# taz.de -- Liebe zur Musik: Vom Mut, zu viel zu sein
       
       > Unsere Autorin hat sich einen Steinway-Flügel gekauft – und stellt sich
       > dem Mädchen, das sie einmal war.
       
 (IMG) Bild: Ein waldhonigfarbener Körper, das kleinste Modell der Firma Steinway & Son, gebaut in Hamburg 1940
       
       Es gibt verschiedene Möglichkeiten, seinen Ängsten ein Zuhause zu geben,
       ich habe mich für ein Klavier entschieden. Es hat einen waldhonigfarbenen
       Körper, ist 155 Zentimeter lang, das kleinste Modell der Firma Steinway &
       Sons, ein Flügel, gebaut in Hamburg im Kriegsjahr 1940. Die oberen Lagen
       sind brillant wie die seiner viel teureren, jüngeren Verwandten, aber nicht
       hysterisch, der Bass klingt rund und voll und die Mitte bleibt ausgewogen.
       Er hört sich sehr gut an. Nein, ich will es anders ausdrücken, ohne
       Zurückhaltung: So klingt Liebe.
       
       Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, ich würde mich finanziell für ein
       Musikinstrument verausgaben, ich hätte in stiller Nachsicht den Kopf
       geschüttelt. Früher vielleicht, hätte ich gedacht, als ein paar der
       Möglichkeiten, die man so hat als junger Mensch in Europa, eine Chance
       gehabt hätten, in Erfüllung zu gehen. Außerdem: wohin in der Berliner
       Familienwohnung mit so einem Elefanten von Instrument?
       
       Und, schlimmer, wenn ich mich trauen würde, auf ihm zu spielen, würden sie
       mich hören, die Nachbarn oben, die Nachbarn unten, die Leute auf der
       Straße. Irgendwann würden sie bei uns klingeln. Ich würde die Tür öffnen.
       Die Freundlichen unter ihnen würden lächeln und Begründungen erfinden,
       weshalb ich bitte nicht vormittags/mittags/nachmittags/abends Klavier
       spielen sollte wegen Baby/Homeoffice/sonstiger Sorgen, als wären sie schuld
       daran, dass ich sie störe. Als wäre nicht ich zu viel.
       
       Wahrscheinlich schreibe ich deshalb. Schreiben ist, abgesehen vom Klacken
       auf der Tastatur, nicht zu viel. Texte sind still, sie stören nicht, wenn
       sie entstehen, die Nachbarn nicht, und später müssen sie auch die Leser
       nicht stören. Ich meine nicht, dass Texte nicht aufrütteln oder neue
       Perspektiven eröffnen oder einen wütend, traurig, glücklich werden lassen
       können. Aber sie tun es auf eine distanzierte Art. Wenn sie denen, die sie
       lesen, nicht gefallen, scrollen sie halt weiter oder wickeln ihren Biomüll
       ins Papier. Was ich meine: Zwischen mir und dem Geschriebenen und zwischen
       mir und den Lesern gibt es erst das leere Dokument, dann die Buchstaben,
       dann die Redakteure, und vor allem gibt es Zeit.
       
       ## Keine Filter
       
       Musik ist das Gegenteil von Stille und das Gegenteil von Abstand. Man kann
       ihr nicht ausweichen. Man kann sie nicht festhalten. Wenn ein Ton kommt,
       dann fällt er in einen hinein. Zwischen mir und der Musik gibt es – nichts.
       Keinen Filter. Sie greift in mich hinein und zieht alles raus. Das ist
       extrem, wenn man ihr zuhört. Das kann unerträglich sein, wenn man sie
       macht.
       
       Der Gedanke, mich mit einem Klavier dem Mädchen zu stellen, das ich einmal
       war, kommt mir im Sommer vor einem Jahr. Meine Mutter ruft an und sagt,
       dass meine frühere Klavierlehrerin gestorben sei.
       
       Sie hieß Frau F., hatte eine tiefe Stimme und ein flächiges Gesicht. Sie
       war groß und blieb es auch, als ich ausgewachsen war. Ich verbrachte viele
       Stunden mit ihr, seit ich fünf war. Sie war unsere Nachbarin, früher
       Opernsängerin, später Korrepetitorin, dann private Klavierlehrerin. Ich
       ging jede Woche ein- bis zweimal zum Unterricht in ihr altes Haus, das
       unter dunklen Nadelbäumen kauerte wie in einer Höhle. In einem Erkerzimmer
       auf einem durchgescheuerten Teppich stand ihr Blüthner-Flügel.
       
       Seine Tasten waren angegraut von Generationen von Klavierschülern.
       Vergilbte Partituren quollen aus den Regalen, im Winter zog die Kälte durch
       die Fenster, im Sommer die Hitze, aber der Flügel schien den Temperaturen
       zu trotzen. Wenn alles andere in mir in Aufruhr war, der Flügel blieb
       stabil, voll und rund im Bass, hell und lyrisch in der Höhe. Er machte es
       mir leicht, denn er reagierte schon beim Gedanken, einer Note eine andere
       Farbe geben zu wollen.
       
       „Willst du unser Klavier haben?“, fragt meine Mutter in die Stille, die am
       Telefon entstanden ist, nachdem sie mir von Frau F.s Tod erzählt hat. Meine
       Mutter fängt gern große Gefühle mit dem Praktischen ein, meine Bewunderung
       dafür grenzt an Neid. Das Klavier stünde rum und staube ein, sagt sie, sie
       selbst spiele nicht mehr, unsere Kinder hätten bestimmt Freude daran.
       Vielleicht käme ja auch ich hin und wieder dazu, zu üben, wir könnten eine
       Spedition bestellen, kein Problem.
       
       Das Klavier meiner Eltern ist ein Instrument, für das es im Englischen den
       Begriff Upright Piano gibt. Der Klangkörper nimmt weniger Raum ein als bei
       einem Flügel, er steht aufrecht an der Wand. Wenn man die Tasten anschlägt,
       wird der Druck auf die Hämmer, die auf die Saiten treffen, erst durch eine
       Mechanik in die Senkrechte umgeleitet. Bis der Druck der Fingerkuppe also
       auf der Saite ankommt, dauert es beim Klavier immer einen Moment länger als
       beim Flügel, und besonders lange dauert es beim Klavier meiner Eltern. Man
       könnte auch sagen, es hat die Aura eines Volvos: praktisch, geduldig,
       alles, aber nicht reaktionsschnell. „Überleg’s dir“, sagt meine Mutter und
       beendet das Gespräch.
       
       Damals spielte ich am liebsten auf Frau F.s Blüthner. Als ich noch kleiner
       war, ließ ich Tiere über die Tasten kriechen, hüpfen, stelzen, schwimmen,
       schleichen. Ich erinnere mich an dieses Gefühl, das sich tief in mir
       einstellte, wenn ich ein Stückchen in Moll spielte und mir vorstellen
       sollte, es sei die Geschichte eines Hundes, der den Weg nicht mehr nach
       Hause fand. Ich erfuhr, wie sich etwas anfühlte, wofür ich erst später
       Worte kennenlernte: Verzweiflung zum Beispiel, wie im Fall des Hundes. Oder
       Überschwang. Oder Abschied. Abschied war der Moment, wenn ein Lieblingstakt
       verklang und ich ihn wieder erleben wollte, aber so nicht mehr hinbekam.
       
       Ich durfte zu ihm, wenn meine Eltern mir zu Hause sagten, ich hätte doch
       schon Stunden geübt, das reiche für den Tag, schließlich würde ich nicht
       Pianistin werden wollen. Oder? Sie sagten, Pianisten bräuchten nicht nur
       viel Talent, sondern auch viel Glück. Wenn jemand sogar alles hätte, Talent
       und Fleiß und Glück, dann würde ich nicht mein Leben damit verbringen
       wollen, nach Konzerten einsam in Hotelzimmern zu sitzen. Oder? Ich konnte
       mir damals nichts unter Einsamkeit in Hotelzimmern vorstellen. Aber es
       schien etwas zu sein, was man nicht riskieren sollte.
       
       In den Stunden im Erkerzimmer löste ich mich in der Musik auf. Als ich
       älter wurde, spürte ich Menschen und Charaktere um mich herum, wenn ich
       spielte, ich berauschte mich an Akkorden, und wenn ein Stück wie von selbst
       lief, hatte ich immer wieder dieselben Charaktere um mich, sogar meinte ich
       mal, meine verstorbene Großmutter zu spüren. Auf manche freute ich mich,
       manche gruselten mich, aber sie waren der Grund, weshalb ich immer
       weitermachte.
       
       Es war auch, als würde Frau F. hören, was in mir vorging, wenn ich nur zwei
       Takte spielte. Frau F. sagte mir Sätze wie: „Hat dich dein Bruder
       geärgert?“ Sie stellte fest: „Du bist verliebt“ oder: „Heute scheint die
       Sonne bei dir.“ Ich verstand, dass Musik mit dem Leben zusammenhängt, und
       durch sie lernte ich, dass ich vor der Musik nichts verstecken kann und
       dass Musik alles preisgibt.
       
       Das klingt ein bisschen pathetisch, aber das ist die Wahrheit. Und es wurde
       zum Problem. Wenn jemand die Triolen, das Tempo, die Dynamik, irgendwas
       kritisierte, dann kritisierte der Jemand nicht meine Technik oder die Art,
       wie ich Musik machte.
       
       Er urteilte über mich.
       
       Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb selbst Profimusiker immer
       wieder behaupten, sie stünden ganz im Dienst eines Werks. Als seien sie
       überzeugt, es würde helfen, sich hinter den Komponisten zu verstecken. Für
       mich klingt es, als sagten sie, das, was ihr hört, bin gar nicht ich, es
       ist ein anderer. Als dürften sie nicht ich sagen in der Musik. Vielleicht
       ist das ein Schutz, ich weiß es nicht.
       
       Frau F. begleitete mich damals zu Vorspielen. Manche fanden mit anderen
       ihrer Schüler statt, andere vor Leuten, die mir nicht vertraut waren.
       Anfangs waren Vorspiele etwas, was man halt so machte als Klavierschülerin.
       Aber dann wurde ich Teenager und begann, Blicke wahrzunehmen. Wie unter
       einer Lupe sah ich die Mimik der Menschen im Raum, ich hörte sie tuscheln,
       bezog jede Regung auf mich.
       
       Ich erinnere mich an ein Vorspiel in der Aula meines Gymnasiums. Es war
       naturwissenschaftlich ausgerichtet. In der Schule glänzte, wer in Physik
       glänzte und in Mathe und so. Musik, Kunst, Sprachen, die waren halt dabei,
       aber ich meine, es gab damals unter den Menschen, die diese Fächer
       unterrichteten, nur den Kunstlehrer, den nicht der Frust über eine
       verlorene Biografie betrübte.
       
       An diesem Vorspielabend war die ganze Schule anwesend, gut 400 Schüler. Ich
       weiß nicht mehr, warum es diesen Abend gegeben hatte und ob zuvor etwas
       vorgefallen war, aber ich weiß, dass ich auf den Nadelfilzteppich im Raum
       starrte. Ich starrte auf den Nadelfilz und wartete darauf, aufgerufen zu
       werden. Frau F. blieb an meiner Seite, während ich zitterte und flach
       atmete, das kannte ich. Als meine Hände vereisten, legte ich sie in warmes
       Wasser. Das Wasser half nicht. Die Hände blieben Eis, mein Debussy blieb es
       auch, steif und leise, das fand dann auch jemand, der im Publikum saß.
       
       Ich brachte den Debussy hinter mich, habe mich wahrscheinlich nicht
       beschämend verspielt, aber ich erinnere mich, dass ich jede Note einzeln
       hörte. Als sähe man Zähne, Nase, Poren, Haare, aber nicht den Menschen, zu
       dem das Gesicht gehört. Oder träte zu nah an ein Seerosengemälde von Monet
       und erkennte Pinselstriche und Farbtupfen, aber nicht das, was sie
       bedeuten. Es war, als wäre ich auseinandergefallen.
       
       Nach diesem Vorspiel kam ich weiterhin ins Erkerzimmer im Haus unter den
       Nadelbäumen, zum vollen Bass des Blüthners, seiner warmen Mitte, der
       lyrischen Höhe. Frau F. sagte, sie könne mir nichts mehr beibringen, ich
       solle zu einer anderen Lehrerin gehen, wenn ich diesen Liszt fertighätte.
       Ich übte alles, die Läufe, das Flirren und Leuchten, die handspreizenden
       Akkorde, die Melodie in der Mitte, die der Daumen zu spielen hatte. Aber
       die letzte Seite des Liszts rührte ich nicht an. Ich kann sie bis heute
       nicht. Frau F. redete mir gut zu, sie redete mit meinen Eltern, meldete
       mich bei Wettbewerben an. Dann meldete sie mich wieder ab.
       
       Meine Mutter setzt Ideen gern um. Nach unserem Telefonat bestellt sie einen
       Klaviertechniker, der das Instrument untersucht. Es ist kaum verstimmt, die
       Tasten laufen gleichmäßig. Der Techniker öffnet den Klangkörper und stellt
       einen Riss in der Gussplatte fest. Die Gussplatte verhält sich im
       Instrument wie das Becken im Körper eines Menschen, es hält alles zusammen.
       Der Riss in der Gussplatte ist haarfein, man kann auf dem Klavier noch
       spielen, einen Transport würde es nicht überleben. Die Nachricht enttäuscht
       mich nicht.
       
       Als die Schule mich nach dem Abi endlich freigab, zog ich in eine andere
       Stadt und stopfte Hunderttausende Buchstaben zwischen die Musik und mich.
       Vielleicht kann man sagen, ein Musikwissenschaftsstudium ist der Versuch,
       Abstand zur Musik zu bekommen. Ich bekam Worte für sie. Ich lernte, Sonaten
       in ihre Bestandteile zu zerlegen, Terzverwandtschaften zu erkennen, und wie
       die unauflösbare Sehnsucht im Tristan-Akkord funktioniert.
       
       Ich schrieb über die Wirkung offener Schlüsse und las Bücher darüber, wie
       Mozart es schaffte, dass die Musik seiner Opern ehrlicher war als die
       Texte, die seine Figuren sangen. Abiturtreffen mied ich, um nicht das
       Berufsbild eines Musikwissenschaftlers definieren zu müssen. In meinem
       Studentenzimmer stand ein E-Piano, es klang farblos, aber okay, nur die
       Charaktere, die mich einst umgeben hatten, wenn ich auf dem Blüthner
       spielte, die kamen nicht zurück.
       
       ## Likör und Resignation
       
       Wenn ich meine Eltern besuchte, schaute ich anfangs bei Frau F. vorbei,
       setzte mich ins Erkerzimmer. Meine Finger waren träge geworden, klar, aber
       sie hörte noch immer meine inneren Zustände in der Musik. Sie fragte nicht
       mehr, warum ich es nicht an der Hochschule probiert hatte. Sie bot mir
       Likör an, ich meinte, Resignation in ihrem Gesicht zu erkennen, ich lehnte
       ab. Als ich ihr ein nächstes Mal begegnete, stellte ich mich an den
       Gartenzaun, um ein paar Sätze mit ihr zu wechseln, später winkte ich ihr
       eilig von der Straße zu. Dann sah ich sie nicht mehr.
       
       Ich schrieb über die Mutteruhr der DDR, spätes Coming-out älterer Männer,
       darüber, warum sich Menschen Kunst an die Wand hängen, und wie das
       Auswahlverfahren für eine Stelle im Orchester Bewerber zermürben kann. Ich
       interviewte Musiker, fragte sie, warum sie als Teenager nicht aufgehört
       hatten, ob sie jemals einen Plan B hatten (meistens nicht) oder was sie
       sonst machten, wenn nicht Musik. Das ging. Im Grunde ging es in Gesprächen
       mit Musikern oft um ein Konzept (nur Lieder, die im Krieg entstanden
       waren), eine Biografie (nur Stücke von Clara Schumann), ein Instrument
       (Mozarts Geige). Aber die Musik selbst mied ich wie eine unerfüllte Liebe:
       Ich ließ sie nicht an mich heran. Dafür fand ich gute Gründe. Die Arbeit.
       Die kleinen Kinder. Der Klang des E-Pianos.
       
       Im Rückblick zerfällt jede Entscheidung in Gründe, und natürlich könnte ich
       behaupten, sie sei auf bestimmte Ereignisse zurückzuführen. Eines erlebe
       ich täglich. Seit einiger Zeit wohnt ein Flötist über uns. Er spielt über
       Stunden auf einer Bansuri, einer indischen Flöte. Die holzigen Vierteltöne
       ziehen in dünnen Linien in unsere Wohnung. Sie zersetzen meine Sätze, bevor
       ich sie aus meinem Kopf in den Computer tippen kann. Anders ausgedrückt:
       Die Flöte nervt. Aber ich kann ihr die Vierteltöne nicht nachtragen, denn
       wenn ich unsern Nachbarn im Treppenhaus sehe, sieht er glücklich aus.
       
       Ein anderes Erlebnis waren die Begegnungen mit einer Person, die so viel
       Fleiß und Talent und Glück gehabt hatte, dass sie das Dilemma mit den
       einsamen Hotelzimmern kannte. Sie schien auch das zu sein, wofür das Wort
       unstet erfunden wurde: mal charmant, mal verletzend, mal total deprimiert,
       dann voller Freude. Heute würde ich sagen, sie hatte vielleicht so viel
       Zeit mit Musik verbracht, dass sie wurde wie sie: Mal stößt sie dich weg,
       dann umarmt sie dich. Sie ist nie eindeutig. Und das Schmerzhafteste an
       ihr: Wenn ein Ton verklungen ist, holt man ihn nicht zurück. Er kommt nie
       wieder, wie er war.
       
       Wenn dieser Mensch Musik machte, schien er sein Publikum in die Gegenwart
       zu holen, jedes Mal. Er tat das in hoher Frequenz. Die Musik schien ihn so
       anzufüllen, dass er noch andere Ventile brauchte als Konzerte: Worte. Er
       sprach über Musik und über vieles andere, manche urteilten deshalb schlecht
       über ihn, als dürften Musiker nichts anderes machen als Musik. Ich war ihm
       dafür dankbar. Ich fand nicht, dass er ein extra Diplom dafür bräuchte.
       Nach dieser Logik würde auch jemand wie ich ein Diplom brauchen, um wieder
       Klavier spielen zu dürfen, und zwei, wenn ich auf einem Flügel spielen
       wollte. Auf meinem Flügel. Es muss ja nicht Liszt sein.
       
       Der Flötist mit seiner Bansuri, der Pianist mit seinen Ventilen: Sie waren
       und sind für mich das, was ich mir unter frei vorstelle.
       
       An einem diesigen Wintertag, ein paar Wochen vor dem Shutdown, betrete ich
       ein Klavierfachgeschäft in Berlin. Ich eile an den schwarz lackierten
       Flügeln vorbei zu den Upright Pianos und setze mich ans erste, ans zweite.
       Sie klingen schön, laufen leicht. Ich entdecke einen Hebel unter der
       Tastatur, lege ihn um. Das Klavier vibriert nicht mehr. Man hört den Klang
       nur über Kopfhörer. Eine Stummschaltung. Wie für mich gemacht!
       
       Vielleicht wage ich mich deshalb an den ersten Flügel, mir kann nicht viel
       passieren, denke ich. Ich staune über die Leichtigkeit, mit der die Taste
       den Druck meiner Finger auf den Hammer übersetzt und der Hammer auf die
       Saite. Die Schwerkraft ist mein Freund. Ich muss den Finger kaum heben, um
       denselben Ton noch mal anzuschlagen. Ich kann sehr leise spielen. Sehr,
       sehr leise. Ich kann ihn brüllen lassen.
       
       ## Wie eine Einbauküche
       
       Der Flügel ist weiß, ich denke an Udo Jürgens. Ich setze mich an den
       nächsten, schwarz lackiert, die Klarheit seines Klangs fasziniert mich. Ein
       anderer kostet so viel wie unsere Einbauküche. Seine Höhe: kräftig, aber
       kühl. Der freundliche Klavierfachmann erzählt, wie ein Instrument sich
       verändere, je nachdem, wer es spiele. Jeder Flügel, der neu aus der Fabrik
       kommt, von der Chefintoneurin geprüft, habe einen Grundcharakter, der sich
       weiter ausbilde, je nachdem, wer ihn regelmäßig spiele. Von da an würde das
       Holz in Schwingung versetzt. Manche können wunderbar mit dem einen
       Instrument spielen, mit dem nächsten aber nicht, da klinge es so schlimm,
       dass sie bei Steinway am liebsten sofort den Klavierstimmer bestellen
       würden.
       
       In einem Nebenraum steht ein waldhonigfarbenes Instrument, sie haben es
       kürzlich aus dem Haus eines Arztes in Berlin-Lichterfelde geholt. Nach dem
       Tod des Arztes ist seine Frau in ein Pflegeheim gezogen, den Flügel konnte
       sie nicht mitnehmen. Mehr kann der nette Klavierfachverkäufer nicht über
       die Familie sagen. Es ist ein S-155, S wie für Small.
       
       Ich klappe den Deckel auf, setze mich aber nicht. Wenn er so klänge, wie
       ich fand, dass er aussah? Warm? Nahbar? Was, wenn ich mich verliebte? Er
       kostet deutlich weniger als manche Instrumente im Raum, aber immer noch so
       viel, dass mein Mann mich für übergeschnappt erklären würde. Im Stehen
       schlage ich die Tasten an. Gut, es ist kein Konzertflügel, er muss auch
       nicht ein Orchester überstrahlen, er soll sich anschmiegen, begleiten, er
       ist für die Hausmusik gedacht worden. Vielleicht liegt es an seinem
       Baujahr, 1940, dass er so lyrisch klingt. Die Zeit war kalt, der Klang
       hielt dagegen. Gibt nach, gibt zurück. Umarmt.
       
       Ich fahre nach Hause, messe unser Wohnzimmer aus und rufe die Bank an.
       
       In der Nacht stehe ich auf der Bühne der Elbphilharmonie. Ihre Wände wie in
       einer Waldorfschule, keine Kanten, fett gespachtelt. Ich atme flach, finde
       meine Noten nicht. Schreite über die Bühne, sie ist mit Nadelfilz bezogen.
       Setze mich an den Flügel, er reflektiert die Scheinwerfer. Das Licht
       blendet. Ich sehe nichts und spüre die Erwartung. Ich werde steif. Als ich
       aufwache, rast mein Puls.
       
       Ich rufe einen Freund an, er ist Musiker, einer von denen, die sich aufs
       Wesentliche beschränken. Ich erzähle ihm von der Farbe, vom runden Bass,
       von den Kosten, vom fehlenden Platz in der Wohnung, von den Nachbarn, ich
       frage ihn, was man bei einem Flügel beachten muss, als wäre er ein
       Gebrauchtwagen und mein Freund ein Hobbyschrauber. Er sagt nicht viel. Er
       sagt, das höre sich an, als habe sich dieses Gefühl eingestellt, wenn alle
       anderen Fragen keine Rolle mehr spielen, das gleiche Gefühl, einen Menschen
       zu treffen, von dem man feststelle, man möge ihn, freundschaftlich,
       romantisch. When it’s right, it’s right, sagt er. Alternativen vergleichen
       zu wollen sei völlig überschätzt.
       
       Ich muss plötzlich an Grigori Sokolov denken, der sich die Seriennummern
       der Flügel notiert, damit er sich merkt, welcher zu welchem Programm passt,
       sodass er einen bestimmten Flügel für einen bestimmten Abend anfordern
       konnte, aber das ist eine andere Geschichte.
       
       Zwei Tage später unterschreibe ich den Kaufvertrag. Im März tragen zwei
       schwere Männer meinen Steinway S-155 ins Wohnzimmer, es ist zum Beginn des
       Shutdowns. Ich habe vielleicht immer noch nicht genug Fleiß und Talent,
       aber jetzt Glück und Zeit. Immerhin hat bislang noch kein Nachbar
       geklingelt.
       
       Inzwischen spielt auch die fünfjährige Tochter auf dem Instrument. Sie baut
       sich ein Kuscheltierpublikum. Ihre Lehrerin sagt, wir sollten den Flügel
       aus der Ecke rausschieben, sie sollte sich früh daran gewöhnen, dass sie
       nicht versteckt in einer Höhle sitzt. Klavier spielen sei leicht, sagt die
       Lehrerin. Es sei nur eine Frage, wie man die Finger organisiert.
       
       26 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carolin Pirich
       
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