# taz.de -- Selbstwert und Liebe: Me, Myself and Mitgefühl
       
       > Nur wer sich selbst liebt, kann geliebt werden, heißt es. Unsere Autorin
       > hat lange mit der Selbstliebe gekämpft und setzt heute auf ein anderes
       > Ideal.
       
 (IMG) Bild: Zu Selbstliebe gibt es keinen Konsens
       
       An einem warmen Juli-Nachmittag haben sich in einem Park in
       Berlin-Schöneberg um die dreißig Menschen versammelt, alle weiß gekleidet.
       Lampions hängen in den Bäumen, ein Tisch droht unter Kuchen und vielen
       Sektflaschen zusammenzubrechen. Decken liegen auf der hügeligen Wiese, und
       aus tragbaren Mini-Boxen tönt Elektromusik.
       
       Gleich wird hier eine Hochzeit stattfinden – und ich gehöre zu den Gästen.
       Ich habe einen ziemlich aufwendigen Salat gemacht und frage mich, ob er den
       anderen schmecken wird und wie ich unauffällig ein Lob dafür einheimsen
       könnte. Während ich noch über den Salat nachdenke, erklingt der
       Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn. Da kommt die Braut!
       
       Meine Freundin aus Schulzeiten, Ljuba, läuft langsam unter den Bäumen zu
       uns durch. In der einen Hand hält sie ein Blumenbouquet, in der anderen
       einen Becher Sekt. Kurz bevor sie bei ihrer jubelnden Hochzeitsgesellschaft
       angekommen ist, reißt sie die Arme feierlich in die Höhe. Sie trägt einen
       weißen Tüllrock und ein weißes Tanktop, auf dem steht: #selflove.
       
       Nach dem ersten Lockdown zu Beginn des Jahres hat sich Ljuba von ihrem
       Freund getrennt und beschlossen, sich einfach selbst zu heiraten. Und zwar
       mit dem kompletten Programm: Es gibt eine Selbstliebe-Zeremonie, Livemusik,
       sogar ihren Brautstrauß wirft Ljuba in die Menge.
       
       ## Weit entfernt von Selbstliebe
       
       Es ist eine der schönsten Hochzeiten, auf der ich je war. Die Gäste sitzen
       beseelt auf den Decken, machen Selfies und Instastories. Fast alle haben
       immer wieder Tränen in den Augen. Jeder hier will das, was Ljuba jetzt hat:
       ewige Selbstliebe. Und für alle ist das ein fast unerreichbares Ziel.
       
       Ich zumindest weiß: Ich bin weit davon entfernt, mich selbst zu heiraten.
       Selbstliebe ist für mich seelische Sisyphusarbeit – eine moderne
       Erleuchtung, die ich jahrelang versucht habe zu erreichen und die mich
       mittlerweile ziemlich nervt.
       
       Wenn ich #selbstliebe bei Instagram suche, erscheinen über eine Million
       Beiträge. Es sind vorwiegend Frauen in herbstlicher Kleidung und hinter
       Sepia-Filtern, die zufrieden in die Kamera lächeln. Viele lassen ihr
       Gesicht von der Sonne wärmen. Einige fotografieren glasierte Donuts, andere
       machen Yogaposen auf einem Berg. Wenn ich so durch Instagram scrolle,
       scheint #selbstliebe erst mal wie eine saisonale Ästhetik, wie ein
       Werbeslogan, mit dem Geld verdient wird. Auf Google sieht es ähnlich aus:
       Es gibt Coaches, Blogs, unzählige Checklisten mit Titeln wie „10 Tipps, wie
       du dich selbst lieben kannst“ oder „8 Dinge, die Menschen mit viel
       Selbstliebe anders machen“. Es gibt sogar Selbstliebe-Adventskalender.
       
       Wie wir uns selbst behandeln, ist wichtig. Wenn ich mich halbwegs okay
       finde, trinke ich den Tag über genügend Wasser, auch wenn es nicht die
       empfohlenen zwei Liter werden. Aber Selbstliebe bedeutet für mich noch
       mehr: die Fähigkeit, sich in jeder Facette und Stimmung lieben zu können.
       Geht das überhaupt? Und was ist daran gut?
       
       Zu Selbstliebe gibt es keinen Konsens. Wir sind uns einig, teamfähig,
       hilfsbereit oder nicht zu perfektionistisch sein zu wollen, aber
       Selbstliebe ist noch kein ethischer Wert. Das sollte sie vielleicht werden,
       denn danach zu streben, mit sich selbst klarzukommen, ist schon gut. Und
       wahrscheinlich ein Privileg, das erst auf der Agenda steht, wenn alle
       anderen Grundbedürfnisse gestillt sind: Essen, Obdach, Arbeit, Geld. Dann
       stehen wir da und wissen nicht, wo wir anfangen sollen. Und fotografieren
       Donuts und Kaffeetassen vor herbstlichen Wollpullovern. Weil wir
       überfordert sind.
       
       Auf das Wort „Selbstliebe“ bin ich in meinen Zwanzigern gestoßen. Ich saß
       allein in meiner Einzimmerwohnung – auf meinem Bauch der Laptop – und
       klickte mich durch ein Tumblr-Blog. Nach einigen Fotos kam ich bei einer
       Zitatgrafik an, auf der stand:
       
       „Nur wer sich selbst liebt, kann auch geliebt werden.“ 
       
       Ich glotzte schockiert auf den Bildschirm. Das stand da einfach so im
       Internet rum: Die Lösung! Deswegen hatte ich so viele schlechte Erfahrungen
       mit Männern gesammelt! Ich fühlte mich ertappt und gerettet zugleich, als
       ich den Laptop vom Bauch auf meinen Beistelltisch stellte. Damit ich also
       eine funktionierende Beziehung leben konnte, musste ich mich nur ordentlich
       selbst lieben. Alles klar, das konnte ja so schwer nicht sein.
       
       Spoiler: Es war schwer. Man kann mir nicht vorwerfen, dass ich es nicht
       versucht hätte. Ich pflegte meine Haut mit billigen Gesichtsmasken, ganz im
       Sinne der selfcare, der Selbstfürsorge. Ich sang hundert Mal Beyoncés „Me,
       Myself and I“ Wort für Wort mit, als wäre es eine magische Manifestation,
       und versuchte, selbstbewusst zu wirken. Das klappte auch: Oft wurde mir von
       anderen zurückgemeldet, wie tough ich doch sei. Ich fühlte mich
       geschmeichelt und gleichzeitig ungesehen. Wie kamen die Menschen darauf?
       Weil ich laut redete oder Witze über mich machte? Sah denn niemand, wie
       viel Anspannung in mir war?
       
       Ich bin in einem Haushalt groß geworden, in dem Gewalt alltäglich war. Im
       5. Stock einer engen Dreizimmerwohnung am Checkpoint Charlie in Berlin,
       inmitten von mentaler und physischer Gewalt. Ich lernte früh, Verantwortung
       für andere zu übernehmen. Ich passte auf meine Mutter auf und lag nachts
       wach, um sicherzugehen, dass die Streitigkeiten meiner Eltern nicht
       eskalierten. Oft ging es dabei innerhalb von Sekunden um Leben und Tod. In
       meiner Kindheit war kein Platz für Selbstliebe. Oft habe ich mich nicht
       einmal selbst gespürt.
       
       Dann kam die Pubertät und ich wurde mir über meinen Körper bewusst. Ich
       hatte dunkle Körperbehaarung, alle anderen Mädchen aus der Klasse hatten
       blonde Beinhärchen, die sie „gar nicht rasieren müssen, weil die eh
       unsichtbar sind“. Ich war neidisch. Abseits der dunklen Haare hatten meine
       Beine auch nicht die vorteilhafteste Form. Da, wo andere Fesseln haben, die
       das schlanke Bein in den Fuß überleiten, hatte ich einen stumpfen Übergang.
       Meine Mutter hat meine Beine mal mitleidig „Kartoffelstampfer“ genannt. Die
       hätte ich eben leider so vererbt bekommen. Deutsche Kartoffelstampfer mit
       türkischer Behaarung. Schlimmer hätte es mich nicht treffen können, dachte
       ich damals.
       
       Nicht alle sind so aufgewachsen wie ich, mit streitenden Eltern und
       Kartoffelstampfer-Beinen. Aber jeder Mensch hat sein Päckchen zu tragen,
       wie meine Mutter immer sagt. Und Selbstliebe-Skills scheinen vielen von uns
       nicht in die Wiege gelegt worden zu sein. Andere Themen stehen in der
       Kindererziehung an erster Stelle: Ehrlichkeit, Höflichkeit, der Umgang mit
       anderen. Was ist mit dem Umgang mit uns selbst? Wie lernen wir früh genug,
       uns selbst zu lieben?
       
       Ich gebe diese Frage an jemanden weiter, der sich beruflich mit Selbstliebe
       beschäftigt. Bodo Karsten Unkelbach ist Facharzt für Psychiatrie und
       Psychotherapie und hat ein Buch zum Thema „Selbstliebe“ geschrieben. Der
       51-Jährige spricht mit sanfter Stimme ins Telefon und wählt seine Worte mit
       Bedacht. Auf meine Frage hin, warum wir Selbstliebe als Kinder nicht aktiv
       beigebracht bekommen, sagt er: „Kinder lernen das Allermeiste unbewusst und
       über Beziehungen. Wenn ein Kind merkt, dass es geschätzt wird, dann
       überträgt sich das ganz automatisch auf das Selbstbild.“
       
       ## Erwartungen an mich selbst
       
       Mein Selbstbild war lange eine Collage aus Fremdzuschreibungen und
       Erwartungen an mich selbst. Mittlerweile kenne ich mich ganz gut, zumindest
       immer besser. Aber liebe ich mich? Das Verhältnis zu meinen Beinen hat sich
       jedenfalls nicht magisch von Hass in Liebe gewandelt. Ich habe nur nach
       jahrelangem Gebrauch von Kaltwachsstreifen, Enthaarungscremes, Epilierern
       und Rasierern keinen Bezug mehr zu ihnen. Sie sind da, sie funktionieren,
       ich schaue sie einfach nicht so oft an. (Tun Sie es also bitte auch nicht,
       wenn Sie mich mal irgendwo sehen.)
       
       Wenn ich das mit der Selbstliebe wirklich hinkriegen würde, dann müsste ich
       meine Beine trotzdem schön finden und auch gern zeigen. Und das ist eines
       meiner Probleme mit dem Begriff: Er suggeriert mir einen Zwang.
       
       Karsten Unkelbach findet den Begriff „Selbstliebe“ hingegen wertvoll. Es
       gehe ihm dabei vor allem um Fragen wie: „Gehe ich gut mit mir um? Tue ich
       mir selbst Gutes und nehme mein Leben so in die Hand, dass ich
       grundsätzlich zufrieden bin? Fühle ich mich mit mir selbst wohl? Bin ich
       gern mit mir allein?“
       
       Ich bin gern allein, nehme mein Leben täglich in die Hand und tue mir
       regelmäßig Gutes. Trotzdem mache ich mir Gedanken um meine
       Charakterschwächen und lasse mich selten einfach in Ruhe. Da hilft keine
       Feuchtigkeitsmaske, kein Song von Beyoncé und kein teures
       Selbstliebe-Seminar. Wenn man nicht weiß, wie man sich selbst in Ruhe
       lassen kann, wird es schwierig mit der Selbstliebe.
       
       Meine Beziehungen wurden seit der Tumblr-Offenbarung auch nicht besser. Ich
       verliebte mich vor allem in Narzissten, die auf mich wie Menschen wirkten,
       die das mit der Selbstliebe raushatten. Ironischerweise sind Narzissten mit
       am weitesten davon entfernt, einen gesunden Umgang mit sich (und anderen)
       zu pflegen. Die, die ich getroffen habe, ließen kaum Nähe zu und lebten
       gleichzeitig in ständiger Angst vor Ablehnung. In diesen Beziehungen bin
       ich zu einer Selbstbestätigungs-Tankstelle verkommen.
       
       Meine eigenen Bedürfnisse verschwanden. Nach einigen Jahren Gaslighting,
       einer Form von psychischer Gewalt, und zahllosen Grenzüberschreitungen von
       Narzissten in meinem Leben war mein Selbstbewusstsein tief gestört. Hatte
       mein Ex mich wirklich immer angelogen, weil er nicht anders konnte, weil
       ich so „schwierig“ war? Reagierte ich zu sensibel? Hatte ich zu hohe
       Ansprüche? War ich zu kontrollierend, wenn ich mir Ehrlichkeit wünschte?
       
       Irgendwann war ich überzeugt, leider einfach nicht liebenswürdig zu sein.
       Da konnte niemand was für, wir haben es alle versucht. Vielleicht waren es
       auch meine Kartoffelstampfer. Jedenfalls konnte ich nicht geliebt werden
       und das war meine Schuld. Ich liebte mich ja nicht einmal selbst.
       
       Das Tumblr-Zitat zur Selbstliebe hat meine Verunsicherung und mein
       Schuldgefühl verstärkt. In einer besonders schlimmen Beziehung habe ich das
       missbräuchliche Verhalten meines Gegenübers auch darauf zurückgeführt, dass
       ich einfach noch nicht bei echter Selbstliebe angekommen war. Mein
       Mittzwanziger-Kopf dachte: „Wenn du dich lieben könntest, würdest du dich
       so nicht behandeln lassen.“
       
       ## Es liegt an den anderen
       
       Heute weiß ich: Mangelnde Selbstliebe als Erklärungsversuch für das, was
       mir widerfuhr, war mein verzweifelter Versuch, Kontrolle über Situationen
       zu bekommen, die nicht kontrollierbar waren. Und ja, sicher kann man besser
       Grenzen ziehen, wenn man gut mit sich umgeht. Das heißt aber nicht, dass
       ich verantwortlich bin, wenn jemand sich mir gegenüber offensichtlich
       falsch verhält. Nur weil ich mich selbst nicht liebe, muss mich jemand
       anderes nicht hassen. Es hat lange gedauert, bis ich verstand: Manchmal
       liegt es wirklich nicht an mir, sondern an den anderen.
       
       Mit meinem Lebensziel „Selbstliebe“ hatte ich ein unerreichbares Idealbild
       von mir geschaffen. Nach über zwanzig Jahren in der deutschen Gesellschaft
       und ungefähr sieben Jahren im World Wide Web sah es so in meinem Kopf aus:
       „Du sollst dich lieben, aber nicht zeigen, dass du stolz auf dich bist. Du
       sollst dir verzeihen, aber deine Fehler nicht wiederholen. Liebe dich
       selbst, aber sei auf keinen Fall selbstverliebt.“ Teils sind das Werte, die
       vor allem Frauen oder weiblich gelesenen Menschen vermittelt werden.
       
       Bloß nicht „zu viel“ sein, keine Probleme machen oder überhaupt haben.
       Niemanden mit der eigenen Person stören. Wie sollte mir das dabei helfen,
       mich selbst zu akzeptieren? Weisheiten wie das Zitat auf Tumblr gaben
       Menschen wie mir Werkzeuge dafür, sich für die Gefühle und Taten anderer
       verantwortlich zu fühlen. Klassische Täter-Opfer-Umkehr, präsentiert von
       Tumblr-User:innen, die es auch nicht besser wussten. Selbstliebe lernen im
       Internet der frühen 2000er? Try again.
       
       Auch heute ist Social Media in Sachen Selbstliebe ein zweischneidiges
       Schwert. Unser Selbstwert (ein weiterer Aspekt von Selbstliebe) kann auf
       Instagram schnell bröckeln. Vor allem, wenn User:innen nur Ausschnitte
       von sich teilen, in denen sie in einer weiß-beige eingerichteten
       Neubauwohnung Thermomix-Kekse backen, mit einem Beauty-Filter, der ihre
       Haut porenlos wirken lässt. Da können auch mal Minderwertigkeitsgefühle
       auftauchen, von denen wir nicht mal wussten, dass wir sie haben.
       
       ## In Beziehung zu anderen
       
       Andererseits: Als ich damals verzweifelt versuchte, mir mit dem
       Plastikschaber der Enthaarungscreme die Haare von den Kartoffelstampfern zu
       kratzen, hätte ich das Internet von heute gut gebrauchen können. Ich hätte
       schneller verstanden, dass ich mir nicht solche Mühe geben muss, so
       auszusehen wie die anderen. Ich hätte erfahren, was mein Denken und das
       meiner Klassenkameradinnen mit rassistischen Schönheitsidealen zu tun hat.
       Und ich hätte Menschen mit Beinen wie meinen gesehen. Ob ich meine
       Kartoffelstampfer dann richtig lieben gelernt hätte? Zweifelhaft. Zwei
       Posts weiter würden sicher porenlose Blondinenbeine Werbung für
       #Bodypositivity machen.
       
       In einem Punkt ist das Internet aber ungeschlagen: Verbindung. Seit Beginn
       der Coronapandemie sitzen viele von uns zu Hause und müssen mit ihrer
       Einsamkeit und Überforderung zurechtkommen. Da kann das Internet eine echte
       Stütze sein. Die Beziehung zu anderen und der digitale Austausch sind
       momentan wohl für uns alle extrem wichtig.
       
       Das Gefühl, nicht allein mit seinem Körper, seinen Gedanken und Gefühlen zu
       sein, ist aber nicht nur in Zeiten von Pandemien wichtig. Vor knapp zwei
       Jahren bin ich Mutter geworden. Das Wochenbett gleicht einer
       Coronalockdown-Situation in vielen Punkten: Man geht nicht oft raus, ist
       viel mit sich allein und in Jogginghosen unterwegs. Ich habe auch viel
       geweint. Im Wochenbett lag ich nachts wieder wach, wie als Kind bei meinen
       Eltern damals. Aber diesmal nicht in Sorge darum, ob meine Eltern sich bei
       ihren Streitigkeiten umbringen. Diesmal schaute ich stündlich, ob mein Kind
       noch atmet. In mir wüteten Ängste, Albträume und wahrscheinlich eine
       postnatale Depression. Auch dabei hat mir das Internet geholfen.
       
       Auf Instagram zum Beispiel habe ich einen Abgleich in meiner neuen Rolle
       als Mutter gefunden, der mir im echten Leben gefehlt hat. Ich habe Accounts
       von Müttern entdeckt, die ähnliche oder schlimmere Ängste hatten, die für
       mich unaussprechliche Dinge aussprachen. Die Ratschläge und Erfahrungen
       teilten. Und ich fand noch mehr Heilsames. So folgte ich zum Beispiel der
       Psychotherapeutin Nedra Tawwab, die mir seither täglich hilfreiche Infos zu
       mentaler Gesundheit gibt. Und vielleicht heile ich ja meine
       Vaterproblematik irgendwann mit dem liebevollen „Korean Dad“
       (@yourkoreandad) auf TikTok. Von seinen 1,5 Millionen Followern scheint es
       einigen so zu gehen wie mir. Kurz gesagt: Mein Social-Media-Feed wurde zu
       einem Ort, an dem ich mich gesehen und aufgefangen fühlte. Endlich gute
       Voraussetzungen, sich selbst okay zu finden. Vielleicht sogar zu lieben?
       Wir wollen nicht übertreiben.
       
       Aber immerhin scrolle ich jetzt weiter, wenn mir Eltern auf Instagram ihr
       ockerfarbenes Leben mit viel Besserwisserei unter die Nase reiben wollen.
       Ich versuche es mit Selbsvertrauen – der schwierigste Aspekt der
       Selbstliebe.
       
       Mein Selbstvertrauen ist mir abhandengekommen in meinem Aufwachsen und in
       meinen Beziehungen zu Narzissten. Aber es wird täglich besser. Das Internet
       hat mir dabei geholfen, damit klarzukommen, dass ich mich manchmal nicht
       liebe. Und das muss ich auch nicht: Denn in meiner Social-Media-Blase finde
       ich User:innen, die sich mal toll finden und mal hassen, aber vor allem
       erst mal so zeigen, wie sie sind. Das sind Menschen, die sich nicht immer
       lieben. Und wenn es so vielen so geht, scheine ich ja nicht ganz falsch zu
       sein.
       
       ## Vertrauen in mich
       
       Ich kann trotzdem lieben und geliebt werden. Egal, wie weit ich in meiner
       persönlichen Entwicklung bin. Manchmal muss ich es einfach mit mir
       aushalten. Ist das nicht das Geheimnis langlebiger Ehen? Auch wenn bei mir
       in nächster Zeit keine Hochzeit ansteht – auch keine, in der ich mich
       selbst heirate: Ich glaube an mich und vertraue mir mittlerweile ziemlich
       gut.
       
       Einige Wochen nach der Selbstliebe-Hochzeit frage ich meine Freundin Ljuba,
       wie ihr Eheleben mit sich läuft. Sie sagt, dass der Akt der Eheschließung
       schon etwas in ihr ausgelöst habe. Dieses
       Sich-vor-allen-Gästen-zu-sich-selbst-Bekennen. Auch wenn sie sich dabei
       nicht immer ganz ernst genommen habe, findet sie: „Ich gehe bewusster an
       vieles ran und frage mich: Ist das gut für mich? Auch wenn ich etwas für
       andere tue, frage ich mich mittlerweile: Inwieweit tut mir das auch gut?
       Nicht im egoistischen Sinne, du weißt schon, wie ich meine.“ Für ihre
       Zukunft wünscht Ljuba sich neben Selbstvertrauen auch Selbst-Mitgefühl.
       
       Das wünsche ich mir auch: Mitgefühl für alle, die nach Anerkennung
       strampeln, #selbstliebe-Donuts auf Instagram posten, die sich selbst
       heiraten oder hassen. Mitgefühl für alle, die keine Ahnung haben, was
       dieses Wort bedeuten soll, oder nach unerreichbaren Idealen streben. Ich
       habe mein Selbstliebe-Ideal erst mal auf Eis gelegt. Mir reicht es, mich,
       meine Gefühle und Grenzen einfach nur zu bemerken. Ich liebe mich nicht,
       ich hasse mich nicht, ich bin einfach da. „Selbstwahrnehmung vor
       Selbstliebe“ wäre mein Zitat-Foto auf Tumblr. Vielleicht poste ich das
       gleich auf Instagram: #selbstwahrnehmung. Bisschen sperrig, aber könnte
       funktionieren.
       
       31 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Yasmin Polat
       
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