# taz.de -- Moshe Zimmermann über den Nahost-Krieg: „Eine Regierung von Fanatikern“
       
       > Deutschlands lasche Haltung helfe aktuell nicht weiter, sagt der
       > Historiker Moshe Zimmermann. Er fordert vom Westen auch Kritik am
       > Kabinett Netanjahu.
       
 (IMG) Bild: Ministerpräsident Netanjahu treibt im Juli in der Knesset seine umstrittene Justizreform voran
       
       taz: Herr Zimmermann, was haben Sie [1][seit dem 7. Oktober,] dem Tag des
       beispiellosen Hamas-Massakers, über die israelische Gesellschaft gelernt? 
       
       Moshe Zimmermann: Dass Israels Zivilgesellschaft robust ist. Sie springt
       dort ein, wo die Regierung in ihrer Inkompetenz derzeit versagt. Die
       Zivilgesellschaft sorgt dafür, dass die Moral steht. Sie hilft den
       Menschen, die von dieser Katastrophe direkt betroffen sind. Und sie erklärt
       die Lage im Ausland – und zwar besser als die Regierung.
       
       Wie würden Sie die Lage beschreiben? 
       
       Wenn auf israelischem Boden ein Pogrom dieses Ausmaßes stattfindet, ist man
       im Schockzustand. Diese Katastrophe ist einzigartig. Es gab schon vorher
       Terroranschläge. Die Hamas hatte ja schon früher ihre Zähne gezeigt. Aber
       dieses Pogrom ist präzedenzlos in der Geschichte Israels sowie in der
       Geschichte der Juden der vergangenen achtzig Jahre.
       
       Auch vor dem 7. Oktober spielte die Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle.
       [2][Der Massenprotest gegen den von der Regierung geplanten Justizumbau]
       hat die Regierung monatelang unter Druck gesetzt. Hat sich die
       Protestbewegung nun in Luft aufgelöst? 
       
       Nein. Was ich über die Zivilgesellschaft gesagt habe, war auf die
       Protestbewegung bezogen. Diejenigen, die gegen die Regierung demonstriert
       haben, sind zum Rückgrat der Zivilgesellschaft geworden. Sie versuchen
       beispielsweise herauszufinden, wer sich alles als Geisel in Gaza befindet.
       Sie helfen den Familien der Geiseln. Das sind vor allem Initiativen
       derjenigen Gruppen, die an den Demonstrationen teilgenommen haben. Das sind
       gute Patrioten, die gegen diese Regierung demonstriert haben und die sich
       jetzt als gute Patrioten um die Opfer dieser Katastrophe kümmern.
       
       Woran machen Sie das Versagen der Regierung fest? 
       
       Bevor wir mit der Regierung abrechnen, müssen wir noch einmal betonen: Die
       aktuelle Krise ist entstanden, weil Juden ermordet wurden. Erst dann können
       wir fragen: Wie hätte man das verhindern und wie hätte man nach der
       Tragödie besser reagieren können? Da hat die Regierung in vielerlei
       Hinsicht versagt.
       
       Inwiefern? 
       
       Grundsätzlich hat man nicht energisch genug versucht, Verhandlungen mit der
       Palästinensischen Autonomiebehörde zu führen, um eine Regelung zu
       erreichen. Niemand hat in den vergangenen zehn Jahren konkret etwas für den
       Friedensprozess unternommen. Seit er 2014 formal am Ende war, ist nichts
       mehr passiert. Das ist Versagen Nummer eins. Versagen Nummer zwei ist, dass
       man auf den Angriff der Hamas unvorbereitet war, dass man die Hamas, eine
       islamistische Terrororganisation, nicht ernst genommen hat und dass man die
       Orte im Kernland Israel nicht beschützt hat, dass man sie vernachlässigt
       hat, Betonung auf Kernland, also an der Grenze zu Gaza.
       
       Wie erklären Sie sich das? 
       
       Die Regierung hat sich in erster Linie um die jüdischen Siedlungen im
       Westjordanland gekümmert und nicht um den Schutz der israelischen
       Staatsbürger im Kernland Israel, für den der Staat gegründet wurde. Die
       Prioritäten der Regierung sind die falschen. Das ist eine rechtsextreme
       Regierung, eine Regierung von nationalistischen Fanatikern. Ihr Versagen
       hat sich schon vor der Katastrophe gezeigt und zeigt sich jetzt nach der
       Katastrophe weiter.
       
       Die Rechte hat derzeit eine klare Antwort auf die Krise: Man muss [3][die
       Hamas zerstören]. Die Linke dagegen scheint realitätsfern, wenn sie in der
       aktuellen Situation argumentiert, es werde keinen Frieden geben ohne eine
       politische Lösung des Konflikts mit den Palästinensern, ohne
       Berücksichtigung der Rechte aller.
       
       Wir müssen unterscheiden zwischen der Linken in Deutschland und Israel. Die
       Linke in Israel ist sich im Klaren darüber, dass mit der Hamas nichts
       anzufangen ist, mit einer Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, uns
       zu zerstören. Ob man gegen sie so vorgehen sollte wie im Moment das
       israelische Militär, ist eine Frage, über die man in Israel diskutiert.
       Aber die Hamas ist kein Partner für irgendeine Regelung. Es wäre suizidal,
       mit einer Organisation zu einem Arrangement zu kommen, die zum Ziel hat,
       die andere Seite zu vernichten.
       
       Wird sich in Anbetracht der derzeitigen Situation überhaupt noch einmal das
       Ziel einer langfristigen Friedensperspektive etablieren lassen? 
       
       Das alte Ziel besteht weiter: Man muss eine Regelung finden, man muss den
       Friedensprozess neu starten. Allerdings ist derzeit keine Seite dazu
       bereit. Die Hamas ist eine Terrororganisation, die Autonomiebehörde ist
       praktisch ausgeschaltet, und die israelische Regierung interessiert sich in
       erster Linie für die Siedlungen im Westjordanland.
       
       Dennoch: Der Versuch, Frieden zu erreichen, wurde nicht ernsthaft
       unternommen. Das ist nicht nur Schuld der israelischen und
       palästinensischen Führung, es ist die Schuld der internationalen
       Gemeinschaft, auch der deutschen Regierung und der jetzigen deutschen
       Opposition. Man hat sich immer auf Floskeln beschränkt. Jetzt ist die
       Katastrophe da und man reagiert hysterisch – nicht nur in Israel, auch in
       Deutschland, Europa und Amerika.
       
       Eine Autorin der Tageszeitung Ha’ aretz hat Bundeskanzler Olaf Scholz für
       seine „unbegrenzte Unterstützung“ für Israel kritisiert. Deutschland werde
       seiner Verantwortung nicht gerecht, weil es die Augen verschließe vor der
       israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete und der Blockade des
       Gazastreifens. Teilen Sie diese Kritik? 
       
       Ich habe den Artikel der Autorin Amira Hass gelesen. Aber man muss den
       Vorwurf anders formulieren: Deutschland hat sich 2008 verpflichtet, Israels
       Sicherheit als Teil der deutschen Staatsräson zu verstehen. Wenn man das in
       Taten umsetzen will, muss man sich um Frieden zwischen Israelis und
       Palästinensern bemühen und darf nicht wegschauen. Dann muss man auch
       unterscheiden zwischen einer extremistischen Regierung wie der, die wir
       seit Beginn dieses Jahres haben, und den wahren Interessen der israelischen
       Bevölkerung.
       
       Was heißt das konkret? 
       
       Der Bundeskanzler hat den Begriff „klare Kante“ benutzt (mit Blick auf
       Antisemitismus bei Palästinademos in Deutschland; d. Red). Klare Kante muss
       man auch gegen die Extremisten in der israelischen Regierung zeigen und
       nicht wischiwaschi darauf reagieren, dass man es mit einer Regierung zu tun
       hat, die gegen die Interessen des eigenen Volkes agiert.
       
       Sie ist aber immerhin gewählt worden. Heißt das, Scholz hätte Netanjahu
       beispielsweise wie die US-Regierung nicht zum Besuch einladen sollen? 
       
       Konkret heißt das, dass man klar sagt, dass mit dieser Regierung nicht
       zusammengearbeitet wird, solange sie nicht ihre extremistischen Mitglieder
       loswird. Übrigens zeigen neue Umfragen, dass diese Regierung bei Wahlen
       abgewählt werden würde.
       
       Sie verfolgen auch die deutschen Medien. Wie nehmen Sie den Diskurs über
       Israel und Gaza in Deutschland wahr? 
       
       Der [4][Versuch, neutral zu sein], ist eine Haltung, die mir moralisch
       suspekt ist. Ich spreche von diesem Sowohl-als-auch, Mitleid haben mit
       beiden Seiten. Israel hat es mit einer Terrororganisation zu tun, die ein
       Verbrechen verübt hat, das zumindest in unserer Region präzedenzlos ist. Da
       muss man nicht nur – wie die Bundesregierung es in der Tat tut – auf der
       Seite Israels stehen, sondern auch alles tun, um die Geiseln zu befreien,
       um die Kibbuzim entlang der Gazagrenze neu aufzubauen und den
       Friedensprozess neu zu starten. Es hilft nicht, eine öffentliche Diskussion
       zu führen, die in Richtung Neutralität oder „Ausgewogenheit“ geht, weil man
       selbst die Auseinandersetzung mit islamistischen Kräften in Deutschland
       scheut.
       
       Was genau meinen Sie mit Neutralität beziehungsweise Ausgewogenheit? 
       
       In der deutschen – und auch der internationalen – Berichterstattung wird
       versucht, das Leid der israelischen Opfer des Pogroms durch die Zahlen und
       das enorme Leid auf der anderen Seite zu relativieren. Der Tenor der
       Diskussion ist nicht nach meinem Geschmack. Man muss kausal denken und
       zwischen Ursache und Folge unterscheiden.
       
       Sie sehen in Deutschland zu viel Empathie mit den Menschen im Gazastreifen? 
       
       Ich sehe eine Bekundung von Empathie. Ich bin mir nicht sicher, ob der
       wahre Beweggrund die Empathie für die Palästinenser ist oder der Wunsch,
       Israel einen Seitenhieb zu verpassen – und zwar der Gesellschaft, nicht der
       Regierung. Die Empathie könnte eine Art vorgetäuschte Taktik der Kritik an
       Israel sein.
       
       1 Nov 2023
       
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