# taz.de -- MeToo-Thriller „Promising Young Woman“: Das Problem hockt da drin
       
       > Der Kino-Thriller „Promising Young Woman“ erzählt von sexueller Gewalt
       > gegen Frauen. Hauptdarstellerin Carey Mulligan gibt eine souveräne
       > Rächerin.
       
 (IMG) Bild: Einst vielversprechend, jetzt wieder zu Hause bei den Eltern: Cassie (Carey Mulligan)
       
       Rache ist Blutwurst. Sie macht nichts ungeschehen, aber kann Opfern von
       Straftaten oder deren Angehörigen ein Fernziel geben. Cassie (Carey
       Mulligan) hat es sich zur Aufgabe gewählt, ihre beste Freundin und
       Kommilitonin Nina zu rächen. Diese wurde während des gemeinsamen
       Medizinstudiums vor sieben Jahren von einem Mitstudenten mehrfach
       vergewaltigt. Eine Anzeige verlief im Sande, wie so oft betrieb man
       [1][„Victim Blaming“]: Ein zu „lockerer Lebensstil“ und zu viel Alkohol
       hätten stark zu Ninas „Mitschuld“ beigetragen. Mit diesem Trauma und der
       Ungerechtigkeit konnte Nina nicht länger leben.
       
       Seitdem schminkt sich Cassie einmal wöchentlich „Blowjob Lips“ nach
       Beauty-Bloggerinnen-Anleitung, zerwühlt ihr blondes Haar, zieht High Heels
       an, setzt sich zur After-Work-Happy-Hour in irgendeinen Club in einer
       Vorstadt Ohios und spielt besoffen. Jedes Mal fällt sie dabei irgendeinem
       Mann auf. Jedes Mal nähert sich einer dieser Männer, gibt vor, die bis
       Oberkante Unterlippe Betrunkene fürsorglich nach Hause eskortieren zu
       wollen, um sie dann in der eigenen Wohnung zu parken.
       
       Dort müht er sich, sie weiter abzufüllen, mal mit Kumquat-Likör, mal mit
       Koks. Und wenn Cassie schwach ankündigt, sich hinlegen zu müssen, beginnt
       der Mann sie zu befummeln. Bis sich Stimmlage, Habitus und Haltung der
       vermeintlich weggetretenen 30-Jährigen schlagartig ändern: „Ich habe NEIN
       gesagt“, knallt sie dem Mann hin. Der macht sich vor Angst fast in die
       Anzughose. Denn aus seinem ohnmächtigen Opfer ist plötzlich eine
       ermächtigte Person geworden – und aus ihm selbst ein armseliges Würstchen,
       das die (körperliche) Schwäche einer berauschten Frau ausnutzen wollte,
       weil es sich vor einem Gegenüber auf Augenhöhe fürchtet.
       
       Die britische [2][Regisseurin Emerald Fennell hat mit ihrem selbst
       geschriebenen (und mit einem Drehbuchoscar prämierten) Debüt „Promising
       Young Woman“] einen gnadenlosen und exzeptionellen Film gedreht. Gnadenlos,
       weil sie dem Verhalten der Männer keinerlei Absolution erteilt: „Ich bin
       ein netter Kerl“, winselt einer, nachdem Cassie ihn zur Rechenschaft
       gezogen hat. Nett – und enorm übergriffig. Eine Minute zuvor hat er
       versucht, der regungslosen Frau Koks ins Zahnfleisch zu reiben und sich in
       ihr Höschen zu fingern.
       
       Fennells brillanter Kniff, der jeden Vorwurf von undifferenzierter
       Männerfeindlichkeit entkräftet, ist die Dramaturgie der „Aufrisse“:
       Selbstverständlich sind nicht alle Männer so, würden nicht alle Männer eine
       hilflose Frau sexuell missbrauchen. Aber derjenige, der sie betrunken
       kennenlernt, sie mit zu sich nach Hause nimmt, ihr Bewusstsein noch mehr
       trüben möchte und sie gegen ihren Willen berührt, dem geht es um
       Missbrauch, um Macht, um Selbstbefriedigung.
       
       ## Der Schritt von ausgelassen tanzenden Männern
       
       Wenn die Kamera von Benjamin Kračun im Vorspann den Schritt von ausgelassen
       tanzenden Männern filmt, eine wogende Wolke schlechtsitzender Hosen und
       heraushängender Hemden, ist also klar: Irgendwo dort drin hockt das
       Problem. Schließlich bedarf das US-Sexualstrafrecht, das sich je nach
       Bundesstaat unterscheidet, dringend einer Reform. Und der zwischen einem
       Viertel und der Hälfte der Fälle konstatierte „drunk rape“ ist eben auch
       „statuary rape“.
       
       Eindrücklich illustriert die Regisseurin zudem, wie Cassie unter den Folgen
       der Tat an ihrer Freundin leidet: Die ehemalige Semesterbeste lebt wieder
       im pittoresken Porzellanfigurenkitschhaus ihren Eltern (Jennifer Coolidge,
       Clancy Brown) und arbeitet lustlos in einem Café. Ihr Ehrgeiz starb mit
       Nina, die zugewandten, aber überforderten Eltern erleben, wie die einst
       „promising“ Tochter sich in einem babyrosa Bademantel somnambul am Leben
       vorbeidrückt.
       
       Dass Fennell in den ästhetischen Entscheidungen ihres Films, bei Farben,
       Setdesign und Kostümen, sogar beim dezidierten Soundtrack, einen Spagat
       zwischen der [3][satirischen Leichtigkeit John Waters]’ und der Akkuratesse
       Alfred Hitchcocks wagt, macht ihren Film exzeptionell und fügt eine
       pophistorische Ebene hinzu: Wenn Cassie sich zum ersten Mal mit dem
       Kinderarzt Ryan (Bo Burnham) trifft, der in seiner humorvollen Art einen
       Hoffnungsschimmer an ihrem düsteren (Gemüts-)Horizont darstellt, läuft im
       Hintergrund der von Carole King geschriebene, symptomatische Song „He Hit
       Me (And It Felt Like a Kiss)“.
       
       ## In Bubblegumfarben bemalte Fingernägel
       
       Wenig später tanzen die blonde Cassie, die fast ausschließlich in
       Pastelltönen gekleidet ist, und der Lulatsch Ryan zu Paris Hiltons „Stars
       Are Blind“, und Cassies in Bubblegumfarben bemalte Fingernägel blitzen wie
       die Törtchen im Café. Zu Hause läuft derweil Charles Laughtons
       Psychopathenthriller „Nacht des Jägers“ im Fernsehen. Und hatte nicht
       Hitchcock (etwa in „Marnie“) überhaupt den Blick auf blonde, durch sexuelle
       Gewalt traumatisierte Frauen perfektioniert?
       
       Im Geiste des Hitchcock-Komponisten Bernard Herrmann orchestrierte
       musikalische Themen antizipieren dazu die lauernde Katastrophe. Denn die
       scheinbare Idylle zwischen Cassie und Ryan kann nur kurz darüber
       hinwegtäuschen, dass Fennell unterm Strich ein knallhartes
       Rape-Revenge-Drama erzählt.
       
       In der Filmhistorie wurde Rape-Revenge (wie alles andere) meist von Männern
       inszeniert. Bei Storys, in denen weibliche Opfer sexuellen Missbrauch von
       männlichen Tätern überlebten, rächten sich auch in der Vergangenheit nicht
       immer die direkt Betroffenen: In Sam Peckinpahs „Wer Gewalt sät“ (1971)
       erschießt der Ehemann des Opfers die Täter. In Clint Eastwoods „Sudden
       Impact“ (1983) richtet der zynische Polizist Dirty Harry seine Waffe gegen
       die Männer, die eine Frau vergewaltigten.
       
       ## Den Haupttäter kastrieren
       
       Immerhin ist es Foxy Brown (Pam Grier) höchstpersönlich, die im
       gleichnamigen Blaxploitation-Film von Jack Hill mehrere Männer tötet, und
       den Haupttäter kastriert. Und in „Extremities“ von Robert M. Young (1986)
       will das Opfer (Farrah Fawcett) den Vergewaltiger umbringen, allein ihre
       Freundinnen halten sie davon ab. Aus Opfern können also manchmal Täterinnen
       werden.
       
       Gemein haben diese Filme (und andere) ein ambivalentes Verhältnis zur
       Darstellung von Gewalt: Je nach Niveau schwanken sie zwischen vorsichtigen
       und nüchternen bis hin zu reißerischen, in manchen Fällen ausbeuterischen
       Bildern, der allgegenwärtige „male gaze“ macht zuweilen nicht vor der
       Täterperspektive, dem „pov“ des Vergewaltigers, halt.
       
       Gaspar Noé erhebt die performative Grausamkeit in „Irréversible“ (2002) gar
       zur Kunstform und überdeckt seinen genau konstruierten Schockmoment, mit
       dem er sich bewusst und provokativ in die Geschichte der brutalen Filme
       einbrennen wollte, nur zart mit einer moralischen Dramaturgie, die eine
       Begründung für die Gewalt, nämlich Rape-Revenge, vorwegnimmt.
       
       ## Exakt geplantes, bösartiges Streichespielen
       
       Trotz einer schwer aushaltbaren zentralen Szene am Ende geht es Emerald
       Fennell in „Promising Young Woman“ jedoch nicht in erster Linie um Gewalt.
       Im Gegenteil: Cassies Verhalten gegenüber den Kneipenaufreißern, auch
       gegenüber der Dekanin der Universität, die Ninas Anklage nicht ernst nahm,
       oder gegenüber einer ehemaligen Kommilitonin (Alison Brie), die sich nicht
       auf Ninas Seite stellte, ist exakt geplantes, bösartiges Streichespielen.
       Mehr nicht.
       
       Die Miene Carey Mulligans, die ihre Figur mit einer dumpfen, faszinierenden
       Ergebenheit darstellt, und von deren traurigen Augen man den Blick kaum
       abwenden kann, lässt zwar einen Schrecken erahnen, der noch kommt. Doch
       Cassie ahnt es ebenfalls. Denn sie ist keinesfalls nur ein Opfer. Und Rache
       ist, wie gesagt, Blutwurst.
       
       12 Aug 2021
       
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