# taz.de -- LGBTQ-Community in der Ukraine: Eine Insel der Toleranz
       
       > Für viele LGBTQ-Personen ist Kiew ein Zufluchtsort. Besonders wenn sie
       > ihre Heimat wegen Diskriminierung und Gewalt verlassen mussten.
       
 (IMG) Bild: Ukrainische Aktivist*innen demonstrieren vorm Parlament in Kiew für LGBTQ-Rechte, März 2021
       
       KIEW/CHARKIW taz | „Ich habe Glück“, sagt Schenja Tramwaj und lacht. Der
       dünne, bärtige 24-jährige Mann mit der rosa Mütze mit einem kleinen
       LGBT-Regenbogenanstecker sitzt auf einer Parkbank in Kiew. Er konnte dem
       78.000 Einwohner großen Ort Bachmut, nur wenige Kilometer von der Front in
       dem von Kiew kontrollierten Gebiet in der Ostukraine entfernt, nach Kiew
       entfliehen. Und da fühlt er sich sicher.
       
       „Bachmut ist eine Kleinstadt. Da spricht sich schnell herum, dass jemand
       schwul ist“, erzählt Tramwaj. Schon beim Betreten eines Busses oder eines
       Geschäftes besagten viele Blicke, dass man Bescheid weiß. Irgendwann aber
       hat er gar nicht mehr versucht, sein Schwulsein zu verstecken, sondern ging
       damit offensiv um. Tramwaj gründete die Gruppe „Donbass queer“, die
       Gesprächsrunden organisierte. Im Frühjahr letzten Jahres verbrannte die
       Gruppe öffentlichkeitswirksam eine Stoffpuppe mit dem Namen „Patriarchat“.
       Tramwaj gab Interviews, beteiligte sich an feministischen Märschen und
       Aktionen gegen häusliche Gewalt.
       
       „Ausgerechnet meine besten Freunde haben mir nicht verziehen, dass ich mein
       Schwulsein öffentlich gemacht habe.“ Nach dem Outing hätten die Bedrohungen
       durch Unbekannte, aber auch durch ehemals beste Freunde zugenommen. Beim
       Betreten eines Geschäftes habe er immer aus den Augenwinkeln geprüft, ob
       ihm nicht wieder irgendwo jemand auflauerte. Mit der Coronakrise sei alles
       schlimmer geworden. Durch sie seien die Menschen aggressiver geworden. Und
       ihre Wut hätten sie an Angehörigen von Minderheiten ausgelassen. „Wir
       konnten keine Treffen mehr organisieren, jeder war auf sich gestellt.“,
       sagt Tramwaj.
       
       Auch [1][in Kiew wurde 2020 die Gay Parade] wegen Coronamaßnahmen abgesagt.
       „Mir hatte das immer Zuversicht gegeben zu wissen, dass im fernen Kiew
       Tausende für die Rechte von LGBT auf die Straße gehen“ sagt Tramwaj.
       Irgendwann hielt er die Beschimpfungen und die Gewalt nicht mehr aus und
       zog nach Kiew.
       
       ## Verständnislose Eltern, Cybermobbing und Arbeitslosigkeit
       
       [2][Kiew ist gerade für viele LGBTIQ] so etwas wie eine Insel der Toleranz,
       selbst in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, weht schon ein ganz
       anderer Wind. Dort hatte, so erzählt es die Politologin Julia Bidenko der
       taz, die Partei des Präsidenten Selenski, die „Diener des Volkes“, bei den
       Wahlen im Oktober 2020 gerade mal sieben Prozent der Stimmen erhalten. „Die
       beiden aussichtsreichsten Kandidaten für die Bürgermeisterwahlen im Oktober
       sind derzeit Michajlo Dopkin und der kommissarische Bürgermeister Ihor
       Terechow. Michajlo Dopkin ist dem prorussischen Lager zuzurechnen. Er hatte
       2014 noch mit der russischen Fahne in der Hand demonstriert.“
       
       Mit den Worten „Sie werden doch nicht Passanten auf dem Weg hierher nach
       dem LGBT-Community-Zentrum gefragt haben?“, begrüßt Anna Scharyhina, Chefin
       dieses Zentrums, ihre Besucher. Mehrfach, so Scharyhina, sei die
       Beratungsstelle für Angehörige sexueller Minderheiten von Rechtsradikalen
       überfallen worden. Die meisten Besucher kämen aus der Provinz und aus den
       sogenannten Volksrepubliken. Und dort sei die Stimmung noch homophober als
       in Charkiw.
       
       Wer sich als trans Person um eine Wohnung bemüht, muss lange suchen, vor
       allem außerhalb der Metropolen. Doch mit der Coronakrise seien viele
       preisgünstige Wohnheime geschlossen worden. Wer seine Wohnung oder gar
       seinen Job verliere, müsse wieder zurück in den Ort, aus dem er oder sie
       nach Charkiw geflohen sei. Und dann komme alles wieder: verständnislose
       Eltern, gewalttätige Jugendliche, Cybermobbing, Arbeitslosigkeit und
       gehässige Blicke.
       
       Aber auch wer es schafft, in der Großstadt zu bleiben, kann in
       Schwierigkeiten geraten. Gegenüber dem Radiosender „hromadske“ berichtet
       der trans Mann Olexander, er habe wegen mangelnder Aufträge in der Pandemie
       seine Wohnung aufgeben müssen und sei in ein preisgünstiges Wohnheim
       umgezogen. Doch dort wurde das Leben für ihn zu einem Albtraum. Immer
       wieder habe man ihm in der Gemeinschaftsdusche aufgelauert, ihm sogar mit
       Vergewaltigung gedroht.
       
       ## Der Einfluss der Kirche
       
       Erschwerend kommt hinzu, dass die Apotheken in der Coronazeit
       Lieferschwierigkeiten für ihre Hormonpräparate haben. In der Folge mussten
       einige von ihnen die Hormontherapie abbrechen.
       
       Im Gegensatz zu ihren KollegInnen in Charkiw fühlen sich Anna Leonowa und
       Olena Hanich von der Gay Alliance in ihrem Büro in der Kiewer Innenstadt
       relativ sicher. Die Gay Alliance Ukraine ist eine der wichtigsten NGOs für
       LGBTIQ in der Ukraine. Sie betreibt im ganzen Land die Queer Homes,
       Kulturzentren für die Community. Auch sie bestätigen: die größten Probleme
       haben Angehörige sexueller Minderheiten vor allem in kleineren Städten. Und
       genau in diese müssen viele zurück, die aufgrund der Coronakrise ihre
       Arbeit verloren haben und sich deswegen eine Kiewer Wohnung nicht mehr
       leisten können.
       
       Im 350.000 Einwohner großen Winniza, so berichten die beiden, seien drei
       Männern von ihrem Vermieter gekündigt worden, weil dieser in dem festen
       Glauben war, Homosexuelle würden Corona schneller verbreiten als
       Heterosexuelle. In dieses Bild fügt sich auch die Äußerung des 92-jährigen
       Bischofs Filaret Denyssenko im vergangenen Jahr ein, der in
       gleichgeschlechtlichen Ehen eine Ursache des Aufkommens des Coronavirus
       sah. Zwar ist Homosexualität in der Ukraine seit 1991 legal, doch
       eingetragene Partnerschaften und gleichgeschlechtliche Ehen gibt es nicht.
       Derartige Äußerungen eines langjährigen Patriarchen und derzeit
       Ehrenpatriarchen der Orthodoxen Kirche der Ukraine haben Auswirkungen auf
       die öffentliche Meinung, erklärt Anna Lytvynova, Juristin der NGO
       „Insight“, die sich um die trans Personen und Lesben kümmert. „Dass wir in
       Gegenden mit einem besonders großen Einfluss der Kirche nicht an die
       Öffentlichkeit gehen können, liegt auch an Äußerungen wie diesen“, so
       Lytwynowa.
       
       Gerade unter Covid hätte, so Olena Hanich, die rechtsradikale Gruppierung
       „Tradition und Ordnung“ Zulauf unter Jugendlichen bekommen. [3][Die Gruppe
       kämpft gegen Feminismus und sexuelle Minderheiten.] Jedes Jahr organisiert
       die Gruppe Gegenveranstaltungen zu Frauendemonstrationen und LGBT-Märschen.
       
       Auch wenn die Homofeindlichkeit in der Ukraine insbesondere in der Provinz
       hoch ist, [4][ist der Staat immerhin bereit, LGBTIQ-Veranstaltungen durch
       die Polizei zu schützen]. Davon kann die russische LGBT-Community nur
       träumen. Nicht nur in Tschetschenien, wo Homosexuelle um ihr Leben
       fürchten, ist die Stimmung in Russland feindlicher gegenüber sexuellen
       Minderheiten als in der Ukraine. In Russland nutzt man das Thema, um gegen
       den Nachbarn Stimmung zu machen. „Ukrainische Armee plant Entsendung von
       Gay-Bataillonen in den Donbass“, titelte der sensationslüsterne Moskowskij
       Komsomoletz im März. Anlass für diese Überschrift waren Einträge auf einer
       Facebook-Plattform von ukrainischen LGBT-Militärs, die sich über einen
       LGBT-freundlichen Zug eines Bataillons ausgetauscht hatten.
       
       Und so zieht es viele Homosexuelle und trans Personen aus Russland in die
       Ukraine. Doch nicht alle sind deswegen in Sicherheit, sagt Schewtchenko von
       „Insight“ der taz. Derzeit betreue man eine Person, die aus Russland
       geflohen und mit einer Ukrainerin verheiratet sei. Doch diese Person wolle
       ihr Geschlecht angleichen lassen. „Da es in der Ukraine keine
       gleichgeschlechtlichen Ehen gibt, wird diese Ehe automatisch mit der
       Eintragung der Änderung des Geschlechts geschieden werden. Und damit wird
       die Aufenthaltsberechtigung für die russische Staatsbürgerin erlöschen.“
       Müsste sie die Ukraine verlassen, könnte es gefährlich für sie werden.
       
       Schenja Tramwaj ist froh, dass er auch in der Pandemie mit Kiew einen Ort
       für sich gefunden hat, an dem er gut leben kann. „Eigentlich gibt es
       schönere Orte zum Leben als Kiew, doch noch mal so etwas zu erleben wie in
       Bachmut, das könnte ich nicht ertragen.“
       
       19 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Minderheiten-in-der-Ukraine/!5312234
 (DIR) [2] /LGBTI-Rechte-in-Europa/!5593047
 (DIR) [3] /Rechtsradikale-in-der-Ukraine/!5753853
 (DIR) [4] /Polnischer-Aktivist-ueber-LGBTI-Szene/!5701043
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernhard Clasen
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt LGBTQIA-Community
 (DIR) Homophobie
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Russland
 (DIR) GNS
 (DIR) Ukraine
 (DIR) Transgender
 (DIR) Ukraine
 (DIR) Ukraine
 (DIR) Russland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Rechtsradikale in der Ukraine: Klare Kampfansage
       
       Nach dem Überfall auf eine Bar in Kiew protestieren Jugendliche gegen
       rechte Gewalt. Der Angriff ist nur einer von vielen.
       
 (DIR) Transfeindlichkeit in Russland: Doppelt gefangen
       
       Der 38-jährige Nazar Gulewitsch ist trans. Eine Haftstrafe in einem
       russischen Gefängnis wird für ihn lebensbedrohlich.
       
 (DIR) Politologin über Putins Ukrainepolitik: „Putins Politik? Nötigung!“
       
       Da die Ukraine vom Westen übersehen wird, hat der russische Präsident mehr
       Platz für Manöver, sagt die Politologin Lilija Schewzowa.
       
 (DIR) Konflikt in der Ostukraine: Virtuell hat der Krieg begonnen
       
       Russland und die Ukraine liefern sich medial einen Schlagabtausch. In
       Moskau denken einige schon über den Einsatz von Atomwaffen nach.
       
 (DIR) Menschenrechtlerin Tschikunowa gestorben: Kämpferin für das Leben
       
       Die Russin Tamara Tschikunowa hat sich viele Jahre lang gegen die
       Todesstrafe eingesetzt – auch wegen ihres Sohnes. Der war hingerichtet
       worden.