von Politik, Krieg und
       Wirtschaft sollten symbolisch beobachtet werden in diesem nach dem Sturz
       der Saddam-Diktatur weiterhin von bewaffneten Auseinandersetzungen
       gebeutelten Land. Aktuell steht es unter dem starken Einfluss der Iraner,
       die Bürgerrechtswegung wurde zerschlagen. Jetzt zur Berlin Biennale hängt
       das Auge von Sajjad Abbas über einem repräsentativen Platz in Berlin,
       flankiert von der Deutschen Bank, nicht weit vom Deutschen Bundestag
       entfernt.
       
       Kader Attia, der künstlerische Leiter der jetzt eröffnenden 12. Berlin
       Biennale, stellt [1][unangenehme Fragen nach der internationalen Dimension
       solcher Konflikte.] Und er stellt sie mit seinem kuratorischen Team dort,
       wo sie gestellt werden sollten: an repräsentativen Orten in Berlin. Die 12.
       Berlin Biennale begibt sich nicht an randständige Lagen wie häufig üblich
       bei dieser wiederkehrenden Kunstschau, sondern setzt mitten in großen
       Berliner Ausstellungshäusern an.
       
       In den KunstWerken, im Hamburger Bahnhof, an beiden Standorten der Akademie
       der Künste und – auf einem dann doch hinzugezogenem Lichtenberger
       Außenposten der früheren Staatssicherheit der DDR.
       
       ## Soziologische Recherche
       
       „Still Present!“ nennen Kader Attia und sein kuratorisches Team diese
       Berliner Großschau mit 72 Künstler:innen und Künstlergruppen. Die
       Mehrzahl von ihnen stellt zum ersten Mal in Berlin aus. Die Stoßrichtung
       will oft dekolonial sein. Viele Installationen, Dokumentationen und
       Herangehensweisen erwecken einen recherchebasierten soziologischen Ansatz.
       
       Die US-Amerikanerin Imami Jacqueline Brown kartografiert zum Beispiel die
       Sümpfe in Louisiana. 90.000 Ölbohrlöcher und verästelte Pipelines entlang
       des Missisippi veranschaulicht sie in einer erschreckend sinnlich wirkenden
       Projektion.
       
       Tammy Nguyens hybride Darstellung vom Leidensweg Jesu ist hingegen
       vollkommen vom südostasiatischen Dschungel überwuchert. Die Christusfigur
       verschwindet auf seinen Malereien in dem grünen Dickicht schlingender
       Pflanzen und großäugiger Borneo-Affen.
       
       Nicht nur die bedrohte Natur der Region scheint hier sichtbar zu werden,
       Tammy Nguyen bemerkt hier auch einen Austausch von Kulturen, der
       hegemoniale Grenzen verwischt, wie eben im Falle des auf seinen Gemälden
       angedeuteten vietnamesischen Katholizismus. Er ist zwar ein Erbe der
       französischen Kolonialzeit, doch hat er im heutigen Vietnam auch die Form
       einer freiheitlichen Religion angenommen.
       
       ## Komplex und verworren
       
       Die politische Gegenwart, die in dieser Ausstellung gezeichnet wird, ist
       komplex und verworren. Es gibt hier nicht den klaren postkolonialen Feind
       im Westen. Aber es gibt den einer menschen- und naturverachtenden
       Wirtschaft – eines „wirtschaftlichen Projekts“, wie Kader Attia es in
       seinem kuratorischen Statement formuliert.
       
       Wie sich diese etwa auf den weiblichen Körper auswirken kann, verdeutlichen
       Nil Yalters historische schwarz-weiße Zeichnungen, Fotografien und das
       Video zu der Insassin Mimi aus dem berüchtigten Pariser Frauengefängnis La
       Roquette.
       
       Bild, Ton und Wort von Yalters Installation zeigen je nur Details, aus
       denen aber ein präziser Eindruck über einen Ort entsteht, an dem bis 1974
       Frauen weggesperrt wurden, häufig weil sie über die Freiheit ihres eigenen
       Körpers verfügen wollten, wegen politischen Widerstands oder wegen
       Abtreibungen.
       
       Die ausgestellte Kunst variiert zwischen ganz persönlichen Erzählungen und
       vielmehr kühlen Datenansammlungen zu einer Gesellschaft im Konflikt. Des
       aktuellen politischen Konflikts, nämlich des russischen Angriffskriegs auf
       die Ukraine, hat sich diese Biennale jedoch kaum angenommen. Kurzfristig
       eingeschoben wirkt hierzu die einzige Arbeit. Das Video von Forensic
       Architecture über die Bombadierung des Fernsehturms an der
       Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar in Kiew scheint etwas hastig produziert
       für die sonst eher präzise arbeitende Londoner Recherchegruppe.
       
       ## Naher Osten
       
       Hingegen finden die kriegerischen Konflikte im Nahen Osten, in Israel und
       im Irak, besondere Aufmerksamkeit. In einem labyrinthischen Parcours von
       Jean-Jacques Lebel stößt man auf Abgründe. Es sind die noch immer im
       Internet kursierenden Folterbilder aus dem damaligen US-Militärgefängnis
       Abu Ghraib in Bagdad, die 2004 einen internationalen Aufschrei
       hervorriefen. Er zog sie auf großformatige Stellwände auf.
       
       Aus den groben Pixeln zeichnen sich die Türme nackter gefolterter Männer
       ab. Ein Albtraum, der jedoch auch heute unter iranisch-irakischer Führung
       weiter existieren dürfte, ganz zu schweigen von den Gebieten, wo immer noch
       Terrorgruppen wie der IS herrschen.
       
       Jean-Jacques Lebels drastische Installation bleibt jedoch ein Einzelfall.
       Was Kriege und Diktatur im Irak auch psychisch in der Gesellschaft
       hinterlassen haben, stellt Layth Kareem in einer feinfühligen Videoarbeit
       heraus. Er lud Menschen aus Bagdad auf einen Schrottplatz, der 2006 Ort
       eines terroristischen Bombenanschlags war.
       
       In der geschützten Kabine eines ausgedienten Kleintransporters ließ Kareem
       sie ihre Gedanken zu dem Unglück in einen Computer tippen. Sie schreiben
       einfache Sätze von größter Resignation. Trotzdem kann man beobachten, wie
       die Menschen in ihrem geplagten Alltag an diesem improvisierten Ort einen
       Raum finden, nachzudenken. Diese Berlin Biennale ist nicht leicht zu
       ertragen, doch in jenen einfachen persönlichen Geschichten, wie sie Layth
       Kareem erzählt, findet sie eine ihrer Stärken.
       
       ## Nigerias Pflanzen
       
       Doch [2][es gibt sie auch, die hoffnungsvollen, poetischen Wendungen der
       Kunst.] Temitayo Ogunbiyii hat in Nigeria Pflanzen ausfindig gemacht, die
       fast vergessen worden sind.
       
       Auf ihren feinen Zeichnungen erzählt sie teils fiktive Geschichten über
       diese Gewächse, erdenkt Rezepte, Geschmäcker, und den gesellschaftlichen
       Anlass ihres Verzehrs. Und Clément Cogitore lässt in seiner groß
       projizierten Videoarbeit jugendliche unterschiedlicher Herkunft zu
       Jean-Philippe Rameaus Barockoper „Les indes galantes“ tanzen.
       
       Wie sich die Kids zum höfischen Rhythmus krümmen und stampfen und dabei
       eine tänzerische Wucht entwickeln, die sich über jegliche Zuschreibungen,
       historische Bedeutungen hinwegsetzt. Es ist eine lustvolle Aneignung und
       Umdrehung von kulturellen Zeichen, die zeigt: Es gibt auch eine
       widerständige Energie in den künstlerischen Positionen.
       
       10 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
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