# taz.de -- Anklage einer ehemaligen KZ-Sekretärin: Historische Tragweite
       
       > Die Staatsanwaltschaft Itzehoe klagt die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard
       > F. wegen Beihilfe zum Mord an. Ein Urteil wäre ein Novum in der Justiz.
       
 (IMG) Bild: Der Grundriss des Konzentrationslagers Stutthof als Kreidezeichnung bei einem Prozess im Jahr 1955
       
       HAMBURG taz | Die Anklage, die die Staatsanwaltschaft Itzehoe gerade gegen
       Irmgard F. erhoben hat, kann zu einem historischen Urteil führen. Erstmals
       in der juristischen Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen durch
       deutsche Behörden könnte eine Frau für die Beihilfe an Massentötungen in
       einem Konzentrationslager verurteilt werden – ohne dass sie selbst direkt
       an den Tötungen beteiligt gewesen sein soll.
       
       Beinahe fünf Jahre liefen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Itzehoe
       gegen F., die als Sekretärin des Lagerkommandanten des KZ Stutthof, Paul
       Werner Hoppe, gearbeitet hat. Die Staatsanwaltschaft wirft der heute
       95-Jährigen vor, in dem KZ nahe Danzig zwischen Juni 1943 und April 1945
       Beihilfe bei der Ermordung von mehr als 10.000 Menschen geleistet zu haben.
       Peter Müller-Rakow, Sprecher der Staatsanwaltschaft, drückt es so aus: Die
       Beschuldigte soll den „Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen
       Tötung von jüdischen Gefangenen, polnischen Partisanen und sowjetrussischen
       Kriegsgefangenen Hilfe“ geleistet haben.
       
       Die Anklage ist besonders, da Frauen in der Betrachtung des historischen
       Nationalsozialismus und auch des aktuellen Rechtsextremismus bisher häufig
       doppelt ausgeblendet werden. Zum einen, weil ihnen unterstellt wird,
       aufgrund ihres Geschlechts keine wirklich überzeugten
       Nationalsozialistinnen sein zu können, zum anderen, weil Frauen nicht als
       aktive Täterin wahrgenommen werden. Noch im NSU-Verfahren zweifelten etwa
       einzelne Medien die politische Überzeugung der Hauptbeschuldigten Beate
       Zschäpe an.
       
       Die Forschungen zum Nationalsozialismus zeigten allerdings schon, dass
       Frauen nicht bloß Mitläuferinnen waren. Manche unterstützten „den Führer“
       auch durch die Geburt von Kindern oder denunzierten Nachbarn. Und manche
       mordeten mit – in KZs und Euthanasieanstalten.
       
       Bereits im Mai 1946 wurden nach Ermittlungen im KZ Stutthof fünf
       Aufseherinnen zum Tode verurteilt. In den KZs im besetzten Polen sollen an
       die 3.500 Frauen beschäftigt gewesen sein, schätzt Historikerin Andrea
       Rudorff.
       
       ## Schleppende Ermittlungen
       
       Die Ermittlungen und Verfahren gegen sie liefen in den ersten
       Nachkriegsjahren jedoch schleppend. Dazu trugen auch die Tätigkeiten der
       Frauen bei: Die meisten KZ-Täterinnen kamen nicht vor Gericht, da gegen sie
       als Lagerpersonal, das in der Küche oder Verwaltung oder Telefonzentrale
       tätig war, gar nicht ermittelt wurde. Dies gilt auch für Männer in diesen
       Positionen. Erst 2011 änderte sich die Rechtsinterpretation – seither
       können die Staatsanwaltschaften auch Anklage erheben, wenn die Person Teil
       der Vernichtungsmaschinerie war.
       
       In Itzehoe hat die Staatsanwaltschaft vor der Jugendkammer des Landgerichts
       Anklage erhoben, da F. zur Tatzeit 18 bis 20 Jahre alt war. Von den
       Tötungen will sie vor Ort nichts mitbekommen haben. In den 1950er-Jahre
       sagte F. aus, dass ihr einstiger Chef ein „pflichtbewusster“ Vorgesetzter
       gewesen sei, und sie räumte ein, dass über ihren Schreibtisch der gesamte
       Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt gelaufen sei. Die
       Staatsanwaltschaft sieht sie als verhandlungsfähig.
       
       12 Feb 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Speit
       
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