# taz.de -- Protestforscher über ausbleibende Demos: „Risiko, im Abwarten zu versacken“
       
       > Wo bleibt angesichts des Rechtsrucks der Aufstand der Anständigen? Der
       > Protestforscher Dieter Rucht rät zu breiter und strategischer
       > Bündnisarbeit.
       
 (IMG) Bild: Andere Zeiten: Mehr als 200.000 Menschen liefen bei der Unteilbar-Demo in Berlin im Herbst 2018 mit
       
       taz: Herr Rucht, Sie sind schon sehr lange Protestforscher. Wo bleibt
       angesichts [1][des AfD-Aufschwungs] und [2][von rechts dominierten Debatten
       über Migration] eigentlich der zivilgesellschaftliche Aufschrei – wo bleibt
       Unteilbar 2.0? 
       
       Dieter Rucht: Ich habe auch keine umfassende Patenterklärung. Die Lage ist
       derzeit diffus – und es gibt kein Geheimrezept, was zu tun ist. Die
       Empirie sagt, dass das Protestgeschehen erfahrungsgemäß in Wellen verläuft.
       Und auch wenn es mal ein Tal gibt, heißt das nicht, dass alle progressiven
       Kräfte tot sind. Auch wenn soziale Bewegungen eine Ruhe- und
       Reflexionsphase haben, muss das nicht bedeuten, dass alles nur noch bergab
       geht.
       
       Aber wann geht es wieder bergauf? 
       
       Nach Phasen des Rückzugs kommen wieder stürmischere Zeiten, gewinnen
       Utopien wieder an Zugkraft. Viele Leute holen gerade Luft. Es besteht
       natürlich auch immer das Risiko, dass man im Abwarten versackt. Aber ich
       bin nicht so skeptisch: Meine Hoffnung, aber auch meine empirisch gestützte
       Erwartung ist, dass sich was an Gegenwehr und Offensive aufbaut.
       
       Kurz vor der bayerischen Landtagswahl gab es noch ein Aufbäumen, als
       [3][35.000 Menschen gegen rechts demonstrierten], doch die Wahlergebnisse
       kennen wir. Und in Berlin konnten sich [4][am 3. Oktober 5.000
       Verschwörungsideologen] ohne viel Gegenprotest breitmachen. 
       
       Dass es gelegentliche Ausnahmen gibt, darf man nicht vergessen. In Bayern
       war Wahlkampf, was sicherlich zur Mobilisierung beigetragen hat. Aber am
       Berliner Beispiel zeigt sich, dass die Rechten an vielen Fronten auf dem
       Vormarsch sind. Angesichts dessen ist es bemerkenswert, dass das
       [5][Bündnis Unteilbar sich in einem überaus seltenen Akt letzten Herbst
       aufgelöst hat] …
       
       … Unteilbar hatte während des bis dahin größten Umfragehochs der AfD und
       nach rechten Ausschreitungen 2018 in einem breiten Bündnis Zehntausende auf
       die Straße gebracht…
       
       … Da zeigt sich, dass es im progressiven Lager derzeit keine zündende Idee,
       keinen gemeinsamen Nenner oder gar eine Utopie gibt. Aber auch andere
       kraftvolle progressive Protestbewegungen fehlen. Weder Fridays for Future
       noch die Letzte Generation oder Extinction Rebellion schlagen durch. Die
       Fridays haben ein bisschen was verändert, aber nicht genug: Was man sich
       erhofft hat, findet nicht statt.
       
       Anders als andere Protestformen setzt die [6][Letzte Generation auf
       gesellschaftliche Konfrontation] auch mit der arbeitenden Klasse – kann es
       sein, dass dieser schwelende gesellschaftliche Konflikt demobilisiert? 
       
       Ich sehe da keine Konfrontation speziell mit der arbeitenden Klasse,
       sondern eine Beeinträchtigung von Autofahrer*innen, Flugreisenden und
       anderen Gruppen. Wer von ihnen arbeitet oder nicht arbeitet, spielt keine
       Rolle. Aber es gibt Hinweise darauf, dass jene Leute die Letzte Generation
       besonders scharf verurteilen, die sich selbst als „Normalbürger“ verstehen
       und an ihren Routinen festhalten wollen.
       
       Wo hingegen derzeit viel Bewegung ist, ist bei den Rechten: AfD-Politiker
       können vor Kraft derzeit kaum laufen, im Osten sorgen rechtsextreme Gruppen
       wie die Freien Sachsen für permanentes Protestgeschehen, beides geht einher
       mit viel Hass und Hetze, einem Klima wie gemacht für rechte Gewalt. 
       
       Ja, die spüren im Moment Oberwasser, fühlen sich auf dem Vormarsch und
       nehmen zu Recht wahr, dass sie stärker werden. Sie berauschen sich an den
       eigenen Teilerfolgen. Das Momentum ist günstig für die Rechte. Aber ich
       glaube: Dieses rechte Potenzial ist bald ausgeschöpft – auch die werden an
       Grenzen stoßen. Ich glaube: Das Gros der demokratischen Kräfte wird sich
       aufrappeln.
       
       Aber wann? 
       
       Das lässt sich schwer vorhersagen. Ich sehe in meinem Umfeld jedenfalls,
       dass die Sorge wächst und immer mehr Leute die Bereitschaft erkennen
       lassen, etwas dagegen zu unternehmen.
       
       In [7][Nordhausen verlor die AfD] trotz großen Vorsprungs und eines blassen
       Gegenkandidaten eine sicher geglaubte Stichwahl – dort hatte ein breites
       Bürgerbündnis „Nordhausen zusammen“ gegen Spaltung mobilisiert. Braucht es
       breitere Bündnisse? 
       
       Nordhausen lässt sich schwer verallgemeinern. Vor Ort spielen viele lokale
       Faktoren eine Rolle, die nicht flächendeckend wirksam sind. Aber generell
       gilt schon: Wenn Einzelne die Initiative ergreifen, zündende Ideen haben,
       Stimmungen auf den Punkt bringen, dann kann man in Wartestellung
       befindliche Gruppen ansprechen und als Antreiber oder auch Vermittler von
       Gruppen agieren, die ansonsten nicht kooperieren.
       
       Es gab im Gegensatz zu [8][Sonneberg, wo der erste AfD-Landrat gewählt
       wurde], kein Allparteienbündnis. Hilft das? 
       
       Es ist klug, sich aus dem Hickhack der Parteien herauszuhalten. Protest
       sollte sich ohne parteipolitische Etikettierung formieren, ob nun links,
       grün, schwarz oder wie auch immer. Es müssten gruppenübergreifende
       Initiativen im zivilgesellschaftlichen Raum gestartet werden. Da ist es
       hilfreich, wenn eine solche Mobilisierung Akteure vorantreiben, die lokal
       vernetzt und anerkannt sind und die örtlichen Verhältnisse kennen.
       
       Wie würden Sie denn eigentlich diese Zivilgesellschaft definieren, auf die
       es immer ankommt? 
       
       Mein Verständnis von Zivilgesellschaft bezieht sich, anders als sonst
       üblich, nicht auf den Sektor jenseits von Staat, Wirtschaft und Familie,
       sondern auf mehr oder weniger zivile Praktiken in all diesen Bereichen,
       also auch in Gefängnissen, in Betrieben und im privaten Rahmen. Je mehr
       dort ziviles Handeln, also Respekt, Toleranz, Empathie, Rücksicht auf
       andere, und Ähnliches verwirklicht sind, umso entwickelter ist die
       Zivilgesellschaft. Ich teile nicht die verbreite Gleichsetzung von
       Zivilgesellschaft mit dem Wirken von Nichtregierungsorganisationen.
       Schließlich ist auch die Mafia oder eine Schlepperbande eine
       Nichtregierungsorganisation.
       
       Jahrzehntelang standen in Städten wie Berlin vor allem Antifa-Bündnisse an
       vorderster Front gegen rechte Aufmärsche. Derzeit schwächelt die linke
       Bewegung, wie es scheint. Wären die Antwort darauf breitere Bündnisse unter
       Einbeziehung von Gewerkschaften, Kirchen, Prominenten? 
       
       Ja, schon, aber derzeit ist nicht erkennbar, dass gerade starke Initiativen
       entstehen. Die politische Großwetterlage gibt das nicht her, die
       politischen Verhältnisse sind derzeit kompliziert. Man darf nicht
       vergessen, dass Grüne und SPD an der Regierung beteiligt sind. Auch
       deswegen agieren viele mit angezogener Handbremse – man will nicht in die
       rechte Kritik und Totalablehnung der Regierung mit einstimmen, um diese
       nicht zu bestätigen. Das führt dazu, dass derzeit viele in Warteposition
       sind.
       
       Aber ist das nicht eine Kapitulation vor rechter Politik? Die findet doch
       schon diskursiv statt: Wenn jemand wie [9][Bundespräsident Steinmeier in
       der Tagesschau stolz erzählt], dass er am Aushöhlen des Asylrechts in den
       neunziger Jahren beteiligt war, und das als Positivbeispiel heranzieht und
       dabei einfach die damals begangenen Morde, die rechte Gewalt und die
       Baseballschlägerjahre ausblendet? 
       
       Ja. Aber das heißt noch nicht, dass alle resigniert haben. Wir befinden uns
       in einer Situation des Zögerns, der Unschlüssigkeit. Es gärt etwas, was
       noch keine konkrete Form gefunden hat. Prodemokratische progressive Kräfte
       sehen durchaus, dass es bergab geht und etwas getan werden muss.
       
       Was müssten die progressiven Kräfte gegen den Aufschwung der Rechten tun –
       auch angesichts von drei Landtagswahlen im Osten 2024? 
       
       Es bräuchte jetzt eine strategisch angelegte Bündnisarbeit.
       Organisationen, Gruppierungen und Netzwerke müssen sich zusammentun, einen
       großen Ratschlag veranstalten. Aber man sollte das zunächst intern machen
       und überlegen, ob und unter welchen Vorzeichen man eine breitere Kampagne
       in Gang bringen kann. Es muss nicht gleich alles konkret durchdacht werden;
       es braucht zunächst einen Raum der Reflexion. Aber derzeit sehe ich noch
       keine Initiatoren dafür; es gibt keine kraftvollen Bemühungen. Aber es
       könnte hilfreich sein, ein Zeichen zu setzen – vielleicht wie damals bei
       den Lichterketten. Da waren am Ende auch Hunderttausende auf den Straßen
       bei sehr geringer Vorarbeit.
       
       Welche Vorbilder gibt es noch für diese Situation? 
       
       Die Herbstkonferenzen der Anti-Atomkraft-Bewegung waren auch immer ein Raum
       für Reflexion und für strategische Überlegungen. Bündnisse schmieden
       erfordert viel Organisationsarbeit. Aber es ist besser, als am Küchentisch
       oder im Café zu sitzen und zu jammern.
       
       Spielt Corona eine Rolle bei der derzeitigen Demobilisierung? 
       
       Ich würde Corona als Erklärung nicht so stark machen, auch wenn Fridays for
       Future das sogar selbst als Erklärung für einen Rückgang der Mobilisierung
       herangezogen haben. Die Mobilisierung war schon vorher, im Spätherbst 2019,
       rückläufig. Da gab es noch kein Corona. Natürlich hatte die Pandemie einen
       lähmenden Effekt, aber damit ist nicht alles zusammengebrochen. Die Leute
       sind ja nach wie vor da.
       
       29 Oct 2023
       
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