# taz.de -- Kunstausflug nach Frankfurt Oder: Selbst ein Blauer Engel ist dabei
       
       > Mehr als 20 Jahre stand ein Kino in Frankfurt (Oder) leer. Jetzt erzählt
       > dort die Künstlerinnen-Gruppe Endmoräne Geschichten von Licht und
       > Schatten.
       
 (IMG) Bild: Die Künstlerinnen der Gruppe Endmoräne auf dem Balkon des Kinos in Frankfurt (Oder)
       
       FRANKFURT (ODER) taz | „Lichtspieltheater der Jugend“, der Name, den das
       alte Kino in Frankfurt (Oder) in der Aufbauzeit der DDR bekam, ist noch zu
       lesen an der Fassade im sozialistischen Klassizismus. Ein großer Balkon vor
       den hohen Fenstern des Foyers lässt noch den einstigen Glanz und
       repräsentativen Anspruch dieses Kulturortes erahnen, während die Wandbilder
       links und rechts mit klassischen Motiven den Fortschritt im Arbeiter- und
       Bauernstaat beschwören. Doch dass der Verfall hier schon lange nistet,
       Feuchtigkeit in den Wänden wohnt und der Putz bröckelt, verraten nicht nur
       die Graffiti an der Fassade.
       
       „Den bunten Trubel der sonnigen Straße verlassend, tauche ich ein in die
       muffige Kühle des alten Kinos. Knisternder Fall von grüner und brauner
       Farbe begleitet meine Schritte auf dem zerstörten Parkett. Stille ist
       eingezogen nach dem letzten Applaus“, so hat treffend Diana Christen
       beschrieben, wie sich der Gang in die einst elegante Architektur heute
       anfühlt.
       
       Ihr Text und weitere von Frankfurter:innen, die das seit 24 Jahren
       verlassene Gebäude begehen konnten, hängt nun zwischen Detailaufnahmen der
       Einrichtung, die Michaela Nasoetion gemacht hat dort, wo einst die
       Garderobe war.
       
       Von einem Teilnehmer dieses Schreibprojekts hat Nasoetion wiederum von
       einem Film erfahren, „Yi Yi“, in dem sich zwei junge Männer über das Kino
       unterhalten. „Wir leben dreimal so lang, seitdem der Mensch den Film
       erfunden hat“, fasst der eine seine Bereicherung durch die filmischen
       Wirklichkeiten zusammen.
       
       ## Wendepunkt in der Geschichte des Kinos
       
       Das fand Michaela Nasoetion so interessant, dass sie Filmstills des Dialogs
       mit Untertiteln ausgedruckt und auf eine Wand montiert hat. Auf dem
       Fußboden darunter kann man die Titel alter Defa-Filme lesen, von
       veröffentlichten und verbotenen. So wird Kinoerinnerung konkret in einem
       Haus, das seit 1998 geschlossen ist – eine traurige Geschichte für viele
       Frankfurter:innen.
       
       Doch diese Geschichte ändert sich gerade. Nasoetion gehört zu der
       [1][Künstlerinnengruppe Endmoräne], die jetzt zwar nur für ein paar
       Wochenenden ortsbezogene Werke in dem alten Kino zeigt. Aber die
       Künstlerinnen wurden bei der Eröffnung am 2. Juli, zu der viele Besucher
       aus der Stadt gekommen waren, nicht nur von Oberbürgermeister René Wilke
       als eine Vorhut der Zukunft begrüßt, sondern auch von Ulrike Kremeier.
       
       Die ist Direktorin des [2][Brandenburgischen Landesmuseums für Moderne
       Kuns]t, bisher mit einem großen Standort in Cottbus. Das alte Kino in
       Frankfurt (Oder) soll nach Sanierung und dem Neubau eines
       Erweiterungsgebäude zu einem weiteren Kunststandort werden. Ein Wettbewerb
       war ausgeschrieben, den [3][das Architekturbüro BHBVT] dieses Jahr gewann.
       
       ## Roter Teppich für Purzelbäume
       
       Mitten im alten Kinosaal sind rote Teppichbahnen ausgelegt. Mit ihnen
       zitiert die Künstlerin Barbara Müller die Welt des Kino-Glamours und
       schlägt in einem Video eine Nutzung vor, die später besonders die Kinder
       begeistert: Purzelbäume die Schräge hinab. Wilke wies bei seiner Rede über
       die Teppiche hinweg ans andere Ende des Saals, wo Treppen eine Art Agora
       bilden sollen, als Treffpunkt, Ort des Austauschs, der Diskussion.
       
       Eine Zukunft für das Haus ist also in die Wege geleitet. Und das ist damit
       eine Ausnahme unter den vielen Orten, [4][die Endmoräne seit 1991 im Sommer
       bespielt hat], die meisten Häuser dem Verfall preisgegeben in den Jahren
       nach der Wende. Oft sind sie zwischen Privatisierung und Aufgabe durch die
       Kommunen zu Lost Places geworden. Und mit der Arbeit vor Ort sind die
       Künstlerinnen aus Berlin und Brandenburg, die den Verein Endmoräne bilden,
       allmählich zu Spezialistinnen darin geworden, mit Erinnerungen zu spielen
       und Zerstörtes neu zu interpretieren.
       
       Annette Munk hat in diesem Jahr im Kino die Stellen der Wände fotografiert,
       an denen Lampen abgeschraubt wurden: Und tatsächlich schauen die Löcher in
       der Wand und die Kabelreste den Betrachter an wie ein erstauntes Gesicht.
       Im Keller, wo Kohlen lagerten und Heizkessel standen, lassen Patrizia
       Pisani und Gisela Genthner Licht und Schatten tanzen, Bilder mit
       ungesichertem Status zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die aufscheinen und
       schon wieder verdunkelt werden, bevor man sie noch zu fassen bekommt.
       
       Die Ausstellung hat den sprechenden Titel „Filmriss“, denn von Bruchstellen
       und Lücken in der Erinnerung handelt nicht nur die Geschichte dieses
       Hauses, sondern die deutsche Geschichte allgemein. Frankfurt (Oder) ist
       eine Stadt, in der der Kontrast zwischen den wenigen historischen Bauten,
       dem sozialistischen Wohnungsbau und der seit den 1990ern entstandenen
       Neubauten visuell und stadträumlich hart geschnitten ist.
       
       ## Lücken klaffen, Lücken schließen
       
       Auch darauf gehen die Künstlerinnen ein. Dort, wo im Eichenparkett Lücken
       klaffen – Holz geklaut? –, hat Angela Lubic Scheiben aus Dämmplatten
       aufgestellt, die in ihrer Staffelung, im Zickzack der Riegel, im Aufragen
       von Türmen an die Stadtvisionen erinnern, die keine Vorgeschichte zu kennen
       glauben, Tabula rasa als Ausgangspunkt nehmen, wie es viele Stadtplaner der
       Nachkriegszeit in Ost und West machten.
       
       In diesem Foyer hat Berit Hummel auch ihre Video- und Soundinstallationen
       angebracht, die aus dem Archiv des Amateurfilmzentrums Frankfurt (Oder)
       schöpfen und nicht selten etwas von dem Willen ausstrahlen, eine bessere
       Zukunft auf den Weg zu bringen. Aber auch gelegentlich die Widerstände im
       Alltag erkennen lassen.
       
       „Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt, sagt die Welt, dass er zu früh geht“ –
       ein Song von den Puhdys aus den 1970er Jahren, hatte einen Gastauftritt im
       großen Kinosaal am Samstag der Eröffnung. Der Chor der Singakademie
       Frankfurt (Oder) war mit verschiedenen Liedern beteiligt und am Ende ließ
       deren Leiter Rudolf Tiersch den Puhdy-Song als Karaoke für alle laufen. Und
       dabei wurden Publikum, Künstlerinnen und Chor für einen kurzen Moment zu
       einem Kollektiv – ein schöner Vorschein dessen, was in dem alten Kino
       entstehen kann.
       
       Dessen Vergangenheit als Filmpalast, in dem auch in der Zwischenkriegszeit
       schon Kino gespielt wurde, zum Beispiel Filme mit Marlene Dietrich, greift
       Dorothea Neumann mit der Installation „Blauer Engel“ auf, einem
       flatterhaften Gebilde, das in blaues Licht gebadet ist. Neumann versteht
       das auch als Hommage an eine Schauspielerin, die Position gegen die Nazis
       bezog.
       
       Neumann ist im Vorstand des Vereins Endmoräne und arbeitet seit 2007 mit an
       der jährlichen Organisation. Vor der Eröffnung arbeiten die Künstlerinnen
       zwei Wochen [5][in einer sogenannten Sommerwerkstatt] vor Ort:
       „Sommerwerkstatt“ klingt zwar idyllisch, bedeutet aber vor allem, viel
       Dreck rauszuschaffen, Sicherungsmaßnahmen vorzunehmen, Strom zu beschaffen,
       sich Konzepte auszudenken, die sich mit geringem Materialaufwand in den
       unterschiedlichsten Räumen realisieren lassen. Wie das immer wieder
       gelingt, ist zu bewundern.
       
       8 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [4] /Kunstausflug-nach-Eberswalde/!5426317
 (DIR) [5] /Kunstausflug-nach-Eberswalde/!5426317
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Bettina Müller
       
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