# taz.de -- Norwegen im Nationalsozialismus: Gestörtes Selbstbild
       
       > In ihrem Buch hinterfragt Marte Michelet die Erzählung über den
       > norwegischen Widerstand gegen die Nazis – und löst eine Debatte aus.
       
 (IMG) Bild: Stolpersteine in Oslo erinnern an aus Norwegen deportierte Juden im Jahr 1942/1943
       
       Soll denn wirklich ein Gericht darüber entscheiden, wie ein wichtiges
       Kapitel der Geschichte Norwegens im Zweiten Weltkrieg erzählt werden darf?
       Das fragte am Sonntag ein Kulturkommentar in der norwegischen Tageszeitung
       Bergens Tidende. Darauf scheint in der Tat nun der Streit über ein Buch
       hinauszulaufen, welches das Land seit zwei Jahren beschäftigt: Marte
       Michelets „Was wusste die Heimatfront“, [1][in dem die gängige Erzählung
       über den norwegischen Widerstand gegen die Nazi-Okkupation hinterfragt
       wird].
       
       Drei Tage zuvor hatten neun Nachkommen von Widerstandskämpfern – Söhne,
       Enkel und eine Nichte – deutlich gemacht, dass sie mit dem Angebot von
       Verlag und Verfasserin zur Lösung des zwischen ihnen entstandenen Konflikts
       nicht zufrieden sind. Diese Lösung schien sich abzuzeichnen, nachdem
       Michelet im Februar einige sachliche Fehler in ihrem Buch eingeräumt hatte.
       Etwa dass sie einem Unternehmer, der jüdische MitbürgerInnen zur sicheren
       schwedischen Grenze transportiert hatte, reine Profitmotive unterstellte.
       Oder ein handgeschriebener Brief aus einem Archiv, den die Autorin wegen
       einer Namensverwechslung einer anderen Person als dem wirklichen Verfasser
       zuschrieb.
       
       Im Gesamtzusammenhang ihres Buchs, das den Vorwurf erhebt, in Norwegen
       hätte deutlich mehr getan werden können, um JüdInnen und Juden vor der
       Deportation in die Konzentrationslager zu retten, waren das zwar nur kleine
       Details – aber eben faktische Fehler. Der Gyldendal-Verlag hatte daraufhin
       eine völlig überarbeitete Fassung ihres Buchs angekündigt, die im Herbst
       erscheinen soll. „Verlag und Autorin sind sich bewusst, dass in dem Buch
       Fehler entdeckt wurden, und wir erkennen an, dass dies eine Belastung für
       die Nachkommen der in diesem Zusammenhang genannten Personen bedeutet“,
       heißt es in einer Erklärung des Gyldendal-Direktors Arne Magnus.
       
       Was der Verlag aber strikt ablehnt: Die Forderung, die jetzige Auflage
       zurückzuziehen. Exemplaren, die noch im Handel sind, wird aber ein Erratum
       beigelegt.
       
       Das jedoch hält die Mehrheit der erwähnten Nachkommen für nicht
       ausreichend. „Man kann nicht einfach Entschuldigung sagen und die
       kränkenden Behauptungen weiterhin verbreiten, um Geld zu sparen“,
       argumentiert deren Anwalt John Elden, der nun mit einem Prozess droht.
       
       Die Fehler, die man Michelet nachgewiesen habe, rüttelten aber eben nicht
       am Fundament ihrer Hypothese, meint der emeritierte Geschichtsprofessor
       Hans Fredrik Dahl. Eigentlich könne doch niemand ernsthaft infrage stellen,
       dass es für Norwegen alles andere als ein Ruhmesblatt sei, dass die Hälfte
       seiner jüdischen Bevölkerung den Nazis in die Hände fiel. Sie sei davon
       ausgegangen, dass man dies 75 Jahre nach Kriegsende auch sagen dürfe, sagt
       Michelet: „Mir ist aber jetzt klar, dass ich damit immer noch in ein
       Wespennest gestochen habe.“
       
       11 Mar 2021
       
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